Die Vermutung, dass dem Intellektuellen-Trio Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie im deutschsprachigen Raum deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit und öffentliches Wohlwollen entgegengebracht werden als in ihrem Heimatland, wurde in den letzten Wochen mehrfach bestätigt. Vom 30. Oktober bis zum 3. November fanden an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen die Vorlesungen der 36. Tübinger Poetik-Dozentur statt. Die von der Stiftung Würth geförderte Veranstaltung stand in diesem Jahr unter dem Motto der Klassenliteratur, waren doch die beiden eingeladenen Gäste der deutsche Schriftsteller Christian Baron, dem 2021 mit seiner viel beachteten Autobiografie Ein Mann seiner Klasse der Durchbruch gelungen ist, und Édouard Louis, der ebenfalls in zahlreichen Werken über seine Herkunft aus prekären Verhältnissen geschrieben hat. Nur drei Wochen später fand im Haus der Berliner Festspiele anlässlich der deutschen Buchpremiere von Geoffroy de Lagasneries Freundschaftsbuch 3 – Ein Leben außerhalb ein Treffen mit allen drei Beteiligten statt, moderiert von der gefeierten Ernaux-Übersetzerin Sonja Finck. Beide Veranstaltungen fanden vor überfüllten Zuschauerrängen statt, die Abende der Poetikdozentur wurden sogar via YouTube live gestreamt. Wir waren bei allen Events dabei – hier unsere Eindrücke.
Das Private ist politisch, doch bitte keine Fragen
Nachdem Christian Baron die Woche der 36. Poetikdozentur mit nicht weniger als einer Lesung, zwei Poetik-Vorlesungen und einem Gespräch mit dem Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt fulminant eröffnet hatte, bestritt Édouard Louis die beiden verbleibenden Abende mit zwei Vorträgen zu den Themen „Body“ und „Mind“. Man muss sagen, dass die Messlatte nach Barons Auftritten hoch lag, da der in Berlin lebende Schriftsteller mit Pfälzer Wurzeln sich mit seinem offenherzigen und einnehmenden Auftreten, aber auch mit seiner politisch eindeutigen Positionierung die Herzen des Publikums erobert hatte. Die oft schmerzvollen Erinnerungen an seine Kindheit wurden ungefiltert ausgebreitet, ebenso wie die eigene literarische Sozialisation zum Schriftsteller, die sich im Schatten so unterschiedlicher Kronzeugen wie Michel Houellebecq, Stephen King und Annie Ernaux vollzogen hat. Hier konnte man einem erfolgreichen Jungschriftsteller beim Nachdenken, Sich-Erinnern und Erzählen zuhören, der seine Herkunft zwar größtenteils hinter sich gelassen hat, jedoch ohne mit ihr zu brechen, sie gar zu verraten oder literarisch auszubeuten. Für viele Anwesende im Publikum dürften all diese Einblicke in eine fremde Welt voller Entbehrungen, Demütigungen und Hürden neu gewesen sein, was sich an manchen Fragen nach den Vorträgen ablesen ließ, die Baron mit größtmöglicher Empathie beantwortete. Unterstützt wurden diese rundum positiven Eindrücke durch die souverän-sympathische Moderation der Tübinger Germanistin Dorothee Kimmich.
