Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland legten mit Aufprall (2020) einen Roman vor, der auf mehreren Ebenen unser Interesse geweckt hat. Nicht nur, dass der Roman in Kollektivarbeit entstanden ist, auch das Thema einer Gruppe Hausbesetzer in Berlin-Kreuzberg Anfang der 1980er Jahre klang für uns äußerst spannend. Denn neben Punk, Aids oder Tschernobyl wird somit in Aufprall vor allem eine literarische Reise in die Hausbesetzerszene unternommen. Als Roman der "Generation: No Future" wurde das Buch denn auch beworben – trifft dieses Etikett zu? Im Gespräch sprachen wir somit nicht nur über das Schreiben und die Literatur, sondern auch über das Thema Klasse, die Wende und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen.
Schuhen: Herzlich Willkommen zu unserem heutigen Gespräch. Wir freuen uns sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben, sich mit uns über Ihren Kollektivroman Aufprall zu unterhalten, den wir begeistert gelesen haben. Gewissermaßen zur Kontextualisierung möchten wir kurz auf unser Projekt Bourdieus Erben: zur Rückkehr der Klassenfrage in der französischen Gegenwartsliteratur zu sprechen kommen. Wir verfolgen die These, dass Bourdieu in der Gegenwartsliteratur – auch mittlerweile in Deutschland – sehr viele Spuren in Form seiner Theorien, seiner Konzepte und seines Wirkens als engagierter Intellektueller hinterlassen hat. Das gilt auch für die neue Gattung der Autosoziobiographie, des soziologisch reflektierten Schreibens über den eigenen Werdegang. Wie ist da Ihr genereller Eindruck?
Bude: Ich würde das Entstehen dieser neuen Gattungen eigentlich ganz anders beschreiben. Ich glaube, dass wir es eher mit der Tatsache zu tun haben, dass sich sowohl die französische als auch die deutsche Gesellschaft unklar darüber ist, ob sie noch über einen gemeinsamen Erfahrungshorizont verfügt. Das hat mit Zuwanderung und mit anderen, auch regionalen Veränderungen zu tun. Die Frage nach diesem Horizont ist nicht neu, aber die Antwortversuche sind es. Wir beschreiben sie in unserem Roman für die 1980er Jahre. Für unser Buch, in dem wir über die Zeit unserer Hausbesetzungen sprechen, wo der Klassenhintergrund der Beteiligten eher im Hintergrund bleibt, spielt das auch eine große Rolle. Unser Roman bietet so etwas wie eine Zwischenbilanz der damaligen Zeit, in einer Situation, wo die großen Öffnungsbewegungen aus den 1960er Jahren zu Ende sind, von denen wir als Generation profitiert haben. Heute stellt sich die Frage nach dem, was wir eigentlich noch teilen erneut, weil der Neoliberalismus zu Ende ist, der eine andere Antwort auf die Frage nach dem gemeinsamen Erfahrungshintergrund war. Er hat eine andere Art von Öffnung zum Thema gemacht. Was haben wir gemeinsam, wenn wir alle nur noch Individuen sind? In der Literatur kehrt das Thema der Klasse wieder, weil sie die Frage der Differenz der Erfahrung zum Thema macht.
Henk: Müsste man dann nicht die Frage nach „Bourdieus Erben“ ein bisschen zurückstellen bzw. verneinen und eher davon sprechen, dass die Gegenwartsliteraten Erben eines bestimmten Erfahrungshorizontes sind bzw. Erben von einem Erfahrungshorizont, der selbst in Frage steht, sodass sich eben darüber die Erben definieren?
Bude: Exakt so ist es. Ich glaube, das entspricht auch unserem Roman. Wir fangen mit einer bestimmten Erfahrung an. Rückblickend stehen wir mit unserem Roman am Beginn des Neoliberalismus. Wir kämpfen gegen Ronald Reagan. Wir versuchen, eine Welt zu beschreiben, die nicht mehr die alte Welt der Bundesrepublik ist. Wir sind sozusagen jenseits der Arbeitnehmergesellschaft und versuchen ein anderes Leben zu definieren.
Wieland: Ein Beispiel für diese neue Welt ist der London-Aufenthalt von Luise. Dort lernt sie „the hole in the wall“ (Geldautomat K.W.) kennen. Das gab es überhaupt nicht in Berlin, das war ganz was Neues im Neoliberalismus. Diese Erfahrung gehört zum Beginn des globalen Zeitalters.
