Als der Sozialphilosoph Geoffroy de Lagasnerie Anfang des Jahres auf seinem Instagram-Kanal ankündigte, ein Buch über seine innige Beziehung zu Didier Eribon und Édouard Louis zu veröffentlichen, kam mir automatisch der Song „Liebe zu dritt“ der Berliner Punk-Synthieband Stereo Total in den Sinn, zu dem ich in den 2000er Jahren gerne auf Partys getanzt hatte. Die französische Leadsängerin Françoise Cactus, die vorletztes Jahr viel zu früh gestorben ist, sang all ihre Lieder mit einem starken Akzent, den Deutsche häufig bei Franzosen niedlich finden. Ich gebe gerne zu, dass diese Assoziation nicht unbedingt die Speerspitze literaturkritischer Seriosität darstellt, aber allein der Titel von Lagasneries Essay – 3 – Une aspiration au dehors – ließ mich an den zugleich „ekstatischen“ wie „kommunistischen“ Charakter der von Cactus besungenen Liebe zu dritt denken.
Als jemand, der sich intensiv mit den Schriften, dem Engagement und den Selbstinszenierungen des Trios Eribon-Louis-Lagasnerie beschäftigt, durfte man tatsächlich gespannt sein, was uns der radikalste der drei Linken erzählen würde. Eribon hat uns bereits mehrfach an seiner eigenen Lebensgeschichte teilhaben lassen, auch Louis macht aus seinem Bildungsaufstieg eine 'literarische Netflix-Serie' mit bislang fünf Staffeln. Nun also betritt auch Lagasnerie das Feld der autobiografischen Reflexion. Bislang hat es der hierzulande weniger bekannte Lagasnerie in seinen Texten vermieden, auf eigene Lebenserfahrungen Bezug zu nehmen. In seinen Essays hat er sich bisher u.a. an einer – ihm zufolge – dringend gebotenen Reform der Strafjustiz, dem Schicksal von Whistleblowern, dem fehlenden politischen Engagement innerhalb der Wissenschaft sowie der Forderung nach mehr politischer Kunst abgearbeitet. Das Ausbreiten persönlicher Erinnerungen hat er bis dato seinen beiden Partnern überlassen.
Die drei Intellektuellen verbindet seit mehr als zehn Jahren eine intensive Freundschaft. Als der junge Édouard Louis, damals noch Eddy Bellegueule, im Studienjahr 2010-11 an der Universität von Amiens den Soziologen Didier Eribon kennenlernte, war dieser schon seit einiger Zeit mit Lagasnerie liiert. Im Laufe der Zeit entwickelt sich zwischen den dreien eine intensive Beziehung, die bis heute anhält. Sie treten gemeinsam in der Öffentlichkeit als Kollektiv auf, besuchen zusammen Demos gegen Polizeigewalt und Homophobie, wettern regelmäßig gegen die neoliberale Staatsführung Emmanuel Macrons, widmen sich gegenseitig ihre Texte – soweit, so bekannt. Wer nun in Lagasneries neuestem Buch mehr privaten Gossip erwartet, wird schnell enttäuscht. Nahezu sämtliche Anekdoten hat uns zuvor schon Louis in Changer: méthode (2021, dt.: Anleitung ein anderer zu werden, 2022) erzählt. Die zusätzlichen Informationen, dass man sich jeden Tag unzählige Kurznachrichten schickt und stets Termine miteinander abstimmt, dass man jedes Jahr am 12. Februar den Geburtstag der Dreier-Freundschaft feiert, dass man im Urlaub immer gemeinsam literarische Klassiker liest, sind zwar nice to have, aber für sich genommen an Banalität kaum zu überbieten. Für Freunde des gepflegten Klatsches ist also 3 eine herbe Enttäuschung. Ist es deshalb auch ein schlechtes Buch?