Am Donnerstagabend stand dann mit Édouard Louis der zweite Ehrengast auf der Bühne. Schon auf den allerersten Blick hätte der Unterschied kaum größer sein können. Auch Baron hatte man zu Beginn seine Nervosität anmerken können, aber er machte sie im Laufe seiner Ausführungen vor allem mit Humor und Selbstironie wett. Louis steht zunächst sehr schüchtern und stumm am Podium und bittet um ein Glas Wasser, erklärt sodann, dass er die Reihenfolge seiner beiden Vorträge geändert habe und den heutigen Abend dem Körper widmen werde. Louis redet auf Englisch, und es lässt sich erahnen, dass die Sprachbarriere einer der Gründe für die deutlich wahrnehmbare Nervosität sein dürfte. Mit leicht zitternder Stimme eröffnet er seine Vorlesung mit der schrecklichen Nachricht, dass sein älterer Halbbruder vor kurzem im Alter von 38 Jahren an den Folgen von Alkoholmissbrauch gestorben sei, er aber deshalb nicht trauere, da er ihn sein Leben lang gehasst habe. Man kennt diesen Bruder vor allem aus Louis’ Debüt En finir avec Eddy Bellegueule (2014, dt.: Das Ende von Eddy, 2015) und weiß daher um das schwierige Zusammenleben der beiden Geschwister, das von Homophobie, körperlicher Gewalt und ständiger Angst geprägt war. Man weiß, dass der Bruder seine Freundinnen verprügelt und sogar die Hand gegen den Vater erhoben hat. Insofern wirkt das Geständnis des Nicht-Trauerns durchaus nachvollziehbar, aber es stimmt auch unendlich traurig. Damit ist gleichzeitig die Stimmung für den Rest des Abends gesetzt: Es wird ganz sicher kein Wohlfühl-Event. Im Folgenden verfährt Louis mit der Figur seines Bruders ähnlich, wie er es schon in seinem 2018 erschienen Essay Qui a tué mon père (dt.: Wer hat meinen Vater umgebracht, 2019) mit seinem Vater getan hat: Er objektiviert ihn und versucht zu ergründen, warum sein Bruder so geworden ist, wie er war. Die Rede ist von geplatzten Träumen, von politischen Hindernissen, von mangelnder Bildung. Ohne dass er es explizit erwähnt, scheint dieser Vortrag so etwas wie die Vorarbeit zu Louis’ nächstem literarischen Projekt gewesen zu sein. Im Publikum hätte man während der rund einstündigen Lesung eine Stecknadel fallen hören – möglicherweise verzichtet die Moderatorin aufgrund der kollektiven Ergriffenheit an diesem Abend auf Fragen aus dem Plenum.
Am Freitagabend steht dann mit „Mind“ der Intellekt im Mittelpunkt. Louis referiert in diesem Zusammenhang seine Vorstellung davon, wie Literatur auszusehen habe und kommt damit dem Konzept der „Poetik“-Vorlesung besonders nahe. Literatur solle unbequem sein, sich politisch engagiert geben. Man kennt einiges von diesen Ausführungen bereits aus dem Essay L’art impossible (2020, dt.: Die unmögliche Kunst, 2022) seines besten Freundes Geoffroy de Lagasnerie, in dem bereits die apodiktische Forderung aufgestellt wurde, dass Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen immer politisch sein müsse und am besten auf sämtlichen literarischen Stil verzichten solle: Intervention statt Ornament, Fakten statt Imagination, Einmischen statt Unterhalten – so die Auffassung des radikallinken Sozialphilosophen, die manchem Literaturwissenschaftler und Literaturliebhaber ein Dorn im Auge sein dürfte. Der Schriftsteller Louis geht etwas behutsamer vor. Er arbeitet sich vielmehr an der von ihm beobachteten Forderung seitens der ehrwürdigen Literaturkritik ab, gute Literatur dürfe nicht sentimental oder von Emotionen getrieben sein. In diesem Verständnis von ‚guter‘ Literatur sieht Louis ein Urteil der herrschenden (bourgeoisen) Klasse mit dem Ziel, den Geschmack der beherrschten Klassen als minderwertig abzuqualifizieren. Er selbst jedoch, und davon zeugen auch die meisten seiner Texte, nutzt starke Emotionen wie Wut, Verzweiflung und Zuneigung, um seine politisch engagierten Erzählungen zu framen. Louis geht auch en passant auf andere Diskriminierungsformen ein und nennt Intersektionalität als probates Analyseraster, das auch sein literarisches Schaffen bestimmt.