Munk: Das betrifft auch die Kunst in den 1980er Jahren.
Schuhen: Spielt denn Bourdieus Klassenanalyse für Ihren Roman eine Rolle? Einige Figuren leben in prekären Verhältnissen. Als Subproletarier sind Leni und Vroni gewissermaßen die Verlierer Ihrer Szene. Luise hingegen stammt aus einem Akademikerhaushalt, Thomas aus der Arbeiterklasse. Er erlebt einen Bildungsaufstieg. Die Klassenverhältnisse werden doch thematisiert, oder?
Wieland: Also man kann vielleicht in einer bestimmten Hinsicht sagen, dass die Anlage „bourdieuisch“ ist. In unserem Roman gibt es zwei Protagonisten, Thomas und Luise, die manchmal zusammenspielen, aber eigentlich als Spieler und Gegenspieler fungieren. Am Ende im Kapitel Klassenschicksal, als er nach New York fliegt, attackiert Thomas Luise. In diesem Endspiel zwischen Luise und Thomas geht es in der Tat um die Klasse.
Bude: Unser Roman ist die Aussetzung des Klassenschemas und ein Wiederkehren des Klassenschemas gleichzeitig. Das ist die Logik dieses Romans. Die Wiederkehr jedoch ist anders als beispielsweise bei Christian Baron. Der Roman überdenkt diese Wiederkehr. Das wird ganz deutlich, wenn Luise Thomas in dem Kapitel Klassenschicksal deutlich macht, nicht über Klasse zu reden, weil es um ihn geht. Thomas weiß am Ende nicht mehr, ob er diese Klassenfrage nur herausholt, um vor sich selber bestehen zu können. Also in gewisser Weise, um es mal mit Worten des Nouveau Roman zu sagen, entdeckt er plötzlich seine eigene Inauthentizität in der Reklamierung der Klasse. Ich glaube auch, dass wir noch in einer anderen Hinsicht etwas „unbourdieuisches“ in unserem Roman machen. Auch wenn Bourdieus Klassenanalysen am Ende wieder eine Rolle spielen, ist der Roman von der Grundidee so angelegt, eine andere Situation ins Zentrum zu stellen. Es war unsere Erfahrung, dass es neue Möglichkeiten des Lebens gibt. Man hat andere Chancen auch hinsichtlich der Wahl eines eigenen Lebens, und die sind eben nicht durch die Herkunft und nicht durch die Art und Weise, an welchem Punkt der Bildungsbiographie man steht, bestimmt. Die irre Erfahrung der Hausbesetzung war ja eine unglaubliche Gemischtheit von Beteiligten, die eigentlich, wenn man es genauer nimmt, für diesen Moment Bourdieu falsifiziert.
Munk: Das stimmt. Ich war zeitweise wirklich die einzige Akademikertochter in unserer Besetzergruppe und dieser biographische Hintergrund spielte wirklich überhaupt keine Rolle. Der Ort, an dem wir waren, und die Ziele, die wir alle gemeinsam hatten, waren das Wesentliche. Alles andere spielte keine Rolle. Man hat auf die Herkunft damals gar nicht geachtet. Sicherlich hat man das mitbekommen, wie die eine oder der andere drauf war, aber wir waren ja auch nicht so, dass wir eine Kasse hatten, in die wir einzahlten. Diejenigen, die Geld hatten, kauften ein und die anderen aßen es auf, und man fragte nicht, woher der kommt, der das aufgegessen hatte. Ich glaube, dass diese Erfahrung generell für die 1980er Jahre prägend war. Unsere literarische Thematisierung der Klasse bei Luise unterscheidet sich auch stark von der in den Romanen von Ernaux, Louis oder Baron. Luise wird nicht Medizinerin, sie geht absichtlich in die Kunst. Luise ist in unserem Roman eine Figur, die nicht so sehr durch ihre Herkunft, sondern ihr Schicksal geprägt wird. Es geht um ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, nach dem Unfall ist es ein versehrter Körper. Luise schöpft aus einer ganz anderen Quelle, um etwas kreativ daraus zu machen.
Schuhen: Sie reden ganz selbstverständlich von ihrem Text als „Roman“. War das Ihre Entscheidung, das Buch als solchen zu deklarieren? War das der Wunsch des Verlages? In einer Rezension habe ich – ich glaube, es war in der FAZ – gelesen, es sei ja eigentlich gar kein Roman. Wie gehen Sie damit um?
