Außenseiter

Ist es verwunderlich, dass ich das Lieblingslied dieses Jungen, dieses Außenseiters, jahrelang nicht hören wollte?

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Mit Liedern verbindet man oft Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle. Man kann tausendmal einen Song anhören, aber dieses eine Mal, dieser eine Moment, in dem etwas Ungewöhnliches dabei passiert, wird uns ins Gedächtnis gebrannt. Das in diesem Moment laufende Lied wird untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden. Und so muss ich immer an diesen einen Jungen denken, wie er in der zehnten Klasse sagte, dieses eine Lied sei sein Lieblingslied. Es ist unwichtig, dass ich dieses bestimmte Lied beinahe tausendmal zuvor gehört hatte, noch immer muss ich jedes Mal an ihn denken, wenn Spotifys Shuffle-Funktion es mir wieder vorsetzt. Dieser eine Junge kam immer mit fettigen Haaren, nach Schweiß riechend, mit abgetragenen Klamotten in die Schule und heute denke ich: Irgendwas muss bei ihm zu Hause nicht in Ordnung gewesen sein. Er war eigentlich immer nett, wie jemand eben ist, der verzweifelt nach Anschluss sucht, aber zusätzlich zu seinem ungepflegten Äußeren hatte er eine ungewöhnlich hohe Stimme und unbehandelte Akne. Diese Dinge zusammengenommen machten ihn zu einem Außenseiter. Heute frage ich mich: Vielleicht wurde er von seinen Eltern vernachlässigt? Aber damals habe ich mich genauso wie alle anderen in der Klasse darüber amüsiert, dass jemand ihm Shampoo zum Wichteln schenkte. Ich denke, das hat mich nicht zu einem schlechten Menschen gemacht, aber ich war ein naives Kind. Gruppenzwang.

Kinder können grausam sein. Das weiß ich selbst am besten. Nachdem ich die zweite Klasse übersprungen hatte, konnte ich lange Zeit keinen Anschluss mehr finden und war ein ähnlicher Außenseiter wie dieser Junge. Es lag nicht daran, dass ich fettige Haare, abgetragene Klamotten und einen starken Schweißgeruch hatte, sondern daran, so glaube ich heute, dass ich einfach ein schwieriges Kind war. Wissbegierig, streberhaft, neunmalklug, stur und mit einer dominanten Persönlichkeit. Das gepaart mit der Tatsache, dass ich ein Jahr jünger als die anderen war. In diesem Alter macht ein Jahr viel aus, und das alles hat dafür gesorgt, dass ich während eines Großteils meiner Schulzeit kaum Freunde hatte. In der 10. Klasse begann sich dies zu ändern. Zum ersten Mal hatte ich immer jemanden, mit dem ich in der Mittagspause in der Mensa essen konnte, was zuvor eine sehr einsame Zeit für mich gewesen war. Die Kinder und Jugendlichen fanden sich in verschiedenen Grüppchen an den vielen Tischen wieder, aber wenn du keine Freunde hast, setzt du dich meist einfach alleine an einen Tisch, um niemanden vor den Kopf zu stoßen oder dir dumme Kommentare anhören zu müssen.

Ist es also verwunderlich, dass ich das Lieblingslied dieses Jungen, dieses Außenseiters, jahrelang nicht hören wollte? Es erscheint vielleicht albern. Ich hatte es doch früher immer gemocht. Ein Lied ist wohl kaum etwas, wofür man ausgegrenzt werden kann, richtig? Und doch hatte ich immer einen bitteren Beigeschmack im Mund, wenn es irgendwo lief oder – Gott bewahre! – es in meiner Playlist auftauchte. Ich hatte so viel Angst, wieder in diese Position des Außenseiters zurückzukehren, dass ich dieses Lied, das mich an meine eigene Ausgrenzung erinnerte, jahrelang mied. Nicht, weil mich jemand komisch deswegen angesehen hätte, nein. Von ganz allein, ohne dass es irgendjemand bemerkt hätte. Heute höre ich es wieder gerne, aber ich muss trotzdem immer daran denken, wie dieser Junge sagte, Mein Lieblingslied ist „Shatter Me“ von Lindsey Stirling, sehe ihn direkt vor meinem inneren Auge. Die Erinnerung daran und an die damit verbundene Zeit wird vielleicht nie ganz verschwinden, aber heute weiß ich es besser. Ich weiß, dass es noch einen Haufen anderer Leute außer diesem Jungen aus der zehnten Klasse und mir gibt, die Shatter Me von Lindsey Stirling gerne hören. Gerade der Musikgeschmack ist doch bei jedem Einzelnen sehr verschieden und mir ist es egal, wenn andere meinen nicht mögen. Egal, ob kitschige Disney-Songs, Openings von uralten Animes, Indie oder Rock Musik, ich höre einfach das, was ich mag.

Laura

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