Trajectoires. Lebenswege in der Romanistik

Partie I: Prof. Dr. Walburga Hülk im Interview

Veröffentlicht am
9.2.2024

Lars Henk

RPTU in Landau

Lea Sauer

RPTU in Landau

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Warum entscheidet sich jemand ausgerechnet für eine Karriere innerhalb der französischen Literaturwissenschaft ? Was fasziniert an dem Fach? Und wie kann die Zukunft der Romanistik aussehen? In unserer Interviewreihe „Trajectoires. Lebenswege in der Romanistik“ wollen wir genau diesen Fragen nachgehen. Die Antworten unserer Interviewpartner und -partnerinnen sind so vielseitig wie sie selbst und zeigen, wie lebendig unser Fach ist.

Den Anfang macht Prof. Dr. Walburga Hülk, die nach ihrem Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Münster, Orléans und Freiburg, mit einer Arbeit über Eugène Sues Feuilletonromane Les Mystères de Paris und Le Juif errant 1983 in Freiburg promoviert wurde. Nach ihrer Habilitation in Gießen und einem Zwischenstop an der University of California, Berkeley, arbeite sie lange Jahre als Professorin der Romanistik an der Universität Siegen. Ihre Schwerpunkte lagen dort auf der französischsprachigen und italienischen Literatur. Im Interview konnten wir mehr über ihren Weg in die Romanistik, ihre Zeit als Professorin und ihre Liebe zur französischen Literatur erfahren.

„Das 19. Jahrhundert ist für mich so faszinierend, weil ich sagen würde, dass es nie aufgehört hat.“

© Massimiliano Manzan 2019

Wir danken Ihnen dafür, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch nehmen. Das Interview bildet den Auftakt einer neuen Reihe auf unserem Literaturportal: Wir wollen uns sowohl mit Professoren und Professorinnen als auch Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen über ihren Blick auf die Romanistik unterhalten. Heute sind wir interessiert an Ihrem Weg in die Forschung, Ihrer Sicht auf Bourdieus Einfluss auf das literarische Gegenwartsfeld in Frankreich und schließlich Ihrer Einschätzung der Romanistik. Beginnen wir mit der ersten Frage: Warum haben Sie sich für das Studium der Romanistik entschieden?

Wenn ich zurückblicke, dann wurde ich in meiner Studienwahl ganz klar von einer fantastischen Lehrerin für Französisch und Geschichte beeinflusst. Mit dem Enthusiasmus der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Élysée-Vertrag versuchte sie uns junge Schülerinnen auf dem bischöfflichen Mädchengymnasium, das ich besucht habe, für Französisch zu begeistern. Gemeinsam haben wir den Kanon des 19. Jahrhunderts gelesen, Baudelaire, Flaubert, Rimbaud. Außerdem hat sie uns mit den Chansons von Barbara bekannt gemacht. Ihre Lieder standen im Kontext des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags. Meine Lehrerin hat mich wirklich begeistert für die Literatur, die Kultur und die Musik in Frankreich und im Übrigen als Geschichtslehrerin, die sie war, auch für das Fach Geschichte. Nur bin ich an dem Fach dann an der Universität gescheitert. Ich fand die Lehre und die Professoren sehr langweilig. Weil ich in den ersten Semestern gemerkt habe, dass mich die Literatur erfüllt, habe ich zur Germanistik gewechselt und die deutsche Literatur mit der gleichen Freude wie die französische studiert. Dazu kamen dann noch einige Semester Philosophie und Kunstgeschichte.

Sie haben dann in Freiburg bei Erich Köhler studiert. Hat er eine ähnliche Faszination auf Sie ausgewirkt, wie Ihre Französischlehrerin in der Schule?

