Die Steine im Leben

Die kindliche Leidenschaft für das Werfen von Steinen begleitete mich auf meinem Lebensweg.

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Als Kind hatte ich eine besondere Leidenschaft für das Steine-Ins-Wasser-Werfen. Es war eine einfache Beschäftigung, die mich faszinierte und mich voller Freude erfüllte. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Momente, in denen ich im Urlaub am Ufer von Seen oder Meeren stand, die Steine fest in meinen Händen gehalten. Mein Vater sagt, meine Augen funkelten vor Vorfreude, immer wenn ich Steine am Ufer suchte, nur um sie mit aller Kraft ins Wasser zu werfen. Es war ein Schauspiel für meine Sinne. Ich beobachtete gebannt, wie der Stein das Wasser durchbrach und kleine Spritzer umherwirbelte. Je nachdem, wie der Stein aufkam, entstanden unterschiedliche Muster aus spritzendem Wasser. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Wellen vom Ursprung des Aufpralls ausbreiteten und das ruhige Wasser in Bewegung versetzten.

Einmal waren wir im Campingurlaub am Meer mit unserem Wohnwagen, so wie wir es eigentlich immer ein oder zwei Mal im Jahr taten, nur dass wir das erste Mal an einem Steinstrand der Nordsee waren. Dort flammte mein Interesse fürs Steinewerfen dermaßen auf, dass ich mich heimlich von meinen Eltern wegschlich, um am Meer Steine zu werfen. Sie haben mich voller Sorgen gesucht und schließlich, wie auf dem Bild festgehalten, am Meer wiederentdeckt: In einem weiß-rot gestreiften T-Shirt, kurzer Hose, meinen Lieblings-Sportschuhen und meiner Kappe – damals, wie heute – rückwärts auf meinem Kopf, war ich voller Begeisterung in mein Spiel vertieft. Urlaub am Meer war für mich ganz normal, und ich dachte, so machten es alle Familien. Dass meine Eltern in ihrer Kindheit nie am Meer waren, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. Erst jetzt wo mir der Begriff der sozialen Reproduktion etwas sagt, habe ich ein Verständnis dafür, das meine Eltern einen sozialen Aufstieg hinter sich haben. Beide stammen aus einfachen Verhältnissen, ihre Väter waren Arbeiter im Bergwerk, ihre Mütter Hausfrauen, da war kein Geld für Sommerurlaub am Meer. Wie meine Eltern es von dort aus durch einen Bildungsaufstieg zur Ärztin und in die Chefetage des Rathauses schafften, kann ich nur schwer nachvollziehen. Für beide scheint das jedoch nichts Erwähnenswertes zu sein.

Auch zu Hause fand ich meine Steine zum Werfen. Die kleine Brücke, die über den meist sanften Fluss in unserem Garten führte, wurde zu meinem Spielplatz. Regelmäßig half ich meinem Vater beim Umgraben des Gartens und sammelte dabei die Steine, die wir in der Erde fanden, in einem Eimer. Wenn der Eimer gut gefüllt war, begab ich mich mit freudigem Herzen zur Brücke und ließ die Steine nacheinander ins Wasser gleiten. Das Platschen und die Wellen, die sich ausbreiteten, erfüllten mich stets mit tiefer Befriedigung. Auch dieses Privileg habe ich als Kind nicht als solches erkannt. Für mich war unser freistehendes Haus mit großem Garten nichts Besonderes. Im Vergleich zu den früheren Wohnverhältnissen meiner Eltern, die beide in Reihenhäusern ohne Garten aufgewachsen sind, ist unser Haus nur eine wahre Villa.

Die kindliche Leidenschaft für das Werfen von Steinen begleitete mich auf meinem Lebensweg. Später, als ich in der Leichtathletik aktiv wurde, war der Ball- und später der Speerwurf meine Lieblingsdisziplin. Die jahrelange Übung im Steinewerfen kam meiner Wurftechnik zugute. Die Steine, die ich einst spielerisch ins Wasser geworfen hatte, wurden zu einem Teil meiner sportlichen Leistung. Ich war stolz darauf, mehrere Jahre in Folge der beste Ballwerfer meiner Altersklasse in meinem Bundesland zu sein. Dass ich diesen Erfolg größtenteils meiner Eltern zu verdanken hatte, wird mir erst retrospektiv klar. Ohne unsere vielen Urlaube an Seen und Meeren, ohne den Fluss in unserem Garten und ohne ihre Geduld, mich jahrelang ins Training zu bringen, hätte ich dieses Hobby wohl nie wirklich für mich entdeckt. Auch wenn es mir nichts bringt, dass ich gut werfen kann, so bin ich meinen Eltern doch sehr dankbar, dass sie sich so bedingungslos bemüht haben, ihren eigenen Aufstieg zu vollziehen, damit unser Lebensstandard mir und meinen Geschwistern so selbstverständlich erschien.

Anonym

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