Wieland: Das war unsere Entscheidung. Das Fiktive ist wahrer als der Bericht über etwas, was so oder auch anders aus der Erinnerung gewesen sein kann. Man kann viel mehr zuspitzen. Kunst ist eben eine Zuspitzung von Erfahrung.
Munk: Gleichzeitig hat die Rezensentin dies in der FAZ schon durchschaut, denn sie hat geschrieben, dass wir einen Roman schreiben, weil wir mit der Fiktion sozusagen auch dem rein Dokumentarischen entkommen würden. Wir wollten diese Freiheit für unser Projekt. Unsere Entscheidung mussten wir schließlich beim Verlag durchsetzen.
Wieland: Wir waren alle drei zu einem persönlichen Gespräch mit dem Verleger angereist. Heinz und ich sind ja bislang als Sachbuchautoren bekannt, Bettina ist bildende Künstlerin. Der Verlag hat sich gewünscht, dass wir über unsere Zeit als Hausbesetzer schreiben. Sie wollten ein Art Erfahrungsbericht. Das hat uns allerdings überhaupt nicht gereizt. Das wäre auch der Sache nicht gerecht geworden, denn zentral für unseren Roman ist der Tod Sorayas. Aus diesem Unfall, der sich in einem Land des Warschauer Pakts und noch dazuhin mit einem sowjetischen Raketentransporter ereignet, entwickelt sich die Geschichte der persönlichen Erfahrung von Luise und Thomas, beide um die zwanzig und aus dem Westen, mit dem Kalten Krieg. Heute ist diese Geschichte ja wieder von erschreckender Aktualität. Das, was wir schreiben wollten, war also weitaus komplexer als das, was ein bloßer Tatsachenbericht hätte einfangen können. Wir wollten auf jeden Fall dieses Romansiegel, weil es uns, wie Bettina schon sagte, eine ganz andere Freiheit gegeben hat. Ich als Hausbesetzerin komme ja im Roman gar nicht vor.
Schuhen: Das ist uns aufgefallen (lacht).
Wieland: Das war auch unsere Absicht. Sagen wir es so, die wirklich raffinierte Konstruktion des Romans erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Das gilt auch für den Verlag, der unsere Idee zunächst nicht so richtig annehmen wollte. Gemeinsam mit Bettina wollten wir einen Roman und eben keinen Dokumentarbericht schreiben. Glücklicherweise konnten wir Jo Lendle, den Verleger, überzeugen.
Henk: Mich würde noch einmal die Beziehung von Fakt und Fiktion, von biographischen Erlebnissen und ihrer Transformation in Fiktion interessieren. Ihrem Roman ist der wunderschöne Satz vorangestellt „Die Fiktion ist wahr, und die Fakten stimmen“. Könnten Sie das bitte etwas ausführen?
Wieland: Wir haben aus den Erinnerungen an die Zeit unserer Punk-Jugend geschrieben, aber es ist eindeutig eine Bearbeitung dieser Erinnerungen. Erinnerungen sind zumeist belanglos, selten irgendwie ästhetisch wertvoll. Nicht zuletzt hat man zu viele Erinnerungen und aus Erinnerungen läßt sich nur schwer ein Plot bauen. Die Umwandlung ist ein sehr eigener, oft auch schmerzhafter oder auch befreiender Prozess. In der Hinsicht würde ich auch Édouard Louis ausdrücklich widersprechen, der davon ausgeht, wenn es authentisch ist, dann ist es auch wahr, und dann kann sozusagen ein literarisches Produkt nicht nur für den Diskurs, sondern auch für die politische Aktion wichtig werden. Aus diesem Grundsatz bezieht er die Dignität seines Schreibens. Und da würde ich sagen: Nein! Wenn wir schreiben, dass die Fiktion wahr ist, dann bedeutet das nicht, dass die Wahrheit in der Authentizität besteht. Stattdessen ist die Fiktion das Wahre, denn Kunst arbeitet immer, wenn Sie so wollen, mit der Lüge. Die Fiktion ist wahr, deswegen liest man Literatur. Das Material der Welt, damit arbeitet der Wissenschaftler. Aber das Material des eigenen Lebens, das hat der Künstler in der Hand. Und das ist ein wichtiger Unterschied.
Bude: Trotzdem stimmen alle Fakten.
Munk: Ja, die Fakten stimmen.
Schuhen: Das ist jetzt vielleicht keine Frage, aber was ich mir wirklich ganz wunderbar vorstelle, ist die gegenseitige Befruchtung der Erinnerungen im kollektiven Schreibprozess, weil ja nicht jede Erinnerung jedem in gleichem Maße zur Verfügung steht.
Munk: Natürlich sind unsere Erfahrungen während der Besetzung völlig disparat. Und diese haben wir in den Mischfiguren im Roman zusammengeführt. Private Erinnerungen haben wir schon für uns behalten. Wir wollten sie auch für uns behalten. Man muss sehr sorgfältig damit umgehen, was man preisgibt, was man bearbeitet und was man zur Transformation irgendwie für ausreichend hält.
Schuhen: Das ist natürlich auch ein bewusstes Spiel mit dem Lesepublikum, weil natürlich sucht ja jeder, der Sie kennt, in diesem Buch nach Ihnen (lacht). Jeder denkt natürlich, dass Thomas Heinz Bude ist und Luise Bettina Munk und fragt sich, wo ist denn bloß Karin Wieland abgeblieben in diesem Sammelsurium. Aber das macht es ja auch spannend. Ich finde es gerade sehr gelungen, dass das nicht auflösbar ist. Und ich will jetzt auch gar nicht von Ihnen hören, wer da welche Erfahrung gemacht hat. Ich finde, das ist im Grunde auch völlig unwichtig.
Wieland: Das ist sie wieder, die Frage nach der Authentizität. Was ist das?
Schuhen: Also ich finde wahr und wahrhaftig eine passende Gegenüberstellung. Was ist wahr, was ist wahrhaftig?
Wieland: Es ist interessant, dass Sie das sagen mit dem wahrhaftig, weil eine der ersten Leserinnen des Romans, also die Frau, die das Manuskript beim Verlag mit bearbeitet hat, die hat gesagt, das ist ein wahrhaftiges Buch.
Schuhen: Ja, dem würde ich mich anschließen. Da wir gerade über Ihren Arbeitsprozess sprechen, war es für Sie schwer, vom individuell verfassten Sachbuch in das kollektiv verantwortete literarische Register zu wechseln?
Bude: Also die Frage betrifft unmittelbar die Machart des Romans. Wir sind absolut modern in der Form. Immer moderner geworden, weil wir irgendwann gemerkt haben, dass dieses Modell vom „Writer’s Room“, was man in den USA für Serien benutzt, aber mittlerweile auch zum Bücherschreiben, im Grunde genommen auch unser Prinzip ist. Der Registerwechsel, das heißt die Verwirklichung unseres Schreibprojekts konnte nur gelingen, weil wir jemanden hatten, die, wie im „Writer’s Room“, die Regie übernommen hat.
Wieland: Wir haben vorab eine kurze Definition unseres Kollektivs geschrieben. Wir sind Freundinnen, und zu unserem Schreiben gehört das romantische Modell der Freundschaft dazu. Aber nun sind wir nicht in romantischen Zeiten und wir haben auch ein Produkt abzuliefern. Man kann sich nicht in romantischen Spielereien ergehen, sondern man braucht so etwas, wie diesen „Writer’s Room“, damit das Produkt am Ende auch fertig wird. Unser Buch ist nicht „l’art-pour-l’art“. Es ist etwas ganz anderes. Und diese Mischung zwischen einem romantischen Freundschaftsideal und einer Arbeitsweise, die aus Hollywood kommt, war entscheidend für die Machart des Romans.
Schuhen: Das heißt, Sie haben sich immer zu dritt getroffen und geschrieben, oder wie muss ich mir das vorstellen?
Munk: Nein, nein. Wir haben schon immer alleine einsam am Schreibtisch gesessen. Aber wir hatten eine Zeitleiste, wo man so ungefähr absteckte, was reinkommt ins Buch und was nicht reinkommt. Und wir haben unsere Teile dann zusammengesetzt. Da muss man auch ein bisschen sein Ego zurückschrauben und Vertrauen zueinander haben. Das ist das Wesentliche bei einem solchen Schreibprozess. Viel Glück ist da natürlich auch dabei, dass man plötzlich merkt, dass es wirklich passt. Aber da kommt eben einfach diese Übereinkunft auf das Ziel zum Tragen. Und jeder hat auch seine eigene Form der Transformation. Unser Transformationsprozess war ein dreifaltiger. Das macht das Ganze eben auch sehr interessant.
Wieland: Man muss vielleicht ergänzen, dass wir nicht bei Null begonnen haben. Bettina hat mir Anfang der neunziger Jahre aus New York einen schreibmaschinengetippten Text geschickt. Das war ein Bericht über ihre Nahtoderfahrung. Und daraus hat sich ein Briefwechsel zwischen uns entsponnen. Ich saß in Kreuzberg 36, sie saß in Brooklyn und wir haben hin und her geschrieben. Wir haben uns natürlich gefragt, was man damit machen kann. Irgendwann mussten wir dann aber etwas anderes mit unserem Leben anfangen. Diese Briefe landeten bei ihr im Keller, bei mir im Keller. Und ich war dann vor einigen Jahren bei einer Tagung im Getty Center, einem Museum und Forschungsinstitut in Los Angeles. Da erzählt dort eine Professorin pathetisch von den Hausbesetzern in SO 36 und ich denke: „Da war ich doch dabei!“ Zurück in Berlin, rufe ich Bettina an und sage: „Also Bettina, jetzt müssen wir es machen. Wir müssen die Briefe und die alten Geschichten wieder hervorholen.“ Bettina ging in ihr Archiv und kam mit ihren Zeichenblöcken aus diesen Jahren zurück. Der Ausgangspunkt, und das ist entscheidend auch für unser Schreiben, war eine künstlerische Artikulation. Wir haben eben nicht ein Foto gehabt wie Annie Ernaux, das zum Schreiben einlädt. Wir sind von Zeichnungen ausgegangen.
Bude: Dabei ist ganz wichtig, dass es nicht Zeichnungen im Nachhinein sind, sondern Zeichnungen, die in dieser Zeit im Leben entstanden sind. Es ist keine Atelierskunst, sondern es ist Lebenskunst, die während der Besetzung einfach entstanden ist.
Henk: Davon abgesehen, dass Sie nicht wie sie von Fotos ausgehen, spielt Annie Ernaux für Ihr Schreiben eine Rolle?
Wieland: Also es gibt zwei Kapitel, die an ihre Schreibweise angelehnt sind. Das sind Love hurts und Body and Soul, wo es um den Frauenkörper und die Demokratisierung dieser Erfahrung der Abtreibung und sexuellen Befreiung geht. Diese Kapitel sind nicht in einem politischen Slang abgefasst, im Sinne von „Mein Bauch gehört mir“, sondern wir fragen uns, was diese Erfahrung der vielen Abtreibungen eigentlich bedeutet. Aber die anderen Kapitel haben eher nichts mit Ernaux’ Schreibweise zu tun. Wir wollten ja gerade die imaginäre Form des Lebens wahren und nicht entindividualisieren. Ernaux macht sich ja zur Kunstfigur, indem sie sich gewissermaßen soziologisiert. Und das war nicht unsere Absicht.
Schuhen: Ich musste auch an den Abtreibungs-Text L’événement von Ernaux denken, der jetzt kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sie schreibt ebenfalls sehr nüchtern darüber. Ich glaube, Ihr Kapitel beginnt sinngemäß, wenn ich mich richtig erinnere, damit, dass Sie eine ganze Fußballmannschaft abgetrieben haben.
Wieland/Munk: Nee, einen Kindergarten.
Bude: Ich möchte noch eine Sache hinsichtlich der französischen Einflüsse ergänzen. In unserem Roman gibt es eine Auseinandersetzung mit, wie soll ich das sagen, Formen der Bestimmung von Wirklichkeit. Und das vollzieht sich über diese ganze Debatte im Merve-Verlag, wo nicht Bourdieu der Bezugspunkt ist, sondern Deleuze und Guattari. Und das ist ganz wichtig. Was macht man eigentlich für einen Roman, wenn man von ihnen und gerade nicht von Bourdieu aus denkt? Wir wollten mit unserem Roman auch nicht hinter unser Denken zurückfallen, das uns damals wichtig war. Das ist ein anderes französisches Denken als das von Bourdieu, in das sich Ernaux auch situiert. Das war für uns damals viel wichtiger als Bourdieu, der uns damals, wenn ich ganz ehrlich bin, ziemlich schematisch vorkam. Jedenfalls Thomas war das immer schon zu schematisch.
Schuhen: Also ich habe mir ein Zitat von Lyotard unterstrichen, das auftaucht, nämlich das „Patchwork der Minderheiten“. Das hat mir sehr gut gefallen. Und ich will jetzt gar nicht die ganze Zeit nur auf vermeintliche Vorbilder eingehen, aber ich habe Ihren Roman auch ein bisschen als eine mögliche Vorgeschichte von Virginie Despentes’ Vernon Subutex gelesen. Kann man das so sagen? Also in ihrer Trilogie geht es um die erwachsenen Punks, die mit ihrem Rebellischen oder ihren Revolte-Fantasien gescheitert sind in ihrem Leben. Und bei Ihnen ist mir dann so ein bisschen was davon begegnet.
Munk: Ja, ich denke schon.
Bude: Wobei wir eben nicht nur eine Erfahrung des Scheiterns erzählen. Als Romanautor wäre mir dies zu einfach gewesen. Der Bezug zwischen Scheitern und Gewinnen ist in unserem Roman ziemlich komplex.
Schuhen: Dies wird anhand der verschiedenen Figuren sehr deutlich, vor allem am Ende. Es läuft auf diese Konfrontation von Luise und Thomas hinaus. Zum Schluss wird der Film Jules et Jim von Truffaut aufgegriffen, der am Anfang auch schon mal erwähnt wird. Das ist auch einer meiner Lieblingsfilme, deshalb würde ich da gerne nochmal nachfragen, welche Rolle diese Dreierverbindung um die Figur Cathérine im Film für Ihren Roman spielt?
Wieland: Viele Filme, aber vor allem dieser, liefen beim Schreiben im Hinterkopf mit. Bislang gab es aus den glorreichen 1980er Jahren vor allem Romane und vielleicht auch Tatsachenberichte der Straßenkämpfer, dieser potenten Revolutionäre. Wir wollten dem einen weiblichen Entwurf entgegenstellen. Cathérine ist eine Frau, die allen ein Schnippchen schlägt, vor allem ihren beiden Geliebten. Also sie ist der Leitstern des Ganzen. Und dann ist „Jules et Jim nicht zuletzt eine Dreiecksliebesgeschichte wie bei uns: Luise, Soraya, Thomas. Wir orientierten uns damals stark an Frankreichs Geist und Kultur. Alle haben irgendwas Französisches gelesen, ob man es verstanden hat oder nicht.
Schuhen: Während ich den Roman gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass Soraya ein bisschen so eine Cathérine-Figur ist, denn sie ist sehr ungreifbar, sie hat etwas Femme-fatale-haftes in meinen Augen. Ich fand die Figur total faszinierend, obwohl man fast nichts von ihr erfahren hat. Im Roman ist es Thomas, der sich die ganze Zeit mit Catherine vergleicht. Also das war ein Rätsel, was sich für mich nicht aufgelöst hat, das man vielleicht auch nicht auflösen muss.
Bude: Naja, es ist ja eine Umdrehung der Geschlechter. Die ganze Sache wird sozusagen völlig durcheinandergebracht und ist natürlich ein Ausdruck der Konfusion der Geschlechterverhältnisse gewesen, weil die dritte Stimme in unserem Roman, der Chor, im Unterschied zum antiken Drama weiblich ist. Thomas zerschellt teilweise auch an dieser neuen Weiblichkeit und versucht sich darin zu orientieren. Und eine Lösung ist, sich weiblich zu identifizieren.
Wieland: Thomas ist weitaus eher eine Karikatur als Luise. Luise ist nie eine Karikatur. Thomas hat seinen doch etwas abgehobenen, nervtötenden Sprach-Denk-Duktus und ist am Ende in New York ein Häufchen Etwas. Vielleicht hat sich der Arbeitersohn mit seinem Aufstieg an die Seite der Bürgerstochter und Künstlerin Luise überhoben. Thomas steht für die Figur des freischwebenden Intellektuellen , die wir heute nicht mehr kennen. Viele Leser*innen haben nicht begriffen, dass Thomas, wie Heinz gesagt hat, ein gewisses Endstadium von einer Identität gewesen ist.
Schuhen: Aber er ist natürlich auch der Bildungsaufsteiger. Der Philosophiestudent, der unbedingt eine Suhrkamp-Veröffentlichung haben will. Und das entspricht ja auch ein bisschen dieser Sozialfigur, oder? Also eben auch das Ausstellen der eigenen Belesenheit?
