Es scheint so, als habe der Corona-Lockdown dem Schriftsteller Édouard Louis eine Zeit gesteigerter Produktivität beschert. Anfang dieses Jahres kündigte er seinen neuen Roman Combats et metamorphoses d’une femme (unsere Rezension finden Sie hier) an sowie den Interviewband Dialogue sur l’art et la politique, in dem er sich mit dem Pionier des britischen Sozialkinos Ken Loach über die Möglichkeiten und Grenzen politisch engagierter Kunst unterhält. Beide Bücher erschienen im Frühjahr in Frankreich; das erstgenannte wird im November unter dem etwas unglücklichen Titel Die Freiheit einer Frau in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel in Deutschland erscheinen.
Im August überraschte Louis die Abonnenten seines Instagram-Kanals mit einer erneuten Ankündigung: Schon am 16. September, also pünktlich zur Rentrée littéraire, werde sein nächster Roman Changer : méthode erscheinen, in dem es um die drängendste Frage gehen werde, die ihn sein ganzes Erwachsenenleben umgetrieben habe: „Comment est-ce que je pouvais prendre ma revanche sur mon passé et par quels moyens?“ Schon die Mehrdeutigkeit von „prendre revanche“ ließ aufhorchen: Sollte es erneut, wie schon im Erstling En finir avec Eddy Bellegueule (2014; dt.: Das Ende von Eddy, 2015), darum gehen, sich schreibend an der eigenen Vergangenheit, d.h. dem eigenen Herkunftsmilieu für allerlei erduldete Demütigungen zu rächen? Oder doch – positiver gewendet – um das Sich-Revanchieren für erfahrene Hilfestellungen? Nach der Lektüre des Romans ist die Sache etwas klarer: Es geht Louis vor allem um Wiedergutmachung. Im Text selbst ist mehrfach davon die Rede, dass er nicht „vengeance“, also Rache, anstrebe, sondern eben eine „revanche“. Erst durch diese Gegenüberstellung legt Louis sein zentrales Ansinnen offen, das zugleich den Schreibanlass von Changer : méthode darstellt. Es bleibt abzuwarten, wie Louis’ Übersetzer mit diesen semantischen Grauzonen umgehen wird. Noch gibt es allerdings nicht einmal ein Veröffentlichungsdatum für die deutschsprachige Ausgabe.
Es mag allerdings noch zwei weitere, weniger literarisch motivierte Beweggründe gegeben haben für die rasch erfolgte Publikation von Changer : méthode, die uns Louis allerdings verschweigt und über die daher nur gemutmaßt werden kann. Zum einen ist Anfang dieses Jahres in Frankreich die Doppelbiografie Deux jeunesses françaises erschienen, in der der Journalist Hervé Algalarrondo die beiden Aufstiegsgeschichten von Emmanuel Macron und Édouard Louis erzählt (unsere Rezension finden Sie hier). Darin befinden sich trotz spärlicher Faktenlage zumindest einige Aussagen von ehemaligen Wegbegleitern aus Louis’ Zeiten in Amiens, die jedoch oftmals nur wenig schmeichelhaft sind. Die Rede ist von Snobismus und Treulosigkeit. Zum anderen hat Louis im Februar auf Instagram verkündet, dass es unter dem Titel The End of Eddy eine US-amerikanische Netflix-Produktion geben werde, die auf seinen autobiografischen Texten basiere. Das Drehbuch verantwortet der renommierte Regisseur und Autor James Ivory, der zuletzt mit einem Oscar für das Drehbuch zum schwulen Filmdrama Call me by your Name (2018) ausgezeichnet wurde. Die Veröffentlichung von Changer : méthode bietet Louis mithin die Möglichkeit, sowohl die eigene Version seines Klassenübergangs und der Zeit in Amiens zu erzählen als auch neuen Stoff für die kommende Netflix-Serie zu liefern. Eine Win-Win-Situation auf allen Ebenen.
