Pünktlich zu den beiden Proustjahren – dem 150. Geburtstag im Jahr 2021 und dem 100-jährigen Jahrestages seines Ablebens – lag es nahe, im Wintersemester eine Reihe von Masterstudierenden kurz vor ihrem Abschluss in des Werk des großen Franzosen einzuführen. Auf der Basis des ersten Bandes von A la recherche du temps perdu haben wir uns Woche für Woche gemeinsam durch das teils düstere Dickicht von Prousts monumentaler Syntax vorgearbeitet. Es war – insbesondere für die Studierenden – ein anstrengendes, aber auch intensives Semester. Im Folgenden schildern die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Seminars ihre ureigenen Lektüreerfahrungen.
Wer lesen kann, ist klar ein Künstler von Moritz Heß
Ich bin also ein Künstler. Weil ich lesen kann. Danke für die Blumen, Marcel. Aber ganz so leicht machst du es mir dann doch nicht, Herr der verschachtelten Sätze. Man muss sich seinen Schöpferstatus ja schließlich verdienen.
Juli 2021: Bei meiner Lieblingsbuchhandlung bestelle ich die vor vier Jahren neu erschienene deutsche Übersetzung des proustschen Monumentalwerkes À la recherche du temps perdu – bereits in Vorfreude auf das Seminar im Wintersemester, das zeitlich oder jedenfalls gedanklich noch in weiter Ferne liegt. Die Nachfrage sei hoch, es könne eine Weile dauern. Kein Problem, sage ich im Scherz: Das hat Zeit bis Oktober.Oktober 2021: Bei meiner Lieblingsbuchhandlung ist die vor vier Jahren und einigen Monaten erschiene Neuübersetzung der Recherche eingetroffen. Es hat also tatsächlich eine sogenannte Weile gedauert. Drei Bände in pastellfarbenen Papiereinschlägen, diese wiederum in schickem Schuber, erstanden für viele, viele Euros als Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Gut, mein Geburtstag war im Juli. Aber Proust-Jubiläum ist schließlich das ganze Jahr. Und da kann man sich schon auch mal was gönnen. Außerdem werde ich zur Entstehung – oder zumindest Wiederentstehung – des Romans bis zum Semesterende einiges beigetragen haben. Da kann man sich schon auch mal belohnen. Sozusagen prophylaktisch.
Schon die ersten Sätze sorgen dafür, dass ich das Buch so schnell nicht wieder aus der Hand legen will. Wie könnte ich auch: ich bin längst eingeschlafen. Stimmt nicht. Klingt aber lustig. Also nochmal.
Schon die ersten Sätze sorgen dafür, dass ich das Buch so schnell nicht wieder aus der Hand legen will. Wie könnte ich auch: der Schinken ist so schwer, dass mein rechter Arm längst eingeschlafen ist. Stimmt auch nicht. Oder jedenfalls nicht ganz. Klingt aber auch irgendwie lustig. Ein letztes Mal – versprochen!
Schon die ersten Sätze geben mir das Gefühl, dass da jemand schreibt, der das Schreiben liebt, der die Sprache und allem voran die Literatur liebt. Ich bin berührt und weiß noch nicht so recht, wovon. Dieses Gefühl ist es, was Bücher für mich lesenswert macht. Proust selbst hat es sehr viel besser beschrieben, als ich es hier könnte. Wie er so vieles so viel besser beschrieben hat, als ich es je könnte – auch das eine Qualität, die Bücher für mich lesenswert macht. Immer wieder fühle ich mich von Proust (oder Marcel?) so verstanden, wie mich nur selten jemand versteht. Vielleicht weil ich ihn so verstehe, wie nur ich ihn verstehen kann. So war die Auseinandersetzung mit diesem scheinbar frei herbeiassoziierten und dabei so brillant konstruierten Text vor allem eine Auseinandersetzung mit mir selbst.
