Auf der Suche nach den verloren gegangenen Satzzeichen

von Vanessa Barisch

Veröffentlicht am
6.12.22

Studierende

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Mein Interesse für den sieben Bände umfassenden Roman von Marcel Proust wurde bereits im Sommer letzten Jahres geweckt. Im Rahmen der Ringvorlesung des Fachbereichs für Kunstwissenschaften hörte ich erstmals mehr über den Autor und Die Suche nach der verlorenen Zeit. Prousts besonderer Sinn für das Verflechten eines Diskurses über die Künste in seinem literarischen Werk, der das Thema des Vortrags darstellte, fordert die LeserInnen heraus, den produktiven Dialog der beiden Medien aufzudecken und weiter zu erforschen. Als ich beim Durchforsten des Veranstaltungsverzeichnisses für das kommende Wintersemester das Seminar mit dem kurzen Titel Proust lesen entdeckte, war mir klar, ich würde die Herausforderung annehmen und versuchen, Proust zu lesen. Zugegeben, es ist keine sonderlich schwierige Aufgabe mich für Literatur zu begeistern. Im Anschluss an das Seminar zu Émile Zola, das ich im Sommer belegt hatte, kaufte ich mir höchst motiviert sein Gesamtwerk in digitaler Version mit insgesamt 199 Lesestunden. Mein Lesefortschritt beträgt bis dato immerhin 26%. Ähnlich enthusiastisch erstand ich bereits vor Semesterbeginn das französische Original Du côté de chez Swann mit dem Vorhaben, schon einige Seiten vor der ersten Sitzung zu lesen. Die Motivation erhielt einen ersten Dämpfer, nachdem ich das Buch aufschlug. Auf der Suche nach einem anderen Satzzeichen als einem Komma oder einem Bindestrich überflog ich die Seiten. Es stellte sich recht schnell heraus, dass das Ergebnis überschaubar war, doch ich entschied mich, einfach mal anzufangen.

Sonntagabend, 22 Uhr, meine beliebteste Lesezeit in der Woche. Auf den ersten Seiten kämpfte ich mich durch die ellenlange, schier endlose Aneinanderreihung von Hypotaxen und musste feststellen, dass irgendwie nichts passierte. Leicht frustriert schlug ich das Buch zu und entschied zu tun, wozu der Ich-Erzähler nicht fähig zu sein schien: Ich schlief ein und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Tag lotete ich erstmals Alternativen aus und fand ein Hörbuch, in dem Daniel Mesguich mit angenehmer Stimme und passender Intonation den Text vorlas. Sogleich fiel es mir leichter, den Gedankengängen des Ich-Erzählers zu folgen. Die zuvor so langatmige Syntax hüllte mich nun angenehm in den wortgewandten Schreibstil von Marcel Proust ein und trug mich fort an einen Ort, der erfüllt zu sein schien vom Geschmack in Tee getauchter Madeleines und dem Duft von Weißdornhecken. Nichtsdestotrotz war eine gewisse Vorsicht geboten, sich in dem fließenden Bewusstseinsstrom nicht zu verlieren und völlig abzuschweifen. Recht schnell erschloss sich mir, dass es weniger um die tatsächliche Beschreibung von Geschehnissen oder Orten ging, sondern vielmehr um die erzeugten Eindrücke und subjektiven Gefühle des autodiegetischen Erzählers. Der Frustration konnte ich infolgedessen zwar Einhalt gebieten, dennoch wurde im Verlauf des Semesters Du côté de chez Swann nicht zu meiner präferierten Sonntagabend-Lektüre. Das Lesen des Textes erforderte doch mehr Konzentration und Hingabe als ein Krimi, den man sich zu Unterhaltungszwecken zu Gemüte führt.

Durch die gemeinsame Auseinandersetzung im Seminar musste ich immer wieder feststellen, wie viel sich mir bei der ersten Lektüre nicht erschlossen hatte. Prousts Werk ist in vielerlei Hinsicht höchst komplex und konstruiert. Der Autor komponiert anhand der verschiedenen thematischen Schwerpunkte wie den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen, den Künsten, der Sexualität und Beziehungen aller Art ein Portrait der Belle Époque und lädt Leser und Leserinnen dazu ein, die Welt durch seine Augen zu sehen. Diese Erfahrung differiert mit meinen bisherigen Leseerfahrungen insofern, als sie nicht objektiv, sondern gänzlich subjektiv ist. Die inhärente Individualität macht den Einblick umso spannender, da sie auf mich viel persönlicher und nahbarer wirkt. Mit besonderer Ernsthaftigkeit geht Proust die großen Fragen des Lebens an, wie zum Beispiel, was eigentlich Liebe ist und wie diese in seinem Verständnis gestrickt ist. Die Annahme, Liebe sei eine von Eifersucht und Zurückweisung regierte One-Man-Show, frustrierte mich zunächst. Trotzdem liegt auch in der fehlenden Identifikation ein fruchtbarer Boden für die Auseinandersetzung mit dem Text. Es ist letztendlich die Liebe, besser gesagt die Liebe zur Kunst, die Du côté de chez Swann für mich besonders spannend macht. Die Erkenntnis über die Figur Swann, dass sein Liebesobjekt Odette der Zéphora von Botticelli gleicht, erzeugt jenen Dialog zwischen den Medien, weswegen ich neugierig geworden war. Der intermediale Bezug führt letztlich zu einer wechselseitigen Erhellung der Künste, die es zu erkennen gilt. Die Tatsache, dass Swanns Zuneigung zu Odette durch die schwärmerische Begeisterung für das lebendig gewordene Kunstwerk entfacht wird und alle Zweifel durch diese Erkenntnis zerstreut werden, verdeutlicht wozu Kunst und Literatur im Stande sind. Diese Erfahrung macht nicht nur der kunstliebhabende Lebemann Swann, auch die Leserinnen und Leser können sich dessen bewusst werden. Die Herausforderung in der Rezeption besteht im aufmerksamen Blick, dem bewussten Lesen zwischen den Zeilen. An dieser Stelle lässt sich auch die inhaltliche Tiefe erkennen, die auf den ersten Blick zu fehlen scheint. Die Recherche ist, zumindest soweit ich das anhand von diesem ersten Band beurteilen kann, nicht laut und offensichtlich, sondern intim und tiefgründig. Von der Suche nach den verloren gegangenen Satzzeichen bin ich schließlich abgekommen. Das Lesen von Du côté de chez Swann, das noch nicht ganz abgeschlossen ist, hat mir gezeigt, wie viel mehr es noch zu entdecken gilt und wie vieles ich noch nicht weiß. Dennoch hat das gemeinsame Erforschen des literarischen Universums mich weiter gebracht auf meinem Weg zur Faszination für die Welt von Marcel Proust.

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