Born to be wild – Gewalt(tät)ige Aus-Zeit auf dem Land

Pierre de Cabissole erzählt vom Leben und Sterben der bemitleidenswerten Christusfigur aus der Jauchegrube

Veröffentlicht am
29.1.2025
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Feste sind Aus-Zeiten, sie gestatten für ein klar begrenztes Intervall den – in der Regel – folgenlosen Ausbruch aus der sozialen Ordnung. Jede Kultur kennt diese kalendarisch verbürgten Sonderzeiten, die die Übertritte der Alltagsordnung erlauben, gar erfordern. In der westlichen Kulturgeschichte denken wir als erstes an den Karneval. Lange Zeit wurde über die Ursprünge in verschiedenen Forschungsdisziplinen debattiert. Er wurzelt wohl im antiken Dionysos-Kult, hat sich aber erst im Mittelalter im Rahmen des christlichen Kalenders zu einem eigenständigen, vom Volk getragenen Fest entwickelt. Für wenige Tage im Jahr wird in aller Öffentlichkeit die Inversion der sozialen Hierarchien zelebriert. Die Machtlosen aus den niederen Schichten beanspruchen die Herrschaft. Die Verkehrung der Sozialordnung vollzieht sich unter anderem durch die Ridikülisierung der Mächtigen. Sie findet bis heute unter dem Deckmantel der Anonymität von Masken und Verkleidungen statt. Aber gerade dadurch, dass die legitime Überschreitung nicht von Dauer ist, trägt der Karneval wiederum dazu bei, die hierarchisierte Gesellschaftsordnung zu zementieren. Zumindest lässt sich darin die soziale Funktion des Karnevals erblicken. Nichtsdestotrotz besteht immer die Gefahr, dass die festliche Inversion in eine Subversion umschlägt: Was also, wenn sich der Exzess verselbstständigt, völlig entgrenzt wird?

Diese Fragen stellt sich der französische Autor Pierre de Cabissole in seinem Debütroman Le Carnaval sauvage, der 2024 bei Grasset erschienen ist. In den Fokus rückt der in Marseille lebende Schriftsteller eine besondere Karnevalsform aus Südfrankreich, die sich aus einer fast 700-jährigen Tradition speist: Im kleinen Ort Cournonterral, im malerischen Hérault gelegen, findet alljährlich an Aschermittwoch die Fête des Pailhasses statt. Dabei handelt es sich um ein Ritual, das das ganze Dorf ergreift: Weiß kostümierte und maskierte Bewohner werden von den Pailhasses gejagt, gefangen genommen und anschließend in einem Trog ‚gebadet‘, der mit einer Mischung aus Weinstein und Tierkot gefüllt ist. Nach drei Stunden ist die unappetitliche Sause vorbei und damit der ‚wilde Karneval‘ beendet. Fortan geht alles wieder seinen gewohnten Gang.