Worum geht es nun konkret in Changer : méthode? Auf den ersten Blick handelt es sich um den unmittelbaren Nachfolger des Debütromans, der inzwischen längst, neben den Werken von Annie Ernaux und Didier Eribon, zu den modernen französischen Klassikern der Arbeiterkinderliteratur zählt. En finir avec Eddy Bellegueule endete mit dem Eintritt des jungen Eddy in ein bürgerliches Internat in Amiens, was bedeutet, dass es sich hier streng genommen nicht um ein Aufsteigernarrativ nach den klassischen Balzac- oder Stendhal-Schemata handelte, sondern lediglich um die Beschreibung der Fluchtursachen aus dem deprivilegierten Milieu, die fast den kompletten Roman eingenommen hatte. Das titelgebende ‚Schlussmachen mit Eddy Bellegeule‘ stellte nur den buchstäblichen Flucht-Punkt der Erzählung dar. Die Handlung des jüngsten Werkes setzt nach zwei szenischen Prologen eben dort ein, wo En finir avec Eddy Bellegueule seine Leserschaft zurückgelassen hatte: im Lycée Madeleine-Michelis von Amiens. Der junge Eddy lernt eines Tages Elena kennen, Tochter aus eher gehobenen bildungsbürgerlichen Verhältnissen. Ihr ist der erste Teil des Buches gewidmet. Louis erzählt, wie er immer mehr vom diskreten Charme der Bourgeoisie in Bann gezogen wird. Zunächst wird er zum regelmäßigen Gast der Familie, dann verbringt er auch die Nächte dort und imitiert fortan all das, was Bourdieu in den Feinen Unterschieden als Distinktionsmerkmale des Bürgertums darstellte: den Musikgeschmack, die Art zu reden, Essensrituale und sogar die Mode – „imiter“ gehört zu den am häufigsten verwendeten Verben, wenn es um Eddys Methodik des Bildungsaufstiegs geht. Lief im Hause Bellegueule noch ununterbrochen der Fernseher – sogar während der Mahlzeiten –, lauscht Eddy nun in Elenas Elternhaus ganz ergriffen den Chorälen aus Brahms Deutschem Requiem und nippt schüchtern an seinem Glas Rotwein. Elenas Mutter Nadya, die nicht glauben kann, dass Eddy tatsächlich sein Geburtsname ist, nennt ihn fortan nur noch Édouard, was dem Adressierten nur allzu recht ist. Eddys voranschreitende Metamorphose quittiert Elenas Mutter eines Tages mit dem lakonischen Kommentar „Eh bien Eddy, vous vous embourgeoisez!“ (‚Aber Eddy, Sie verbürgerlichen sich ja!‘). Im nächsten Teil der Lebensgeschichte lernt Eddy, mittlerweile Student, an der Universität von Amiens den Soziologen Eribon kennen, der den jungen Klassenflüchtling von nun an unter seine Fittiche nimmt, und dessen Habitus des schreibenden Intellektuellen Eddy als nächsten imitieren wird. Die Beziehung zum Mentor Eribon, das Coming-Out, das sich schon lange Zeit angebahnt hatte, sowie die nun regelmäßigen Wochenendausflüge nach Paris führen am Ende zur zunehmenden Entfremdung von Elena und ihrer Familie, was Louis etwas lapidar mit dem Satz „L’histoire de ma vie est une succession d’amitiés brisées“ beschreibt.
Eribon macht aus Eddy im Folgenden sein ‚Projekt‘: Er versorgt den wissbegierigen Zögling mit allerlei Lektürelisten und ermuntert ihn sogar, sich für das Aufnahmeverfahren an der École Normale Supérieure zu bewerben. Mit enormem Ehrgeiz, schlaflosen Nächten und physischer Erschöpfung gelingt das Vorhaben. Die Eintrittskarte für ein neues Leben in der französischen Hauptstadt liegt nun vor, doch es fehlt dem Neuankömmling an den nötigen finanziellen Mitteln für den Lebensunterhalt und vor allem für die neuen Hauptanliegen: „Changer mon nom, changer mes dents, changer mon apparence, changer mon rire.“ Eddy macht sich also im dritten Teil des Lebensberichts in der Pariser Schwulenszene auf die Suche nach finanziell potenten Gönnern. Nahezu obsessiv listet Louis im Folgenden die Namen und Berufe seiner Liebhaber und Förderer auf, die ihm teure Zahn-OPs finanzieren, ein Appartement im Stadtzentrum, Diners in Sternelokalen oder teure Reisen in die USA. Zum illustren Kreis der Gönner gehören unter anderem Direktoren amerikanischer Industrieunternehmen, Universitätsprofessoren, der Bürgermeister von Genf und sogar der Spross eines alten französischen Adelsgeschlechts. Am Ende von Changer : méthode realisiert er auch noch das letzte seiner wichtigsten Lebensziele: Er beginnt mit der Niederschrift seines Debütromans En finir avec Eddy Bellegueule und wird Schriftsteller.
Im Rahmen seines bisherigen Gesamtwerks betrachtet, handelt sich bei Changer : méthode mit einigen Einschränkungen zweifellos um Louis’ besten Text nach En finir avec Eddy Bellegueule. Das liegt nicht nur daran, dass wir nun endlich das erfahren, was uns der wütende Erstling noch verschwiegen hatte, nämlich die Geschichte des eigentlichen Aufstiegs, sondern vor allem an den literarischen Qualitäten des jüngsten Werks. Louis aktualisiert klassische Aufstiegsnarrative von Balzac oder Stendhal, verjagt jedoch den auktorialen Erzähler und liefert uns die Methodik des Milieuwechsels aus der Innenschau. Im Gegensatz zum Debüt, dessen Ton vor allem durch Wut und Vergeltung geprägt war, setzt Louis hier auf versöhnlichere Töne, indem er die von ihm Zurückgelassenen direkt adressiert: im ersten Teil den Vater und im dritten Teil Elena. Der Text liest sich über weite Strecken hinweg als die Abbitte des Klassenflüchtlings. „Ne me juge pas“, ist eine der wiederkehrenden Bitten an die verlassene Elena. Auch wenn Louis nicht müde wird, seinen eigenen Ehrgeiz minutiös darzulegen, feiert er sich doch nie nur als reinen Selfmade-Man, sondern stellt den Anteil seiner Mentoren und Mentorinnen an seinem persönlichen Erfolg deutlich heraus.
Befremdlich jedoch wirkt jedoch mitunter die Skrupellosigkeit, mit der sich der junge Eddy in Paris auf die Suche nach willigen Gönnern macht, je reicher und einflussreicher, desto besser. Dass er den Bürgermeister von Genf um Adoption bittet, wirkt in seiner Naivität geradezu grotesk. Dass er sich auf das Sofa aus Eisbärfell eines amerikanischen Bankdirektors setzt – „Il était le directeur d’une des banques les plus importantes aux États-Unis“ – und seinen anfänglichen Ekel mit einem Glas Luxuswein runterspült, nimmt sich nicht weniger effekthascherisch aus. Man fragt sich als Leser irgendwann zwangsläufig: Warum sollen wir das alles wissen? Die letzten Seiten des in Paris spielenden dritten Teils münden in eine beinahe unerträgliche Form der Selbstverliebtheit, die glücklicherweise durch das Schlusskapitel wieder leicht abgeschwächt wird, wo es um die schriftstellerischen Ambitionen des Neu-Parisers geht. Dadurch dass der Text mit der Niederschrift von En finir avec Eddy Bellegueule endet, erhält das Dyptichon des Klassenübergangs durch diese selbstreferentielle Pointe nahezu Proust’sche Züge, endet doch auch die Recherche in dem Moment, als der Ich-Erzähler mit dem Schreiben des Romans beginnt, den der Leser gerade zu Ende gelesen hat. Dass Louis mit Prousts Jahrhundertroman bestens vertraut ist, legt ein Interview nahe, in dem Louis bekennt: „Mit der Entdeckung von Marcel Proust und Pedro Almodóvar habe ich das Gefühl, meine Familie gefunden zu haben“. Dass Proust zu den ersten Schriftstellern gehörte, die das Thema Homosexualität prominent in Szene gesetzt hatten, mag hier eine wichtige Rolle gespielt haben. Louis setzt diese Tradition in modernisierter Form fort, indem er sein eigenes Schwulsein als Schlüssel zu den Pariser Eliten einsetzt. In En finir avec Eddy Bellegueule war sein sich herausbildender schwuler Habitus noch der Auslöser von sozialer Exklusion und homophober Gewalt – verkehrte Welt! Man könnte demnach sagen, dass das Narrativ des Klassenübergangs im Werk von Édouard Louis nach dem Strukturmuster der Inversion organisiert ist. Zu Prousts Lebzeiten war Inversion noch der Terminus technicus für (vor allem) männliche Homosexualität. Auch wenn Louis’ Schreibweise kaum mit Prousts idiosynkratischem Stil vergleichbar ist, so kommt man nicht umhin, in Changer : méthode den überwiegend gelungenen Versuch zu sehen, sich in eine Tradition schwuler Bekenntnis-Literatur einzuschreiben, die maßgeblich in Frankreich mit den Werken von Proust, Gide und Genet ihren Ausgang genommen hat.
Édouard Louis: Changer : méthode, Paris: Seuil 2021, 331 S.
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