Besonders naheliegend ist da sicher die Erfahrung des unwillkürlichen Sich Erinnerns, oder vielmehr einer Erinnerung, die sich ereignet; oft ohne, dass wir wüssten, woher sie kommt und warum gerade jetzt. Meine persönliche Madeleine-Episode ist mir gleich mehrfach widerfahren, bis ich mir endlich erklären konnte, was es mit ihr auf sich hat. Ein ganz bestimmter, seltsam vertrauter Geruch, im Vorbeigehen aufgeschnappt, ein Parfüm… Und ganz plötzlich ist da dieses Gefühl, ebenso vertraut, ebenfalls ohne, dass ich es näher bestimmen könnte. Da sind keine Bilder, keine Orte, keine Worte – nichts. Nur dieser vage Zustand, in den ich dieser Geruch versetzt – oder: zurückversetzt? Einige Male wiederholt sich dieses Ereignis. Mit jeder Wiederholung kommt ein Aspekt hinzu, über Jahre hinweg zeichnen sich Schemen ab, Umrisse eines Raumes, Umrisse von Personen, bis ich mich schließlich als Grundschüler in meinem Klassenzimmer wiederfinde – es muss das Parfüm meiner Grundschullehrerin gewesen sein! Das erklärt auch den Gefühlszustand, der zunächst ungreifbar in mir herumwabernd sich einstellt, immer wenn mir dieser Duft in die Nase steigt: So hat sich meine Grundschulzeit angefühlt. Das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, durchmischt mit Aufregung, dem Gefühl von etwas Neuem, Besonderem. Widersprüche, die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen – für unser inneres Erleben ganz normal; in der Sprache verlangen sie meistens nach einer Erklärung.
Ebenso wie das Phänomen der Erinnerung fasziniert mich die Rätselhaftigkeit des Ursprungs, der Entstehung und der Objekte unseres Verlangens, unserer Wünsche und unserer Liebe. Proust zufolge ist unsere Einsicht in all das vielfachen Fälschungen durch Erinnerung und Suggestion unterworfen.
Besonders überrascht war ich allerdings, etwas wiederzuerkennen, das Proust als eine besondere Art der „Betrübtheit“ beschreibt: „jene Betrübtheit, die [der] Befriedigung folgt, […] etwas zu erreichen […], was mir jetzt, da ich es erreicht hatte, als etwas Geringes erschien“ (Proust 2017b: 272).
Doch bin ich nicht nur mir selbst, sondern auch Bekannten aus allen Bereichen dessen, was Proust das geistige Leben nennt, während des Lesens begegnet: Da sind zum Beispiel Pierre Bourdieu (Klasse, Habitus, Geschmack, Kapital und Distinktion) und Erving Goffman („Wir alle spielen Theater!“); da sind Baudelaire, Verlaine, ein bisschen Rilke und eine Menge Robert Musil. Und dann sind da noch Freud – natürlich! – und eine ganze Horde anderer Vertreter:innen der Psychoanalyse und psychoanalytischen Pädagogik, der Biographieforschung und Erinnerungstheorie. Ein Beispiel:
„Wir wissen heute, daß das Gehirn nicht wirklich ‚Erinnerungen abspeichert‘ […]. Es speichert vielmehr Informationsspuren, die später dazu benutzt werden, Erinnerungen zu erzeugen. […] Das Gedächtnis ist dynamisch, seine Inhalte unterliegen der Veränderung infolge innerer und äußerer Anforderungen“ (Fonagy/Target/Allison 2003: 849-851).
Erinnerung als Konstruktion – im Jahre 2003 von Fonagy und Kolleginnen beschrieben und so oder so ähnlich ein knappes Jahrhundert zuvor bei Proust nachzulesen (vgl. Proust 2017a: 532). Noch ein Beispiel:
„Die Doppelnatur der Sprache als diskursives Symbolsystem mit der Möglichkeit zur präsentativen Symbolkonstellation bietet […] eine großartige Schwellensituation. Im szenischen Verstehen werden die Abkömmlinge des Unbewussten […] aus den Bildern heraus in den sprachlich diskursiven Zusammenhang der sprachlichen Zeichenordnung überführt. Die Bilder werden damit beim ‚Namen‘ genannt“ (Lorenzer 2002: 77; zit. n. Würker 2007: 40).
Bei Marcel Proust klingt das so:
„Ein Werk, das Theorien enthält, ist wie ein Gegenstand, an dem noch das Preisschild hängt. (Überhaupt zeigt dieses einen nur negativen Wert; in der Literatur wird der Wert durch Argumentieren gemindert.) Man argumentiert, das heißt man redet um die Dinge herum, wann immer man nicht die Kraft hat, sich zu zwingen, einen Gefühlseindruck alle aufeinanderfolgende[n] Zustände durchlaufen zu lassen, die schließlich zu seiner Fixierung, zum Ausdruck, führen. Die Wirklichkeit, die es auszudrücken galt, hatte ihren Sitz - das ist mir jetzt klar - nicht in dem äußeren Aspekt des Objekts, sondern in einer Tiefe, in der dieser äußere Aspekt wenig Bedeutung hatte; symbolisch dafür waren das Geräusch des Löffels auf einem Teller und die von Stärke beschwerte Steifheit der Serviette […]“ (vgl. Proust 2017b: 281f.).
Kunst und Literatur als Symbolisierungen des Nicht-Denkbaren und Unsagbaren, Künstlerin und Autor als Vermittler zwischen Bewusstem und Unbewusstem Wer hat’s erfunden? Ein letztes Beispiel:
In Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung schreibt Siegried Bernfeld im Jahr 1925: „So steht der Erzieher vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem verdrängten in ihm“ (Bernfeld 1967: 140f.). In Le temps retrouvé schreibt Marcel Proust bereits einige Jahre zuvor:
„Im ersten Moment hatte ich mich zornig gefragt, wer der Fremde sei, der mir da ein Leid zufügte. Dieser Fremde war ich selbst oder vielmehr das Kind, das ich damals gewesen und das durch dieses Buch in mir wiedererstanden war, denn da es von mir nichts kannte als dieses Kind, hatte das Buch auf der Stelle das Kind herbeigerufen, es wollte nur von seinen Augen angeschaut, nur von seinem Herzen geliebt werden und zu ihm allein sprechen“ (Proust 2017b: 284).
Ein allerletztes Beispiel – eines meiner Lieblings-Proust-Zitate bisher: „Das Gefühl nämlich diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, sich ihr zu entziehen“ (ebd.: 277). Ruth Cohn formuliert in den 1960er Jahren einen ihrer Leitsätze ganz ähnlich: „Passionate involvements take precedence“ – Leidenschaftliche Verwicklungen nehmen sich Vorrang. Etwas mehr Gewicht wird dem Verstand bei Luc Ciompi zuteil, wenn er sagt: „Wir sind nie nur Denk-Menschen, sondern immer auch Fühl-Menschen“.
Bisher schien es vermutlich so, als sei die Recherche für mich das reinste Lesevergnügen gewesen. Nicht immer. Es gab Momente, in denen ich mich geärgert habe über Proust, seine meterlangen Sätze und – Achtung: Wortwitz – seine blumige Sprache. Es gab Momente, da war ich sehr dankbar für die deutsche Übersetzung. Kafka sagt, ein Buch müsse die Axt sein, für das gefrorene Meer in uns. Mit einer Axt könnte man den vielleicht bedeutendsten Klopper des einundzwanzigsten Jahrhunderts prima in verdauliche Häppchen zerteilen. Oder man lässt ihn am Stück und benutzt ihn, um das gefrorene Schnitzel in uns flach zu klopfen. Ich hab ihn mal gewogen, den wahrscheinlich wichtigsten auf Papier gedruckten Roman des Jahrtausends: tausend sechshundert dreiunddreißig Gramm. Wäre er aus Bronze, könnte man damit gerade einmal einen Gegenwert von derzeit einundzwanzig Euro siebzig erzielen. Wäre er aus Glaswolle, könnte man wahrscheinlich kaum noch darin blättern. Wäre er aus Kalkzement, könnte man ihn nicht einmal verbrennen.
Was sagt uns das über die wahrscheinlich längste Praline der Weltliteratur? Nichts. Aber die Vorstellung unterhält mich. Und unterhaltend fand ich auch die Suche nach der verlorenen Zeit. Zugegeben – nicht die beste Pointe. Besser wird’s auch nicht mehr. Besser, ich mach hier Schluss. Aber nicht mit Proust! Denn, auch wenn’s bis zur Rente dauert, die Recherche lese ich noch zu Ende.
Literaturangaben
Bernfeld, Siegfried (1967): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fonagy, Peter/Target, Mary/Allison, Liz (2003): Gedächtnis und therapeutische Wirkung. In: Psyche 57/2003, S. 841-856.
Proust, Marcel (2017a): Auf dem Weg zu Swann. In: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Band 1. Frankfurt: Suhrkamp.
Proust, Marcel (2017b): Die wiedergefundene Zeit. In: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Band 3. Frankfurt: Suhrkamp.
Würker, Achim (2007): Lehrerbildung und Szenisches Verstehen. Professionalisierung durch psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion. Hohengehren: Schneider Verlag.
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Des chansons françaises comme, par exemple, « Non, je ne regrette rien » d’Edith Piaf ou « Les Champs-Elysées » de Joe Dassin sont connues bien au-delà des frontières françaises : La popularité mondiale des chansons françaises – appartenant sans doute au patrimoine culturel de la France – montre qu’elles sont bien plus qu’un simple divertissement ! Dans le cadre de notre séminaire, nous sommes partis en quête de l’histoire et des caractéristiques des chansons françaises. Nous sommes également intéressés aux développement de ce genre jusqu’à nos jours tel qu’est est perceptive dans le rap et la musique électronique francophones.
Lesen Sie hier den Exkursionsbericht von Louisa Ewen und Kerstin Woll. Die Fotos steuerte Chiara Schmitt bei.