Das kann man schon so sagen. Vor meinem Auslandsaufenthalt an der Universität in Orléans habe ich vier Semester in Münster studiert. Nach meiner Rückkehr aus Orléans, der Partnerstadt von Münster, bin ich 1975 nach Freiburg gegangen. Ich habe gerade dort mein Studium fortgesetzt, um nahe an der französischen Grenze zu leben und natürlich auch deshalb, weil die Freiburger Romanistik eine gewisse Aura hatte. Erich Köhler hat Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur vor 250 Studierenden gehalten. Es kamen auch Leute, die nicht Romanistik studierten. Das waren richtige Events, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann.

Was machte seine Vorlesungen so besonders?

Er hatte eine wunderbare Erzählstimme. Er hat seinen eigenen Enthusiasmus nicht nur ausgestellt, sondern auch auf uns Studierende übertragen. Außerdem hatte er ein enormes Wissen. Das Mittelalter kannte er auswendig, natürlich auch das 17., 18. und 19. Jahrhundert. Heute bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob er alles gelesen hatte, was er in seinen Vorlesungen behandelt hat. Vielleicht hat er ein klein bisschen so getan, als ob er alles in Gänze kannte, vor allem bei den großen barocken Romanen kommen mir kleine Zweifel (lacht). Zu seiner Bildung, seinem Wissen kam der Anspruch, uns seine Erkenntnisse wirklich vermitteln zu wollen. So heißt auch eines seiner Bücher Vermittlungen (erschienen 1978, Anm. d. Red.). Es war für mich faszinierend, dass er nicht in verschwurbelten Begriffen dozierte. Sein Unterricht war keine Akkumulation von vermeintlich akademischen Kernbegriffen, die die Dinge im Unklaren ließen, wie ich es bei anderen Professoren erlebte.

Und wann stand für Sie fest, dass Sie eine akademische Karriere einschlagen wollten?

Das war nicht von Anfang an geplant. Ursprünglich wollte ich Journalistin werden, hatte jedoch Zweifel, ob mir das mit meinen philologischen Fächern gelingen könnte. Die akademische Laufbahn hat sich dann durch die entsprechenden Stellen ergeben, die ich im Laufe der Zeit bekommen habe. Zuerst war ich Hilfskraft, dann Assistentin. Das Netzwerk, wie man heute sagen würde, von Erich Köhler hat mir ebenfalls geholfen. Es war sozusagen seine ältere Schülerschaft, die mich nach seinem frühen Tod weiter gefördert und beschäftigt hat. Ich bin vielen Leuten nach wie vor sehr dankbar. Und natürlich hatte ich auch Glück.

In Ihrer Forschung haben Sie sich vor allem mit dem 19. Jahrhundert auseinandergesetzt. Was fasziniert Sie gerade an diesem Jahrhundert?

Das erste Seminar, das ich in Münster besuchte, war eines über Baudelaire; das erste Seminar, das ich in Freiburg gab, handelte von Rimbaud. Das 19. Jahrhundert ist für mich so faszinierend, weil ich sagen würde, dass es nie aufgehört hat. Schauen Sie sich beispielsweise das moderne Kino an: In Form der Sehnsüchte ist die Romantik eigentlich immer präsent gewesen. Nicht zu vergessen der Imperialismus. Manche haben sich sicher gewähnt, am Ende der Geschichte zu sein. In den vergangenen zwei Jahren sind wir noch einmal darüber belehrt worden, dass Geschichte sich wiederholt oder zumindest keine Pause macht: Der Imperialismus, der im 19. Jahrhundert so verbreitet war, ist zurückgekehrt. An diesen zwei Aspekten kann man, denke ich, ablesen, dass das lange 19 Jahrhundert, das man normalerweise mit dem Ersten Weltkrieg enden lässt, wohl viel länger andauert. Dazu kommt als Problem die soziale Frage, auf die wieder die Gegenwartsliteratur seit den 1980ern reagiert. Das ist ja Teil Ihres Projekts zur Rückkehr der Klassenfrage.

Wie lange wird der Trend der Autosoziobiographien noch weitergehen, Ihrer Einschätzung nach?

Da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich glaube, dass in den besten Texten das Wesentliche schon gesagt ist. Man kann das immer weiter ausschmücken, mit Details anreichern. Mehr aber auch nicht.

