Populaire! Populaire?

Bericht zum 13. Kongress des Frankoromanistenverbands

Veröffentlicht am
11.10.2022

Lea Sauer

RPTU in Landau
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In diesem Jahr stand der 13. Kongress des Frankoromanistenverbandes unter dem Motto „Populaire! Populaire?“. Wir hatten die Freude, eine Sektion zu Elendsnarrativen in Literatur und Film beizusteuern, die unter dem Titel „De la popularité des classes populaires“ lief und den aktuellen Trend der ‚Klassenerzählungen‘ in den Fokus rückte.

Wobei Trend? Damit stecken wir im Grunde schon mitten im Thema, denn gleich mehrere Vortragende zogen interessante Verbindungslinien zu älteren Beispielen soziologischen Erzählens.  Mitnichten handelt es sich bei den Erzählungen über die ‚kleinen Leute‘ um ein wirklich neues Phänomen, im Gegenteil. Diese Tradition lässt sich mindestens bis zum ersten Schelmenroman der Weltliteratur, dem Lazarillo de Tormes (1554), zurückverfolgen, wo ein junger Knecht im Mittelpunkt der Handlung steht, und erreichte dann mit den realistischen  bzw. naturalistischen Romanen Balzacs, Hugos und Zolas im 19. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt. Seitdem sind Arbeitsverhältnisse, Armut und diejenigen, die mit ihr Leben müssen, stets Thema der Literatur, und später auch des Films, gewesen – insbesondere im französischen Kontext. Dies beweisen nicht zuletzt die unterschiedlichen Werke, die im Rahmen unserer Sektion behandelt wurden. So bot Melanie Schneider eine fundierte Analyse von Claire Etcherellis Roman Élise ou la vraie vie (1967), wo der Alltag von Fabrikarbeitern und -arbeiterinnen der Automobilindustrie dargestellt wird. Das Fließband, einstmals von Ford eingeführt, findet dabei auch stilistisch Eingang in den Text: durch Wiederholungen von Motiven, den Satzbau sowie die Thematisierung der alles einnehmenden, nie enden wollenden Müdigkeit. Ergänzen könnte man an dieser Stelle ebenfalls Leslie Kaplan mit L’excès – L’usine (1982) oder zuletzt Joseph Ponthus mit À la ligne (2019), die ebenfalls die Fließbandarbeit aus der Perspektive eines Arbeiters/einer Arbeiterin in eine poetische Form überführten (die Rezension zu Ponthus’ À la ligne von Gregor Schuhen finden Sie hier). Um die Fabrik ging es auch in Wolfgang Asholts Vergleich von François Bons Daewoo (2004) und Arno Bertinas Ceux qui trop supportent (2021). Doch standen dort nicht die eigentlichen Arbeitsbedingungen in der Automobilbranche im Vordergrund, sondern die (Un-)Möglichkeiten des Aufbegehrens. Im Stile eines ‚récit documentaire‘ verfasst, setzen diese Werke vor allem auf eines: Authentizität. So lässt sich vermuten, dass die Darstellung nicht nur der Vermittlung dient, sondern auch ein politisches Interesse verfolgt: Wachrütteln, soziale Ungerechtigkeiten verdeutlichen – letzten Endes vielleicht auch: Veränderungen erwirken?

Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass es Veränderungen spätestens seit dem Ende der sogenannten Trente Glorieuses in Frankreich längst gegeben hat – und zwar nicht nur im positiven Sinne. Oftmals ist die Rede von den ‚Abgehängten‘ oder, wie es der französische Sozialgeograph Christophe Guilluy immer wieder anprangert, von der ‚France périphérique‘, einem Frankreich also, das jenseits der wohlhabenden, progressiven Zentren anzusiedeln ist und größtenteils unter dem Radar der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit ein Schattendasein fristet. Wie also von den Arbeitsorten erzählen, wenn diese im Zuge der Deindustrialisierung längst zu reinen Erinnerungsorten verkommen sind? Dieser spannenden Frage gingen Karel Střelec und Veronika Resslerová nach und konnten dabei darlegen, wie ehemals florierende und nun stillgelegte Industriestandorte Teil des kulturellen Gedächtnisses werden. Man denke beispielsweise an ehemalige Minen oder Zechen – etwa die Zeche Zollverein –, die in Kulturzentren umgewandelt wurden. Sind solche Orte dazu geeignet, an die Industriekultur vergangener Tage zu erinnern? