Habitus, der

Was meinte Bourdieu mit dem Begriff 'Habitus'?

Veröffentlicht am
13.10.23

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1. Definition

Der Habitus ist Bourdieus grundlegender konzeptueller Beitrag zu einer sozialwissenschaftlichen, letztlich anthropologischen Handlungstheorie, die beansprucht, die Rationalität, die Regelmäßigkeit und die Homogenität des Handelns sozialer Akteure in der Gesellschaft, in der sie leben, zu erklären.


2. Erläuterung

Der Habitus ist ein „sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausrichtet  (sic!) ist“ (Bourdieu / Wacquant 42017: 154). Er ist also eine „erworbene Verhaltensdisposition“ (Lenger et al. 2013: 14), bestehend aus „dauerhaften und übertragbaren Systemen der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu / Wacquant 42017: 160), in denen sich inkorporierte, frühere soziale Erfahrungen manifestieren. Der Habitus als das „inkorporierte Soziale“ (Bourdieu / Wacquant 42017: 161) kann unterteilt werden in einen primären und einen sekundären Habitus (vgl. Jurt 2010: 11): Der primäre Habitus wird während der Sozialisation innerhalb der Familie erworben, „deren Dispositionen […] übernommen und im Denken, Reden und Handeln reproduziert [werden]“ (Jurt 2010: 11), der sekundäre Habitus wird während der Sozialisation in der Schule erworben.  

Der Begriff und das Konzept des Habitus sind auf den französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu zurückzuführen, der ihn infolge seines Aufenthalts und seiner Erfahrungen in Algerien (1955-1960) entwickelte. Die Habitus-Theorie will die Praxis in „ihrer unscheinbarsten Form“ (Bourdieu / Wacquant 42017: 153) erklären und versucht auf die Frage zu antworten, wie es dazu kommt, dass Menschen handeln, ohne expliziten Regeln zu folgen. „Der Habitus ist das, was man voraussetzen muß, wenn man erklären will, warum soziale Akte, ohne im eigentlichen Sinne rational zu sein, […] vernünftig sind und nicht verrückt (...).“ (Bourdieu / Wacquant 42017: 163)  

Ein Individuum ist nur unter Berücksichtigung der Gesellschaft zu betrachten, da jeder Mensch im Rahmen seiner Sozialisation einen Habitus erwirbt. Das Wesentliche wird sozial bestimmt, weshalb es veränderlich und ungleich ist. Da der Habitus an das Soziale gebunden ist, bedeutet das, dass der Begriff sehr stark unter verschiedenen Gesichtspunkten variiert. Er „wird im Rahmen von ‚Sozialisationserfahrungen erworben, die von Erziehungs- und Bildungsinstanzen vermittelt werden‘“ (Janning 1991: 39, zit. nach Knoblauch 2003: 6) und ist geprägt durch „gesellschaftliche Positionen, die Angehörige einer sozialen Gruppe innerhalb einer Sozialstruktur einnehmen“ (Lenger et al. 2013: 14). Zusammengefasst bedeutet das, dass die Sozialisation in das individuelle Handeln einfließt. Aus diesem Grund handelt er unbewusst, besitzt ein Gedächtnis. Der Habitus ist zwar dauerhaft, jedoch nicht starr oder unveränderlich (vgl. Jurt 2010: 13); man ändert nicht plötzlich seine Einstellungen oder Werte, wenn man auf neue Praxismuster oder Wissen stößt (vgl. Roslon 2016: o.S.).  

Der Habitus lässt sich als Spiegel der Person beschreiben. Es werden die äußerlichen Aspekte wie Sprache, das äußere Erscheinungsbild sowie der Lebensstil in Betracht gezogen (vgl. Lenger et al.  2013: 14). Der Mensch nimmt durch seine Umwelt und die Gesellschaft viele verschiedene Sinne, Vorlieben, Regeln etc. wahr. Es sind demnach Verhaltensstrategien- und formen sowie die Umgangsweise mit der Umwelt. Die Habitus-Theorie steht im Gegensatz zur ‚Theorie des rationalen Handelns‘ (vgl. Bourdieu / Wacquant 42017: 156): An die Stelle eines Akteurs/ einer Akteurin, dessen/deren Handeln reflektiert und abgewägt ist (‚Theorie des rationalen Handelns‘), tritt die Spontaneität und das instinkthafte Handeln des Habitus.  

Wenn der Habitus in der primären und sekundären Sozialisation ausgebildet wird, stellt sich die Frage, ob Menschen, die unter ähnlichen sozialen Bedingungen aufwachsen, einen gemeinsamen Habitus haben, also ob es so etwas wie einen Klassen-Habitus gibt. In der Tat hat Bourdieu verschiedene Habitus in der Gesellschaft ausgemacht, den Habitus der Bourgeoisie und den der classes populaires. Die Habitus lassen sich anhand des Geschmacks, des gôut, der Bestandteil des Habitus ist, gegenüberstellen: Die Angehörigen der classes populaires haben einen ‚goût de nécessité‘ (das Essen ist fettig, grob zubereitet, schwer verdaulich, nahrhaft), die gehobene Schicht einen ‚goût de luxe‘ (leichte, raffinierte Gerichte) (vgl. Bourdieu 1979: 209). Sie ernähren sich von nahrhaftem Essen, da sie dies bei ihrer körperlich anstrengenden Arbeit benötigen. Die Bourgeoisie hingegen ernährt sich von leichten Gerichten, um sich einerseits von der Arbeiterklasse zu distanzieren, aber andererseits auch, weil kein Bedarf besteht (da sie keine körperlich anstrengenden Arbeiten ausführen muss).  


3. Kritik

In der Sozialwissenschaft wurde das Konzept vor allem dafür kritisiert, dass das Habitus-Konzept zu deterministisch sei. Damit verbunden wird eingewendet, dass Bourdieu nicht genau habe zeigen können, inwieweit sich der Habitus ändern kann (vgl. Bourdieu 42017: 164).    


Quellen  

Bourdieu, Pierre / Wacquant, Loïc J.D. (42017): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main:  

Suhrkamp.  

Bourdieu, Pierre (1979): La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Les éditions de minuit.

Jurt, Joseph (2010): „Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu“. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, 3, 5-17.  

Knoblauch, Hubert (2003): „Habitus und Habitualisierung: zur Komplementarität von Bourdieu mit dem Sozialkonstruktivismus“. In: Rehbein, Boike / Saalmann, Gernot / Schwengel, Herrmann (eds.): Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen: Probleme und Perspektiven. Konstanz: UVK, 187-201.  

Lenger, Alexander / Schneickert, Christian / Schumacher, Florian (2013): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Wiesbaden: Springer.

Roslon, Michael (2016): Der Spielbegriff als Feinjustierung des Habituskonzepts bei Bourdieu. URL: https://soziologieblog.hypotheses.org/9781 (letzter Zugriff: 14.03.2023)  

Dies ist ein Beitrag von Teresa Czerni de Rojas und Helena Hafner.

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