Man kann sicher noch weitere Ungleichheitskategorien hinzufügen, wie Migration, Religion etc. Das machen beispielsweise Fatima Daas und Kaoutar Harchi.

Ja, aber das Wesentliche ist gesagt. Wenn Sie Daas und Harchi ansprechen, dann zeigt das natürlich, dass der Themenkomplex von Migration, Afrika, Kolonialismus, mit dem ich mich nie beschäftigt habe, immens wichtig ist. Das wird auch noch eine Weile so bleiben.

Was werden wir in den nächsten Jahren noch zu lesen bekommen?

Ich würde sagen, dass die soziale Frage demnächst durch politische Fragen ersetzt werden wird, womit ich nicht sagen will, dass das Soziale nicht immer auch politisch ist. Aber ich denke, dass Prekarität, Deindustrialisierung, soziale Ungleichheit und die momentan dominierenden literarischen Formen, darüber zu schreiben, in den Hintergrund treten werden. Antisemitismus, Judentum und Islam, die Themen, die in der Gesellschaft schon präsent sind, werden noch stärker in der Literatur behandelt werden.

Welche Bücher landen, wenn Sie in Paris sind, in Ihrem Einkaufskorb?

Den neuen Roman von Modiano habe ich bei meinem letzten Besuch mitgenommen, weil ich ihn als Autor einfach liebe. Ich mag seine Diskretion, seine Imagination. Ansonsten greife ich mir manchmal einfach Romane abseits der großen Linien heraus. Den Goncourt-Preisträger habe ich in Paris liegen lassen, weil er mir zu dick war. In meiner Freizeitlektüre bin ich sehr eklektizistisch. Dank einer Freundin bin ich vor Kurzem auf eine kühne, auch kapitalismuskritische Novelle gestoßen: Ultramarins von Mariette Navarro.

Welches Buch hat Sie dieses Jahr am meisten beeindruckt?

Ganz klar V13 von Emmanuel Carrère. Es ist eine wirklich bestürzende Dokufiktion. Ich weiß von Leuten, die nur bis Seite 50 gekommen sind. Die Berichte der Nebenkläger sind für viele Leser unerträglich. Mich hat beeindruckt und vor allem berührt, wie Carrère am Rande des Prozesses beobachtet, was eigentlich geschieht. Er schreibt gerade nicht, um zu verurteilen. Carrère hat ein wirklich bemerkenswertes, wahrhaftiges Buch über die Attentate und ihre Konsequenzen für die Familien sowohl der Täter als auch der Opfer geschrieben.

Lassen Sie uns kurz zu Bourdieu kommen. Wie nehmen Sie den Boom seiner Gesellschaftstheorie wahr?

Zunächst muss man ernüchtert sagen, dass Bourdieu in Deutschland gar nicht so stark vertreten ist wie in Frankreich. Sein zwanzigster Todestag ist in Deutschland quasi untergegangen, was einen wirklich sehr wundern musste. Dass seine Theorien, seine Bücher in der Literaturwissenschaft rezipiert werden, wird, denke ich, anhalten, weil er Grundbegriffe geliefert hat, mit denen wir als Literaturwissenschaftler sehr gut arbeiten können. Auch die Frage der Distinktion lässt sich an literarischen Texten des 19. Jahrhunderts, an den Klassikern Balzac, Flaubert und Zola, auch später bei Proust, durchexerzieren.

Welche Erkenntnisse, welche Studien von Bourdieu haben Sie am meisten beeindruckt?

Das war La Distinction (1979) (dt. Die feinen Unterschiede), Les Règles de l’art (1992) (dt. Die Regeln der Kunst, 1999) ist auch faszinierend. Nach wie vor aktuell ist Bourdieu in Fragen der Bildungsgerechtigkeit. Bourdieus Erkenntnisse aus Les Héritiers (dt. Die Erben, 2007) aus den 1960er Jahren scheinen mir immer noch Gültigkeit beanspruchen zu können, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Das muss sich die Bildungspolitik anschauen.

Sie haben Les Règles de l’art angesprochen. Was sagen Sie als Flaubert-Forscherin zu seiner Einschätzung von Flaubert?

Ich glaube, dass Flaubert weniger der Heilige der reinen Kunst ist, als Bourdieu meint. Er hat sich nämlich sehr an den Machtbetrieb angepasst. Das hat Bourdieu übersehen. Sicherlich geht er seinem hohen Kunstideal nach, aber er ist dahingehend weniger von der Gesellschaft abgewandt, als Bourdieu es sich vorstellt. Flaubert hat persönlich alle Ehrungen entgegengenommen, er war gern auf allen Feierlichkeiten des Kaisers. Er hat das alles sehr genossen. Die Korrespondenz ist voll von diesen Eitelkeiten. Dieser Aspekt kommt mir in Bourdieus Untersuchung zu kurz.

Wir haben uns die Frage gestellt, warum Émile Zola, Zeitgenosse und Freund Flauberts, in den Schriften Bourdieus kaum erwähnt wird. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Dazu müsste man sicher genauer in die Zola-Forschung reinschauen. Aber mir scheint, dass die sozialanalytischen Dimensionen in Zolas Romanen als solche nicht wirklich gesehen worden sind, auch nicht von Bourdieu, als er Les Règles de l’art geschrieben hat. Und das verwundert, weil Zola ein groß angelegtes Gesellschaftsporträt anvisiert hat. Aus meiner Sicht hat er seinen literarischen Anspruch eingelöst: Er hat über das Arbeiterelend in Paris und in der Provinz geschrieben, den Betrieb der Eisenbahngesellschaften, die Konsumgesellschaft in der Moderne und die Kapitalismusauswüchse, also die Kaufhäuser, die Bankiers und die Immobilienhaie. Das ist ihm wirklich gelungen, das muss man so sagen. Ich glaube, dass er im Unterschied zu Balzac und Flaubert lange Zeit als trivial galt. Ich selbst habe ihn viele Jahre unterschätzt. Wie theatralisch, wie impressionistisch seine Rougon-Macquart-Romane sind, habe ich erst später in Seminaren gemeinsam mit meinen Studierenden entdeckt.

Sie haben sich ein ganzes Leben lang an Flaubert abgearbeitet. Nun schreiben Sie ein Buch über Hugo. Wie lässt sich das erklären?

Die Idee ist mir gekommen, als Notre-Dame brannte und Hugo wieder oben auf den Bestsellerlisten stand. Ich habe recherchiert und gesehen, dass es zu ihm auf dem deutschen Buchmarkt nichts gibt. Aus dieser Leerstelle ist mein Projekt entstanden, das ich in diesem Frühjahr abschließen werde.

Auf Ihrer Homepage an der Universität Siegen ist Ihr Projekt unter dem Arbeitstitel: „Der Jahrhundertmensch Victor Hugo“ notiert. Inwiefern ist Hugo ein Jahrhundertmensch?