Wer sich bei der Schilderung der Fête des Pailhasses übrigens an Agnès Vardas Sans toit, ni loi aus dem Jahre 1985 erinnert fühlt, liegt genau richtig. In diesem Film gerät die trampende Protagonistin ohne Zeitgefühl mitten in diese Feierlichkeit am Aschermittwoch hinein. Auf der Flucht vor den kostümierten Jägern stirbt sie schließlich – vor Erschöpfung. Von dieser Episode lässt sich Cabissole in seinem Roman inspirieren. Allerdings nimmt er sich in seiner Anverwandlung des entfesselten Karnevals künstlerische Freiheiten. Diese betreffen vor allem die zeitliche Situierung des Fests, die Charakterzeichnung sowie die Gründe für den (angedeuteten) Tod seiner Protagonistin. So findet die karnevaleske Feierlichkeit in Le Carnaval sauvage nicht mehr mitten im Winter vor der Fastenzeit, sondern nach der Weinlese im Spätsommer statt. Für das Herbsten kehrt die Ich-Erzählerin Maria Gaetano aus Lyon, wo sie seit drei Jahren an der École Normale Supérieure studiert, in ihren Heimatort zurück, um sich, wie sie ihrem überraschten Vater und ihren Freunden erzählt, als Erntehelferin etwas Geld dazuzuverdienen. Wir Leser wissen jedoch von Beginn an, dass der wahre Beweggrund für ihre kurzzeitige Rückkehr darin liegt, ihre Jugendliebe (zurück) zu gewinnen und von einem gemeinsamen Leben in Lyon zu überzeugen. Die Hauptschwierigkeit bei dieser Rettungsaktion ist allerdings, dass die Winzertochter Agnès in festen Händen ist: Sie ist seit mehr als drei Jahren mit Dorian, dem brutalen Dorfproleten liiert. Und richtig: Augenscheinlich ist Dorian ein Mann! Aus dieser heterosexuellen Partnerschaft resultiert ein zweites Problem. Maria weiß nicht, ob der gemeinsam verbrachte romantische Strandabend vor einigen Jahren für Agnès bloß Zeitvertreib oder Ausdruck einer keimenden gleichgeschlechtlichen Liebe gewesen ist, zu der die Teenagerin mit ihren 16 Jahren einfach noch nicht stehen konnte. Während Maria und Agnès also das Geheimnis einer sexuellen Begegnung nach einem spontanen Diskobesuch teilen, verbindet Maria und Dorian eine wechselseitige Abneigung. Diese ist das Resultat eines Badeunfalls, der sich vor einigen Jahren ereignet hat. Bei einer Mutprobe hatte sich Dorian beim Versuch, Marias Felsensprung zu überbieten, an der Schulter verletzt. Weit schwerer wiegt für ihn aber der Gesichtsverlust vor seinem Freundeskreis: Dorian hat sich von einer „Gouinasse“, einer Lesbierin, wie er sie Jahre später verunglimpft, besiegen lassen. Alles andere als begeistert ist er folglich, als sich Maria bei seinem zukünftigen Schwiegervater zur Weinlese meldet. Dieser empfängt sie übrigens mit offenen Armen, hat sie doch ein ausgesprochenes Talent für die Ernte der Trauben. Agnès’ Bruder Miki sieht sich nach Marias Ankunft seinem Lebensglück einen Schritt nähergekommen, denn seit er denken und fühlen kann, ist er in sie verliebt. Dabei hat er noch nichts davon mitbekommen, dass die Studentin aus der Großstadt von einer Partnerschaft mit seiner Schwester träumt…

All jene Konflikte verselbstständigen sich schließlich am karnevalesken Dorfgemeinschaftsabend, der unmittelbar auf den Abschluss der Weinlese folgt. Dieser soll auf den ‚wilden Karneval‘ am nächsten Tag einstimmen. Währenddessen wird enthüllt, dass Maria und Agnès beim zarten Liebesspiel am Fluss beobachtet wurden. Agnès überzeugt Maria davon zu verschwinden, ehe Dorian sie erwischt. Er gilt als Urheber der Offenlegung des Geheimnisses. Und er ist zu mehr imstande als bloß Drohungen auszusprechen, wie die Studentin aus Lyon erkennen muss, als sie atemlos bei ihrem Vater eintrifft. Zum Showdown kommt es am nächsten Tag. Während des ‚wilden Karnevals‘ stehen sich die weiß kostümierte Maria und der ‚Jäger‘ Dorian im Kampf um Agnès gegenüber. Plötzlich löst sich ein Schuss aus der Waffe, die Maria ihrem Vater entwendet, aber wenig später auf der Flucht vor Dorians Freunden verloren hatte, und trifft Maria in den Bauch – man muss kein Anatomiecrack sein, um sich die Folgen eines solchen Bauchschusses auszumalen! Gewiefte Krimileser kann die Enthüllung der Identität des Schützen und dessen Motiv übrigens nicht wirklich überraschen...

À propos Krimi: Le Carnaval sauvage entspricht kompositionell im weitesten Sinn einem Kriminalroman. Der Leser weiß bereits im ersten Kapitel, dass das Buch mit einem Kapitalverbrechen enden wird. Die folgenden fünf Kapitel geben Aufschluss darüber, wie es dazu gekommen ist. In chronologischer Reihenfolge werden die vier Tage vor dem ‚wilden Karneval‘ im Leben Marias beleuchtet. Es werden Figuren eingeführt, Konfliktlinien aufgefächert und damit verbundene Motive für die Tat herausgearbeitet. Dabei legt Cabissole geschickt falsche, aber durchschaubare Spuren, womit er beweist, dass er das Einmaleins des Genres beherrscht.  Den Erkenntnissen aus Kriminalstatistiken entsprechend, entpuppt sich Mord als eine Beziehungstat.