Bude: Natürlich. Ein weiterer Punkt ist wichtig: Er kommt aus einem linken Kontext. Aber er weiß, dass nach der RAF eine bestimmte linke Geschichte zu Ende gegangen ist. Er kommt also aus einer linken Depression und fragt sich: Was kann man denn jetzt überhaupt noch machen? Und dann kommt diese Erfahrung des Selbstmachenkönnens, die vermittelt ist über die Beschäftigung mit Anti-Psychiatrie, mit anderen Formen des Schreibens, mit anderen Formen des Denkens. Diese Linie linker Weltorientierung, die spielt bei Thomas eine ganz wesentliche Rolle. Wie kann man leben, wenn man kapiert hat, dass eine bestimmte Form, sein Leben der Politik zu weihen, wie bei den Parteiaufbauorganisationen, die dann in der RAF endeten, nur noch eine Farce ist?
Henk: Wie kann man nach dieser linken Depression noch leben?
Bude: Die zentrale Idee in unserem Roman besagt, dass Leben Einsatz benötigt. Man macht keine Erfahrung, wenn man nichts einsetzt. Das Ergebnis ist ziemlich offen. Der Einsatz kann auch zum Absturz führen. Wir versuchen, in unserem Roman eine Bruchsituation einzufangen, wo Einsätze was bringen können, aber eventuell eben auch in den Tod führen. Es wird relativ viel mit dem Tod gearbeitet in dem Roman, in den Fällen von Soraya oder Vroni beispielsweise. Und das ist der Versuch zu sagen, dass diese Erfahrungsweisen, die dort vorgeführt werden, ziemlich existentiell sind. Darum geht es in dem Roman.
Henk: Damit sind die Fragen „Wie leben?“ und „Wie wohnen?“ im Sinne Heideggers als existentielle Frage unmittelbar miteinander verbunden, nicht wahr?
Bude: Ja, exakt. Absolut. Die Wohnungsfrage im heideggerschen Sinne zur Lebensfrage zu machen. Das ist genau so.
Henk: Vor dem Hintergrund des Einsatzes scheint mir Luises Tagebucheintrag aufschlussreich: „Die einzige Kunst ist die Revolte. Kunst ist Revolte. Kunst ist Befreiung.“ Wovon haben Sie sich befreit? Wovon befreien Sie sich in Ihrer Kunst?
Wieland: Die Befreiung vom westdeutschen Lebensmodell war zentral. Wir wollten kein bundesrepublikanisch gelungenes Leben. Keine von uns ist zurückgegangen. Bettina lebte viele Jahre in New York, denn eine andere Stadt kam eigentlich gar nicht mehr in Frage. Und was wir zeigen, ist auch, dass Westberlin mal eine intellektuell pulsierende Stadt gewesen ist. Und das sind Westberliner Denkkünstlerinnenlebensmodelle, die vorgeführt werden, die letztendlich nur wenige Jahre gelebt wurden und dann – und das spielt eine große Rolle in AUFPRALL – ereignet sich ein weltpolitisches Ereignis, nachdem nichts mehr so ist, wie es einmal war. Nämlich der Fall der Mauer. Ab da ist es nicht nur vorbei mit dieser Gruppe, man lebt in einer anderen Stadt, die ganze Situation hat sich schlagartig radikal verändert. Auf einmal sind die beiden Stadthälften, die sich gegenseitig ignoriert, negiert, aber auch aufeinander bezogen haben, wieder zusammen. Und das schafft eine neue Ausgangssituation, für diese Gruppe, für unsere Generation, für Westberlin, für das Westberliner Denken und Kunstmachen usw. Diese Situation war einzigartig. Keiner von uns hätte je einen Pfifferling darauf gegeben, dass die Mauer fällt. Also wir haben immer gedacht …
Munk: … die bleibt immer.
Wieland: … die bleibt. Die bleibt immer, und wir sind darauf zugelaufen und sagten „Hallo“. Die Mauer war ein Faktum, ganz einfach.
Bude: Also ganz plakativ gesagt, wollen wir uns von der Freiheit befreien, um das Befreien als Element der Freiheit zu entdecken. Es ist diese Idee, nicht Freiheit zu sagen, sondern Freisein zu leben. Der ganze Roman misstraut Theorien der Freiheit, misstraut Praktiken des „so geht es jetzt“, sondern es muss immer die Bewegung des Freisein-Wollens in jeder Idee der Freiheit sein. Freisein und Freiheit ist die wesentliche Bewegung im Roman.
Henk: Und das Freisein ist unendlich viel mehr als Freiheit?
