Au-Pair

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass diese Woche repräsentativ für mein ganzes Jahr werden würde.

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Es begann alles im Jahr 2017 und endete exakt ein Jahr später. Mein Tagebuch ruft alle Erinnerungen in mir wieder hervor. Das ausschlaggebende Ereignis geschah am Muttertag im Jahre 2018, als ich zum ersten Mal ein Muttertagsgeschenk bekam. Ein Moment, der alles, was ich in dem vergangenen Jahr erlebt hatte, auf den Punkt brachte. Ein Moment, der all meine vorherigen Überlegungen zum Thema Mama abschloss. Mama – so ein kurzes Wort, das aber so viel Bedeutung in sich trägt.

(Bevor ich zu meiner Bedeutungszuschreibung komme, habe ich die Definition von Mama gegoogelt. Der Duden spricht von einem femininen Substantiv mit der Bedeutung Mutter. Andere Suchergebnisse zur Definition von Mama bestehen hauptsächlich aus Vorschlägen zu personalisierten Geschenkideen für die eigene Mama)

Vor genau sechs Jahren brach ich nach dem Abitur mein Abenteuer an. Ich ging für ein Jahr als Au-Pair in die USA. Zum ersten Mal verließ ich den europäischen Kontinent. Mein Gastvater holte mich mit seinen drei Mädchen am Bahnhof von N.C. ab.

(N.C. ist eine Stadt im US-Bundesstaat Connecticut, die zu einer der reichsten Kommunen der USA zählt. Im Jahr 2013 belegte sie den fünften Platz in einer Rangliste der US-Städte mit dem höchsten Einkommen.)

Die Sonne schien und wir wirkten alle erfreut, aufgeregt und leicht angespannt. Alle waren der Hoffnung, dass das Match klappen und wir uns gut verstehen würden. Wir fuhren am I. Park vorbei, bogen links in die W. Road ab bevor wir auf der P. Ridge Road landeten. Von dort aus bogen wir in den A. Trail ab, der seinem Namen — dem ersten Anschein nach — alle Ehre machte. Nach insgesamt zehn Minuten Fahrt befand ich mich mitten in der Pampa am Arsch der Welt: Dies sollte also mein neues Zuhause sein. Als wir jedoch die „Einfahrt“ zum „Haus“ herunterfuhren, fiel mir die Kinnlade nach unten. Ich war sprachlos und musste erstmal meine Gedanken sortieren. Bis dato hatte mein altes Ich noch nie ein Einfamilienhaus mit solchen Dimensionen gesehen. Mein Gastvater bemerkte meinen Blick und meinte, dass ihr erstes Au-Pair auch so reagiert habe. Wenn die nur gewusst hätten, in was für einem Haus ich in Deutschland lebte…! Hätten sie mich überhaupt noch als ihr Au-Pair gewollt? Im Haus – oder wohl eher in der Villa – angekommen, begrüßte mich meine Gastmutter, die am Herd stand und kochte. Sie wirkte auf mich sympathisch und fürsorglich. Ich spürte nach tagelanger Anspannung zum ersten Mal Erleichterung. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann.

Zunächst bekam ich eine Führung durchs Haus, die mich dann vollkommen aus dem Konzept brachte. Nun wurde meine Frage, wofür man wohl die ganzen Zimmer brauchen würde, die es dort gab, beantwortet. Im ersten Stock gab es drei Kinderzimmer, für jedes Mädchen eins. Zudem gab es ein Gästezimmer, das Schlafzimmer meiner Gasteltern, zwei Abstellkammern und drei Badezimmer. Im Erdgeschoss war die Küche mit Essbereich, ein zusätzlicher Dining-Room, den wir innerhalb eines Jahres kein einziges Mal nutzten, ein Arbeitszimmer, zwei Wohnzimmer, von denen eins „TV-Room“ genannt wurde, ein weiteres Badezimmer und eine Verbindung zur Barn, in der sich das Spielzimmer befand, das größer war als der Raum meiner Kindergartengruppe, und in dem, wie sich später herausstellte, eine Hüpfburg aufgebaut werden konnte. Im Keller befand sich eine Garderobe, eine Waschküche, ein Fitnessstudio, noch ein Badezimmer und schließlich mein Zimmer. In dem „Haus“ gab es also insgesamt fünf Badezimmer! Nicht zu vergessen der Außenbereich: eine überdachte Terrasse und eine nicht überdachte Veranda, ein Playset für die Mädchen und einen Pool. Die zusätzliche Rasenfläche verlieh dem Ganzen den Anschein eines Parks, der nun zu meinem neuen Zuhause gehörte. Mein altes Ich, noch im Schock über die Ausmaße der Villa, fragte sich vor allem, wofür jemand all diesen Platz brauchen könnte. Und… ein Gefühl von Scham überkam mich. Wenn die nur wüssten, wie mein Bruder und ich im Alter der Mädchen mit unserer Mama gelebt hatten. Trotzdem fehlte es uns an nichts.

