Burschenschaft

Ich musste an die Mitgliedschaft in einer Sekte denken, durch Schuld gezwungen, Mitglied zu bleiben. Andererseits gefiel mir das Konzept, im Studium unterstützt zu werden und später selbst die nächsten Generationen von Studenten zu subventionieren.

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Nach der obligatorischen halben Stunde Stau kam ich in Stuttgart an, kämpfte mich durch den Innenstadtverkehr, bog bei Stuttgart 21 Richtung Kesselrand ab. Entlang der Birkenwaldstraße, die in Serpentinen den Hang hinaufführt, werden die Häuser größer und herrschaftlicher, Anwesen mit akkurat gestutzten Hecken und Vorgärten. Das vierstöckige Verbindungshaus war unschwer an der blau-weiß-roten Flagge zu erkennen, daneben ein fast ebenso hoher Ahorn. Sein Laub bedeckte Einfahrt und Gehweg, die hier nicht ganz so penibel gefegt wurden wie auf den angrenzenden Grundstücken. Ein junger Mann mit Kopfbedeckung in Verbindungsfarben, die an eine Schaffnermütze erinnerte, öffnete die Eingangstür und stellte sich als S. vor. Leichte Befremdung, ich versuchte, mir mich selbst mit einer solchen Mütze vorzustellen, in meinem Kopf sah ich lächerlich aus. Bewerbungsgespräch im Wohnzimmer im ersten Stock. Der Raum war mit Bar, Billardtisch und einer großen Fernsehecke inklusive PlayStation 4 ausgestattet. Etwa die Hälfte der 18 aktuellen Hausbewohner waren anwesend, alle trugen Band und Mütze. Was mich dazu bewogen habe, mich bei Ihnen für ein Zimmer zu bewerben? Neugierde und die Tatsache, dass die Auswahl bezahlbarer Wohnungen zu Semesterbeginn sehr gering ist, antwortete ich ehrlich. Sandro warnte mich, dass Saxonia pflichtschlagend sei, ich müsse also fechten lernen. Zwei Tage darauf war ich angenommen.

Zur gleichen Zeit zog R. ein, wie ich ein Lufti, Student der Luft- und Raumfahrttechnik. Sein eigentlicher Name ist D., aber seine Eltern hatten ihm den Spitznamen ihres amerikanischen Lieblingspräsidenten gegeben. Trotzdem schlossen wir als die Neuen schnell Freundschaft. Bis zur Burschenprüfung wurden Mitglieder „Füxe“ genannt, wir hatten jeden Mittwoch Fuxenstunde, in der Fuxmajor Günni Studentenverbindungsgeschichte unterrichtete und donnerstags Fechtunterricht erteilte. Wie sich herausstellte, trug man Verbindungsfarben nur zu offiziellen Anlässen, dennoch wurde besonders von den älteren Bewohnern großer Wert auf Einhaltung der Traditionen gelegt. Respekt vor Burschen, der Verbindungshierarchie, Rechtfertigung der Studienleistungen vor der Versammlung. R. und ich machten uns häufig über die kuriosen Regeln lustig, ohne wirklich zu rebellieren, man gewöhnt sich erstaunlich schnell an neue Gegebenheiten, egal wie merkwürdig sie einem anfangs erscheinen.

Kurz vor Heiligabend stand der Winterball an, bei dem auch ehemalige Bewohner, Alte Herren genannt, und, im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen, Damen anwesend sein würden. Gemeinsam wurde das Haus geputzt und dekoriert, bis niemand mehr vermutet hätte, dass kurz zuvor noch verschimmelter Salat in verschiedenen Ecken der Küche zu finden gewesen war, und auch die hartnäckigsten Schlafanzug- und Jogginghosenenthusiasten hatten ihre Anzüge hervorgeholt. Zur Huldigung der anwesenden Damen musste eine Damenrede gehalten werden – diese Ehre wurde mir zuteil. Mit zitternder Stimme trug ich die 5-minütige Ansprache vor und verhaspelte mich dabei mehrmals. Tosender Applaus. Die Alten Herren waren sehr interessiert am Neuzugang der Verbindung – schließlich zahlten sie nach wie vor monatliche Beiträge, die für Nebenkosten, Planung von Events oder auch Fortbildungen der jüngeren Mitglieder verwendet wurden. Ich musste an die Mitgliedschaft in einer Sekte denken, durch Schuld gezwungen, Mitglied zu bleiben. Andererseits gefiel mir das Konzept, im Studium unterstützt zu werden und später selbst die nächsten Generationen von Studenten zu subventionieren. Teil des Winterballs war traditionell auch eine Fuxenmimik – eine Aufführung der Füxe, für die ihnen die Alten Herren Geld spendeten. Dieses sollte daraufhin für gemeinschaftsstärkende Aktivitäten verwendet werden. Nach reiflicher Überlegung gingen wir ins Kasino und setzten den gesamten Inhalt der Fuxenkasse am Roulette-Tisch auf Rot.

Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Verbindung wurden mittels Bierduell geregelt. Dies lief in der Regel nach folgendem Schema ab:

A beleidigt B

B: hängt!

A: schärf auf!

B füllte zwei Krüge mit Bier, und es wird um die Wette getrunken.

Ich war kein besonders begeisterter, aber wie sich herausstellte sehr begabter Biertrinker. Eines der wenigen Vorurteile über Studentenverbindungen, die zutreffen, ist der Bierkonsum.

R. und ich waren die die einzigen Luftis im Haus, und als wir für die ersten Klausuren lernten, stellte sich heraus, dass einige höhere Semester noch für dieselben Klausuren lernten wie wir. Die Verpflichtungen innerhalb der Landsmannschaft nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass darunter entweder das Privatleben oder die Uni leiden musste. Wir beschlossen beide, dass es an der Zeit sei, uns Zimmer im Studentenwohnheim zu suchen. Schlechtes Gewissen, schließlich hatten wir hier einige Unterstützung erfahren. Andererseits hatten wir sehr viel Zeit mit Aktivitäten verbracht, die uns beiden fremd waren. Leichtes Bedauern, dass wir die meisten Bewohner nicht wiedersehen würden. Wir kündigen bei der Versammlung an, dass wir austreten wollen und warum. Der Vorsitzende verlangt von uns, unsere Bänder auszuhändigen und die Versammlung zu verlassen. „Schade – als ihr zu uns gekommen seid dachte ich, ihr wärt anders“, murmelt S. zum Abschied.


Henri

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