Interessant ist Lagasneries soziologisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema Freundschaft, die er als „Zentrum unserer Existenz“ bezeichnet. Das im Titel prominent gesetzte „dehors“, also das „Außerhalb“, meint ein soziales Miteinander jenseits institutionalisierter, familial und heteronormativ gestützter Lebensformen. Freundschaft wird also von vornherein nicht nur als häufig temporäre Nah-Beziehung von Menschen beschrieben, sondern als dauerhafter und zugleich oppositioneller modus vivendi, der sich etablierten Daseinsstrukturen entgegenstellt – allen voran der Familie, die von Lagasnerie als Keimzelle von ungesunden Machtstrukturen und Repression empfunden wird. Die Freundschaft sei hingegen geprägt von einer libido amicalis, die wiederum auf einer „Ethik der Verfügbarkeit“ fuße, was bedeutet, dass man seine Zeit so plane, dass der andere – der Freund – immer mitgedacht wird, dass man sein Leben so strukturiere, dass immer genug Zeit für und mit dem Anderen bleibt – quality time sozusagen oder Zeit als „temps donné“. Lagasnerie schreibt, dass bei den meisten Menschen die Jugend- und Studienzeit üblicherweise das Lebensalter der Freundschaft darstelle, das irgendwann aufgrund gesellschaftlicher Normen vom Lebensalter der Familie abgelöst werde. Dadurch verlagere sich das Leben zwangsläufig von außen nach innen und verliere an Weite und Öffentlichkeit. Die Freundschaft hingegen ermögliche ein von Diversität geprägtes Leben in intellektueller und emotionaler Verbundenheit, das bei richtiger Pflege eine kreative Autonomie von institutionellen Logiken und Identitäten bereitstelle. Überhaupt sei gemeinsame Kreativität der Inhalt und zugleich das Ziel der idealen Freundschaft.
An solchen Stellen wird deutlich, dass Lagasnerie seine Theorie der Freundschaft ganz konkret von den eigenen Erfahrungen und Lebensumständen her denkt: Denn wer kann es sich schon leisten, stets die eigene Zeitplanung mit den besten Freunden abzugleichen? Wer kann schon von sich behaupten, dass jegliche freundschaftliche Bindung immer auch zugleich eine oppositionelle intellektuelle Praxis darstellt? So nachdenkenswert vieles von dem ist, was Lagasnerie zu sagen hat, manches bleibt doch so elitär und bubble-spezifisch, dass man kaum von einer verallgemeinerbaren Ethik der Freundschaft sprechen kann. So gesehen ist Lagasneries Buch wohl doch sehr viel privater als es zunächst hinter den zahlreichen Bourdieu-, Foucault- und Horkheimer-Referenzen scheinen mag. Und es ist vor allem auch ein ausgesprochenes Buch über Männerfreundschaft, das, wie die gerade aufgelisteten Namen nahelegen, mit dem kanonischen Wissen männlicher Denker angereichert wird. Die wenigen Verweise auf Annie Ernaux und Simone de Beauvoir können kaum verhehlen – und das prägte auch schon seine früheren Bücher –, dass das Denken Lagasneries vor allem kanonisch-männlich geprägt ist. Die – auch in 3 – so oft gepredigte Diversität hält Lagasneries eigene intellektuelle Praxis nur sehr bedingt ein. Man wundert sich beinahe, dass Montaignes Essay über die Freundschaft nicht zitiert wird – möglicherweise wären die dort zu findenden misogynen Untertöne („Frauen sind der ‚echten‘ Freundschaft nicht fähig“) dann doch zu plakativ gewesen.
Was Lagasnerie jedoch über die mangelnde staatliche Anerkennung freundschaftlicher Beziehungen zu sagen hat, leuchtet unmittelbar ein. So gibt es kaum die Möglichkeit der gegenseitigen Absicherung, keine steuerlichen Vorteile, da man davon ausgeht, dass aus einer Freundschaft nichts erwächst, was den Fortbestand der Gesellschaft gewährleistet. Als Beispiel führt Lagasnerie die staatlichen Maßnahmen während der Corona-Lockdowns an: So habe es etwa in Frankreich an Weihnachten, dem Familienfest, weniger rigide Vorschriften gegeben als an Silvester, dem Fest der Freunde, wodurch sich einmal mehr die Macht der Delegitimierung nicht-familiärer Beziehungen gezeigt habe. Solche Beobachtungen entbehren nicht der Scharfsinnigkeit, zu fragen bleibt dennoch, ob es nur dieses Entweder-Oder geben kann, wie es Lagasnerie konstatiert: entweder Familie oder Freundschaft. Freundschaft wird nicht etwa als „Ersatz“- oder „Wahlfamilie“ kategorisiert, sondern als „Anti-Familie“. Auch hier spielen sicherlich die eigenen schwierigen Beziehungen zur Familie eine wichtige Rolle. Insofern taugt Lagasneries Essay sicher nicht als grundlegende Studie zum Thema Freundschaft, aber es bietet dessen ungeachtet genug Stoff zum Nachdenken, was die Lektüre trotz aller Widersprüche und Einseitigkeiten unterm Strich anregend macht, sowohl für Familienmenschen als auch für diejenigen, für die jedes Familienfest eine mittelgroße Katastrophe darstellt, die man nur mit Alkohol und Ohropax ertragen kann.
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