In erster Linie hat er für einen Menschen im 19. Jahrhundert sehr lange gelebt. Er wurde 1802 geboren und ist 1885 gestorben. Er selbst hat ja an dem Mythos des Jahrhundertmenschen mitgearbeitet. Er hat geschrieben, dass er mit dem Jahrhundert ginge. Das hat er getan: Er hat die Monarchien, die Revolutionen, den Royalismus und das soziale Elend in allen Medien, die damals existierten, begleitet. Les Misérables war außerdem ein Jahrhunderterfolg, worauf alle neidisch waren. Flauberts Salammbô ging 1862, in dem Jahr, als auch Les Misérables erschien, buchstäblich unter. Hugo ist die zentrale Figur der Literatur im 19. Jahrhundert gewesen. Viele haben sich an ihm abgearbeitet, unter anderem die Goncourt-Brüder und Baudelaire. Baudelaire hat ihm seine bekanntesten Paris-Gedichte gewidmet. Gleichzeitig hat er seiner Mutter geschrieben, dass Hugos Gedichte erbärmlich seien. Diejenigen, die im literarischen Feld bekannt und erfolgreich werden wollten, kamen an Hugo nicht vorbei. Er hat allerdings nicht nur geschrieben, sondern auch gezeichnet und als einer der ersten das Potenzial der Fotografie erkannt. Sein Familienleben ist spannend, sein Spiritismus ist spannend. Er war auf vielen verschiedenen Gebieten aktiv, sodass man vor ihm kapitulieren könnte. Hugo war auch Aktivist: Er hat an den Zaren geschrieben, er hat an die russische Armee geschrieben, er, der gegen die Todesstrafe war, hat das amerikanische Volk in einem offenen Brief wegen des Todesurteils gegen den radikalen Abolitionisten John Brown adressiert. Diese Artikel bzw. Briefe sind in den großen Zeitungen erschienen. Hugo hat aus dem Exil heraus ganz Frankreich beherrscht. Im 19. Jahrhundert, im Werk von Victor Hugo, auf der Insel Guernsey laufen viele Fäden zusammen, mit denen ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe. So erklärt sich, denke ich, der Arbeitstitel.

War Hugo also ein Intellektueller?

Genau. Es stimmt einfach nicht, dass die Ära des Intellektuellen erst mit Zola oder schon mit Voltaire anfängt.

Warum nicht mit Voltaire?

Voltaire adressierte nur die gelehrte Welt. Damit hat er natürlich viele erreicht, aber nicht die Masse. Ich glaube, dass die Adressatenfrage einen großen Unterschied macht. Hugo schrieb, wie Zola später an diese breitere Masse. Im Zeitalter der Massenmedien adressierte er das amerikanische Volk, die russische Armee, den Zaren, den britischen Premierminister. Sicherlich hat er das auch für Geld gemacht, er hat seine Artikel in den großen Zeitungen platziert. Es ist, glaube ich, ein wichtiges Argument für den Intellektuellen Hugo, dass er sich zu der Zeit der Massenmedien positioniert, sich dort engagiert und auch von einer breiten Öffentlichkeit gelesen wird.

Wann wird Ihr Buch erscheinen?

Ich bin noch nicht ganz fertig. An einigen Stellen muss ich mich noch einmal absichern. Außerdem hat der Verlag eine lange Vorlaufzeit. Ob die Veröffentlichung bis zur Frankfurter Buchmesse im Herbst 2024 klappt, weiß ich nicht.

Woran werden Sie arbeiten, wenn Ihr Hugo-Buch abgeschlossen ist?

Ich glaube nicht, dass ich noch einmal so ein dickes Buch schreiben werde. Ich würde stattdessen sehr gerne Hugo übersetzen, am liebsten etwas zu Hugo als Passant in der Menge und Streuner am Meeresstrand. Da gibt es einiges.

Die Gedichte müssten unbedingt übersetzt werden.

Genau, aber das würde ich mich persönlich nicht trauen. Übrigens ist für die Forschung in seinen avantgardistischen Gedichten noch viel zu entdecken.

Im letzten Teil wollen wir mit Ihnen noch über die Romanistik sprechen. Was haben Sie für turns und Trends erlebt in der langen Zeit, in der Sie die Romanistik in Deutschland maßgeblich mitgeprägt haben?