Man hätte sich nach diesem durchaus kontroversen Beitrag zu den Aufgaben von Literatur eine lebhafte Diskussion gewünscht. Dies umso mehr, als Louis und seine beiden Freunde sich immer wieder selbst in öffentliche Debatten einmischen. Man hätte sich vielleicht aufgrund seines selbst reklamierten Intellektuellenstatus in der Tradition von Pierre Bourdieu ein paar Aussagen zur aktuellen politischen Weltlage gewünscht – zumal sein Freund Lagasnerie erst kürzlich auf seinem Instagram-Kanal mit Bezug auf einen Text von Judith Butler von den „pratiques d’ordre genocidaires à Gaza“ räsonierte. Aber auch am Freitagabend wurden keine Fragen zugelassen. Natürlich ist eine Poetik-Dozentur in erster Linie eine Veranstaltung, in der es im Kern um die Liebe zur und das Lesen von Literatur geht. Aber die Tatsache, dass sich ein Schriftsteller, der sich selbst stets als dezidiert politisch und diskussionsfreudig inszeniert, den Fragen eines sicherlich interessierten Publikums verweigert, lässt dann doch einen leicht bitteren Beigeschmack zurück. Dazu passt auch, dass die Livestreams zu den Baron-Veranstaltungen immer noch auf YouTube einsehbar sind – nach denen von Louis sucht man jedoch vergebens. Man darf davon ausgehen, dass diese Entscheidung nicht auf das engagierte Organisationsteam der Poetik-Dozentur zurückgeht.
Die Dissidenten der heteronormativen Ordnung unter sich
Als sich das vollständige Trio drei Wochen später zu einem neuerlichen Besuch in Deutschland, nun im Haus der Berliner Festspiele, ankündigt, sind ein ausverkauftes Haus, ein in die Höhe schnellender Absatz der deutschen Übersetzungen ihrer Werke sowie intensive Signierstunden garantiert. So geschehen am 14. November anlässlich der Vorstellung der deutschen Übersetzung des neuesten Werks 3 : une aspiration au dehors (dt. 3 – Ein Leben außerhalb) von Geoffroy de Lagasnerie. Mit dieser Veranstaltung hat das Internationale Berliner Literaturfestival sein diesjähriges Ende gefunden.
Dafür haben sich die Organisatoren in enger Zusammenarbeit mit dem Fischer-Verlag ein abendfüllendes Programm überlegt. Zunächst beleuchten Lagasnerie, Louis und Eribon ihre gelebte Männerfreundschaft in Einzelgesprächen mit Sonja Finck, bevor eine gemeinsame Diskussion den Abend abrundet. Was hatten die ,3‘ zu erzählen?
Den Interviewreigen eröffnet zunächst, wenig überraschend, Lagasnerie, der Theoretiker des Männerbundes – immerhin war sein Buch ja der Anlass der Veranstaltung. Er gibt Auskunft über die Entstehung und die Zielsetzung seines Essays über die Freundschaft. Ihm sei es in erster Linie darum gegangen, den Zusammenhang von Lebensformen und Politik anders zu denken, als es die bestehende heteronormative Sozialordnung in Frankreich tut. Lagasnerie geht von der nachvollziehbaren Annahme aus, dass die menschlichen Formen des Zusammenlebens politische Tatsachen seien. Nun sei die Familie das staatlich privilegierte und subventionierte Konstrukt des sozialen Zusammenlebens. Diese Beobachtung stützt Lagasnerie im Interview auf dreifache Weise: Mit Bezug auf den Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie zeigt er auf, wie die sozialen Bindungen außerhalb der Familie im Zuge der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen von politischer Seite „geopfert“ wurden. Weiterhin verweist er anhand der Bedeutung bestimmter Feiertage auf die Dominanz des heteronormativen Lebensmodells der Familie: Die Aussage, Weihnachten nicht mit der Familie zu verbringen, erfordere auch heutzutage noch eine gute Rechtfertigung. Schließlich spricht er von Menschen, die besonders innige Freundschaften in familiärer Logik denken: Du bist wie ein Bruder oder eine Schwester für mich!
Gegen eine solche, auf heteronormativen Familienstrukturen fußende Gesellschaftsordnung schreibt der Sozialphilosoph Lagasnerie an. Er theoretisiert dieses Außerhalb der heteronormativen Ordnung in der Lebensform der Freundschaft. Entsprechend bemüht ist er, seine Soziologie der Freundschaft als Angebot einer Gegenkultur zu denken. Dazu bezieht er sich insbesondere auf Derridas Essay Politique de l’amitié, in dem dieser eine enge Verbindung zwischen der Staatsform der Tyrannei und der Familie gezogen hat. Dem gegenüber stehe die Freundschaft als demokratische Lebensform. Allerdings bleibt er dabei etwas im Vagen, denn es wäre doch interessant zu erfahren, was Freundschaft staatspolitisch leisten kann und ob sich die Demokratiekrise tatsächlich nur durch die Abschaffung von Ehe und Familie lösen ließe.