Die Töchter meiner Gastfamilie hingegen hatten alles und dennoch fehlte ihnen immer wieder irgendetwas. Vor allem fehlte ihnen aber die Zeit ihrer Mutter. Nach einer Woche in meiner neuen Gastfamilie flog meine Gastmutter bereits in den Urlaub, den sie wohl schon seit längerem geplant hatte. Sie ließ mich, das 19-jährige deutsche Au-Pair, das sie kaum kannte, mit ihren Töchtern alleine. Mein Gastvater arbeitete in NYC und war den ganzen Tag nicht zu Hause. Also war ich von 6 bis 20 Uhr täglich mit den mir zu diesem Zeitpunkt noch fremden Kindern alleine. Aufgrund des ständig rauschenden Babyphones konnte ich kaum schlafen und fühlte mich, als ob ich von heute auf morgen Mutter von drei Kindern geworden wäre. Jedoch hatte ich keine neun Monate, um mich darauf vorzubereiten. Mein früheres Ich fühlte sich überfordert und verwirrt. Welche Mama lässt ihre drei Kinder bei einer ihr noch unbekannten jungen Person alleine, um in den Urlaub zu fahren?

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass diese Woche repräsentativ für mein ganzes Jahr werden würde. So wurde schnell meine Vorstellung von einem Au-Pair als reine Babysittern durchbrochen. Von nun an war ich als Au-Pair nicht nur Babysitterin, sondern Erzieherin, Entertainerin, Lehrerin, Hausfrau, Reinigungskraft und Mutter zugleich. Meine Familie waren M., C., A., C. und E. Zumindest waren sie das, wenn mein Gastvater anwesend oder ich mit den Mädchen alleine war. Wenn M., die eigentliche Mutter, da war, war ich nichts weiter als eine Arbeitskraft. Sie behandelte mich wie die mexikanischen Gärtner, Pool-Reiniger, Putzfrauen, Handwerker und professionellen Grillreiniger, was anscheinend wirklich ein Beruf ist; meine Aufgabe bestand in der Rund-um-die-Uhr-Betreuung der Kinder. A. half mir beim Vorlesen, sodass ich mein Englisch verbessern konnte. Ich war für sie da, wenn M. ihr gegenüber mal wieder keine Zuneigung übrig hatte. Ich saß neben ihr und tröstete sie, wenn sie krank war und ihre Mutter es bevorzugte, Möbel shoppen zu gehen. C. begeisterte ich fürs Backen und brachte ihr das Schwimmen bei, nachdem der extra aus Florida eingeflogene Schwimmlehrer sein Versprechen, den Kindern innerhalb von vier Tagen das Schwimmen beizubringen, nicht einhalten konnte. E. und ich verbrachten jeden Tag von morgens bis abends miteinander. Wir lernten zusammen Sprechen bzw. Englisch und gingen häufig zur story time. Bei diesem Eltern-Kind-Angebot trafen wir die anderen Kinder von N.C., die dort mit ihren Nannys oder Au-Pairs waren. Wir tauschten uns über unsere Kinder aus und planten Aktivitäten für die nächsten Tage. Nach ein paar Monaten wollte E. nur noch von mir ins Bett gebracht werden; schrie, sobald ich sie meiner Gastmutter übergab und überreichte mir schließlich im Kindergarten ihr selbstgebasteltes Muttertagsgeschenk, als ich sie abholte. Als ich ihr erklärte, dass sie dies ihrer Mama geben müsse, kippte sie ihren Kopf leicht nach rechts und blickte mich fragend an. Es zerbrach mir das Herz. Diese Wunde ist bis heute noch nicht verheilt.


Lea

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