In Konstanz saß Hans-Robert Jauß, der die Rezeptionsästhetik geprägt hat. Die Entdeckung seiner Vergangenheit zur SS-Zeit löste dann eine schwere Krise für ihn und seine Schülerschaft aus. Als ich nach Freiburg kam, war die Literatursoziologie von Erich Köhler die dominante Strömung im Unterschied zu der Soziologie der Literatur, wie sie später von Bourdieu vertreten worden ist. Hugo Friedrich habe ich kaum mehr gehört, weil er schon emeritiert und krank war. Köhler hat in seinen genauen Textanalysen versucht, die Struktur von Literatur auf gesellschaftliche Grundstrukturen zu übertragen. Das ist ihm manchmal sehr toll gelungen, manchmal ist es auch ein bisschen abstrus gewesen, zumindest in einzelnen Gedicht-Analysen. Sein Ansatz hat mich auf jeden Fall geprägt. Dann habe ich den dekonstruktiven turn mitgemacht, der ganz stark in der Germanistik in Freiburg verbreitet war. Sie war sehr progressiv. Dort hatte ich einen wunderbaren Lehrer, Gerhard Neumann. Er hat die französischen Theorien auch in die Romanistik getragen. Das hat mich in meiner Zeit der Habilitation und auch ein bisschen darüber hinaus beschäftigt. Als ich in Siegen angefangen habe, waren es Themen wie Intermedialität und Funktionsweisen des literarischen Betriebs, zu denen wir gearbeitet haben.

Was hat sich in der Romanistik während Ihrer Zeit als Studentin, Mitarbeiterin und Professorin generell geändert?

Damals war die Romanistik ein großes Fach, sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Die Zeiten, in denen Romanistikstudierende riesige Vorlesungsräume füllten, wie ich das erlebt habe, sind wohl unwiederbringlich vorbei. Nicht zuletzt aus politischen Gründen. Als ich in der Schule war, atmete alles den euphorischen Geist des Élysée-Vertrags. Heute wird die Schließung von drei Goethe-Instituten in mehr oder minder unmittelbarer Grenznähe einfach beschlossen. Sicherlich muss das Geld für Kultur auch erwirtschaftet werden. Es ist eben auch eine politische Frage, wohin die Gelder vergeben werden.

Wie sehen Sie die Zukunft der Romanistik?

Nicht per se optimistisch, aber ebenso wenig pessimistisch. Sicherlich muss die Sichtbarkeit der Romanistik erhöht werden, außerhalb unserer Fachgrenzen ist sie nämlich sehr gering. Das Bemühen um Öffentlichkeitsarbeit finde ich in der Tat gut und wichtig. Es werden viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu Lesungen eingeladen. Das macht beispielsweise Cornelia Ruhe in Mannheim. Zu der Sichtbarkeit tragen Sie in Landau mit dem Literaturportal bei. Mit Enthusiasmus Forschung und Lehre fortzuführen, um Leute zu begeistern und über die Fachgrenzen zu erreichen, das ist natürlich immens wichtig für die Zukunft der Romanistik.

Fehlt Ihnen die Arbeit mit den Studierenden, oder können Sie sagen, dass Sie einen guten Übergang gefunden haben in den Lebensabschnitt, in dem Sie sich nun befinden?

Ich habe wirklich gerne gelehrt, aber ich denke, dass alles seine Zeit hat. Ich hatte das Glück, im richtigen Moment abzutreten. Ich hatte eine schöne Verabschiedung, es waren viele Kollegen und Studierende anwesend. Ich musste keine Digitallehre machen. Mit meinem  Buch über das Second Empire (Im Rausch der Jahre, 2019, Anm. d. Red.), dem Hugo-Buch und Vorträgen, zu denen ich eingeladen werde, habe ich für mich einen wirklich guten Übergang gefunden.

Haben Sie für Nachwissenschaftler und -forscherinnen einen abschließenden Tipp?

Rückblickend auf viele Jahrzehnte als Literaturwissenschaftlerin, würde ich Ihnen empfehlen, sich zu bemühen, klar zu sein. Ich gebe Ihnen den Rat, die Sachen so lange zu durchdenken, bis Sie sie klar darstellen können. Das halte ich für wichtig für die ganzen jungen Leute, weil kein junger Mensch das macht. Ich habe das auch nicht gemacht, glaube aber, dass es sehr förderlich ist. Angesichts der aktuellen Lage der Romanistik ist es umso wichtiger, dass man so schreibt, dass es Leute außerhalb der eigenen Fachspezifik verstehen können.

Frau Hülk, vielen Dank für das Gespräch.

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