Gelungen an Le Carnaval sauvage ist, dass Cabissole in freier Adaption des südfranzösischen Rituals mit dem Wesen des Karnevals spielt. Es fällt nämlich auf, dass die Inversion der sozialen Hierarchien im ‚wilden Karneval‘ auf den ersten Blick gar nicht vollzogen wird. Vielmehr fungiert das Fest als Vergrößerungsglas für die Funktionsweise des Patriarchats. Der Autor nimmt das Wesen der männlichen Ordnung unter die Lupe und entlarvt sie als Gewaltherrschaft, in der die Frauen stets zu kurz kommen: „Ce n’est rien d’autre que ça, [le carnaval de] Pouyes: des hommes, anonymes sous leur masque et leur accoutrement de bête, qui chassent des femmes, victimes consentantes“ (dt.: „Nichts anderes ist der Karneval in Pouyes: Männer, die unter ihren Masken und Tierkostümen anonym bleiben, jagen Frauen, die willige Opfer sind“). Die jährlich zelebrierte Grenzüberschreitung verdichtet also die Mechanismen der patriarchalischen Gesellschaft. Dies bedeutet allerdings nicht, dass gar keine Inversion vollzogen wird. Sie wird aber auf eine andere Ebene verlagert: Der Sex zwischen Maria und Agnès ist die erste Umkehrung dessen, was aus heteronormativer Sicht dem sozialen Standard entspricht. Zweitens invertiert Maria die Rolle der Frau innerhalb des Patriarchats, indem sie sich das männliche Besitzdenken aneignet und Dorian Agnès abspenstig machen will. Maria begehrt gegen die männliche Herrschaft buchstäblich auf, ihr Kampf gegen Dorian, den Prinzen der Dorfgemeinschaft, ist eine Bedrohung für das Patriarchat. Die Auseinandersetzung zwischen beiden wird damit ein Kampf um die Sozialordnung der Zukunft. Dieses Duell zwischen Mann und Frau hält Maria übrigens für ein Grundgesetz der Geschichte: „Je crois que depuis l’origine il est aussi question de l’homme contre la femme“ (dt.: „Ich glaube, dass es seit dem Ursprung auch um den Kampf zwischen Mann und Frau geht“). Deshalb kann, um mit J.K. Rowling zu sprechen, keiner von beiden leben, während der andere überlebt. Damit die das Patriarchat weiterbestehen kann, muss Maria sterben. Mit dem Kulturphilosophen René Girard ließe sich sagen, dass sie zum Sündenbock gemacht wird. Die Entgrenzung des gestatteten Exzesses kann nur durch die Erscheinung Christi in Person von Maria aufgelöst werden – sie selbst bezeichnet sich als bemitleidenswertes Opferlamm aus der Jauchegrube.

Ganz profan gesprochen ist ihr Tod aber auch deshalb notwendig, weil der Nimbus der Hybris, mit der die Elitestudentin die Lebenswelt ihrer ländlichen Heimat sowie die Lebensentwürfe der Dorfbewohner abwertet, einfach nervig ist. Während die Provinzler mit dem Wein in der Hand, von dem alle viel zu viel trinken, nur auf den Tod warten, findet das wahre Leben in der Stadt statt – quel misérabilisme! Nur sie lebt wirklich! Nicht weniger nervig ist ihre mantraartig wiederholte Mission, die im Dorfsumpf zu ersticken drohende Agnès zu retten. Diese übertriebene Bevormundung lässt Agnès’ eigene Lebensplanung kaum zu Wort kommen. Maria ist als kultivierte Powerfrau nur eine Patriarchin unter veränderten, ja umgekehrten Vorzeichen.

Abschließend steht fest: Pierre de Cabissole ist nach dem 2019 erschienenen autobiographischen Bericht Et vivre encore mit Le carnaval sauvage ein packender Debütroman gelungen, der überwiegend souverän die Verbindung von anthropologischen Tiefenbohrungen des entfesselten Karnevals und einem spannenden Kriminalplot meistert.

 

Pierre de Cabissole: Le carnaval sauvage. Paris: Grasset, 213S.

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