Bude: So ist es, ganz genau. Deshalb spielen ja in dem Roman solche Gedanken eine Rolle, dass die Interessen auf den Wünschen basieren und nicht die Wünsche auf den Interessen. Heute schaut jeder zuerst nach den Interessen, vom Roman aus betrachtet, würden wir sagen, guck doch erst mal nach den Wünschen.
Wieland: Das kommt wieder vom französischen Denken her.
Schuhen: Wie blickt man heute auf diese Zeit zurück? Blickt man auf eine gescheiterte Utopie? Guckt man auf ein großes Wohnexperiment zurück?
Munk: Also nostalgisch sind wir nicht. Aber sicherlich vermissen wir das wilde Denken.
Wieland: Nachdem wir das Buch geschrieben hatten, wurde mir nochmal klar, dass diese chaotischen Punk-Jahre in Berlin ein Wendepunkt in meinem Leben waren. Ich bin in meinem Denken bis heute davon geprägt. Doch ich könnte heute nicht mehr mit so vielen und unter solchen Bedingungen zusammenleben, und ich weiß auch gar nicht, wie ich es überlebt habe, ehrlich gesagt (lacht).
Bude: Und es ist eine Praxis. Um es mal auch in einer Formel zu sagen: Es gibt keine Renegaten in dieser Idee der Praxis. Das Renegatentum, der Affekt der Denunzierung von Menschen als Renegaten, ist uns völlig fremd. Wir sagen eben nicht, dass unsere Figuren, die in die Werbung oder zu Nixdorf gegangen sind, irgendetwas verraten haben. Unser Roman sagt, dass es dein Leben ist. Wenn du es mit dieser Idee des Intensiven und des Suchenden machst, dieses Freisein-Wollens in Maßen, dann ist das völlig in Ordnung.
Schuhen: Und wie schauen Sie dann auf heutige Besetzergemeinschaften, zum Beispiel die Rigaer Straße oder ähnliches? Was hat man für Gefühle, wenn darüber in den Medien berichtet wird?
Wieland: Wenn ich heute die Bilder von so einer Räumung sehe, wenn ich sehe, wie sie junge Leute raustragen, dann weiß ich, wie es denen geht. Ich weiß, wie es ist, wenn Polizisten in Kampfanzügen dich aus deinem Bett werfen und du dir sicher sein kannst, dass du alles verlieren wirst. Die Ziele und das Vorgehen der Staatsmacht sind im Vergleich zu damals allerdings heute sehr anders. Anders auch zu dem, was Lutz Seiler in Stern 111 mit den Ostberliner Besetzern beschrieben hat. Das klingt ja schon fast gemütlich bei dem und die Männer haben die Hosen an. Also wir hatten im alten West-Berlin zu Hochzeiten vielleicht 163, 168 besetzte Häuser. Wir glaubten ja auch, die ganze Stadt gehört uns.
Schuhen: Gibt es die Häuser noch, in denen Sie gewohnt haben? Und wenn ja, spazieren Sie an denen manchmal noch vorbei?
Munk: Manchmal kommt man mit dem Fahrrad da vorbei. Und das ist dann schon eine Ernüchterung, was da so passiert ist mit den Häusern.
Schuhen: Die sind wahrscheinlich totsaniert, oder?
Munk: Ja, das an den Gleisen auf jeden Fall.
Schuhen: Sie haben eben angedeutet, dass Sie an weiteren kollektiven Projekten arbeiten. Worauf darf man hoffen?
Bude/Wieland/Munk: Da sagen wir nichts.
(alle lachen)
Henk: Mir scheint eine letzte Frage passend: Haben Sie denn eine literarische Lieblingsfigur in Ihrem Buch?
Munk: Hm, schwer zu sagen. Man liebt sie ja alle.
Schuhen/Wieland: (lachen)
Wieland: Meine ist Vroni.
Bude: Vroni ist schon klasse.
Schuhen: Vroni mag ich auch.
Bude: Vroni ist schon ziemlich gut.
Wieland: Also Vroni, die dann den elenden AIDS-Tod stirbt aber sich nochmal Heurigenlieder wünscht auf dem Totenbett und Wert darauf legt mit rotgeschminkten Lippen zu sterben. Das hat Stil und das ist Punk, oder?
Schuhen: Das hat es. Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Wieland: Wir danken auch.
Der Roman Aufprall erschien 2020 bei Hanser, 384 S.
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
Mylène Farmer füllt an drei Abenden das Stade de France
Jean Tévélis im Gespräch über seinen Kinder- und Jugendroman 'Frère' (2021)