À propos: Im Interview mit Geoffroy de Lagasnerie stellt Sonja Finck kluge und kritische Rückfragen, etwa, ob sein Freundschaftsmodell nicht bereits prominente Vorläufer in der französischen Geschichte habe. Oder ob sein Ansatz, Familienbeziehungen – in Umkehrung des Status quo – nach dem Modell der Freundschaft zu konzipieren, nicht in Kontrast zu seiner eigenen Liebesbeziehung zu Eribon stehe. Und schließlich, ob es nicht bereits Alternativen zum heteronormativen Lebensmodell gebe, die ebenfalls am Modell der Freundschaft Maß nehmen – so verliert Lagasnerie beispielsweise kein Wort über Patchwork-Modelle oder gemeinschaftliche Wohnprojekte. Seine Antworten sind vielsagend: Die letzte Frage bügelt er lapidar damit ab, alternative Lebensmodelle, die auf Paarbeziehungen fußen, seien genauso alternativ wie grüner Kapitalismus. Hinsichtlich der zweiten Frage macht er deutlich, dass seine Beziehung zu Eribon aufgrund dessen, dass sie nicht zusammenleben, bereits dem Ideal der Freundschaft nahekomme, gerade weil sie nicht um den Kern des „foyer familial“ zentriert sei. Die erste Frage bleibt unbeantwortet: Ihn interessiere nur das politische ‚Jetzt‘. Abschließend geht es um die Frage, was Freundschaft vermag: Freundschaft wird gedacht als Modell, das den Institutionen widerstehe, das intellektuelle Autonomie und damit freieres Denken und Publizieren erlaube und so letztendlich als Grundbedingung für Kreativität und damit der Kunst aufzufassen sei. Im Gedächtnis bleibt der Schlusssatz: „Il faut être ami pour écrire ce livre“.
Es folgt das Interview mit Édouard Louis. Sonja Finck bittet ihn zunächst, von den Ursprüngen seiner Freundschaft zu Eribon und Lagasnerie erzählen, was Louis bereitwillig tut. Er referiert im Grunde das, was die Leser schon in Louis’ letztem Werk Changer : méthode (2021) erfahren konnten. Das Imitieren anderer Persönlichkeitsmodelle habe bei einer Konferenz in Amiens, an der auch Eribon teilgenommen hat, seinen Anfang genommen. Später dann habe er, wie er mit Rekurs auf David Bowie erklärt, erkannt, dass das eigene singuläre Ich eine gescheiterte Imitation sei. Im weiteren Verlauf erläutert Louis, dass ihm die Freundschaft die Emanzipation von seiner Herkunft erlaubt habe, etwas, das seinem älteren, im vergangenen Jahr verstorbenen Halbbruder nicht gelungen sei. Louis fragt schließlich rhetorisch, ob die Freundschaft als Lebensmodus seinen Bruder im Unterschied zu dem, was die Familie getan hat, hätte retten können. Zur gelebten Freundschaft mit Eribon und Louis befragt, gibt er zu erkennen, dass sie Leben und Denken miteinander verbinde. An Lagasnerie anknüpfend, gesteht er, dass ihm Kritik von seinen Freunden wichtiger sei als Wünsche von Verlagslektoren und jegliche literarischen Weihen. Für Lacher sorgt die Erklärung, dass Eribon sogar einige Regeln festgehalten habe, an denen sich ihre Freundschaft ausrichte.
Hieran anknüpfend eröffnet Finck das Gespräch mit Eribon. Er spricht daraufhin von ihrem Freundschaftsschwur in einem kleinen Pariser Lokal, der auf Loyalität, Treue, Kontinuität heruntergebrochen werden kann. Daraufhin geht es um seine Freundschaften mit Bourdieu und Foucault: Bei Foucault habe er die Freundschaft als Lebensart jenseits gängiger Normen entdeckt. Eribon sei Teil von Foucaults Freundeskreis gewesen, der dem Ideal von André Gide nachempfunden gewesen sei – Gide selbst hatte in seinem umstrittenen Essay Corydon (1920) dem homoerotischen Eros paedagogicus nach antikem Vorbild ein Denkmal gesetzt. Ebenso wie Foucaults Freundschaften seien seine eigenen durch einen Altersunterschied charakterisiert. Analogien zum George-Kreis drängen sich förmlich auf. Zu seiner Freundschaft mit Bourdieu befragt, erläutert Eribon, dass dies eine andere Form von Freundschaft gewesen sei, eine institutionell ungebundene Affinität zwischen zwei Männern, die sich gegenseitig ihre Texte zum Lektorieren geschickt hätten.
Was bleibt von diesem Abend? Zunächst einmal Sonja Fincks zu Beginn der Veranstaltung formulierter Aufruf, loser gewordene Freundschaften erneut zu intensivieren. Zweitens der grundsätzlich sympathische Eindruck, den die ,3‘ hinterlassen haben. Damit hat insbesondere Eribon den negativen Eindruck abgeschwächt, den er anlässlich der Pariser Tagung Écrire sa vie auf uns gemacht hat, als er auf eher unsachliche Weise auf Rose-Marie Lagraves Autobiografie Se ressaisir eingedroschen hatte. Drittens bleiben einige Leerstellen zurück: Wie kommt es, dass der an Bourdieu und Foucaults Studien geschulte Lagasnerie zumindest im Interview blind ist für die sozialen Bedingungen der Möglichkeit seiner Soziologie der Freundschaft? Lagasnerie, Eribon und Louis leben ein urbanes Freundschaftskonzept, das sich vor allem der eigenen (mittlerweile) sehr privilegierten Position im sozialen Raum verdankt. Wie in unserer Rezension zu 3 : une aspiration au dehors nachzulesen ist, handelt es sich dabei zudem um eine Freundschaft mit stark männerbündischem Charakter. In Lagasneries Buch kommen dementsprechend nicht ausschließlich, aber doch vorzugsweise Männer – Aristoteles, Derrida, Barthes, Bourdieu, Foucault – zu Wort. Lagasnerie scheint nicht zu reflektieren, dass sein Freundschaftskonzept auch der Tatsache geschuldet ist, ein (homosexueller) Mann zu sein. Wie kommt es drittens, dass Lagasnerie auf die feministischen oder queeren Ansätze alternativer Lebenskonzepte gar nicht zu sprechen kommt, die bereits seit Jahrzehnten öffentlich diskutiert werden? Lagasnerie ist bei Weitem nicht der erste, der über freundschaftszentrierte Lebensformen nachdenkt. Dass er queere und feministische Vordenker und Vordenkerinnen, wie etwa José-Esteban Munoz ausspart, mag auch daran liegen, dass es Lagasnerie so möglich ist, etwas als seine eigene Idee zu verkaufen, was schon viele vor ihm gedacht und gesagt haben. Gut, dies mag vielleicht, wohlwollend betrachtet, einfach nur der ungenauen Recherche geschuldet sein, man kann nicht immer alles lesen, die Konsequenz ist allerdings ärgerlich: So werden diese Traditionslinien, diese Stimmen, unsichtbar gemacht. Gerade von jemandem, der das politische Engagement immer wieder ins Zentrum seines Schreibens und Denkens rückt und sich dezidiert als Intellektueller begreift, ist ein solches Vorgehen, gelinde gesagt, enttäuschend. Die noch in Tübingen von Louis so hochgehaltene Intersektionalität zeichnet sich zumindest an diesem Abend nicht im Denken der '3' ab. Und abschließend fällt einmal mehr auf, dass aktuelle politische Konflikte, wie etwa der Gazakrieg, nicht nur eine geringe Rolle spielen, sondern gar keine – und das wohlgemerkt im Rahmen einer Diskussionsrunde mit drei der aktuell bekanntesten französischen Linksintellektuellen. Dadurch wirkt der ohnehin schon recht elitäre Männerfreundschaftsdiskurs noch um einiges elfenbeinturmhafter. Obwohl alle ‚3‘ weitere intergenerationelle Freundschaften mit Männern und Frauen jeglicher sexueller Orientierung pflegen, bleibt zu konstatieren: Die drei Dissidenten der heteronormativen Ordnung bleiben unter sich.
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
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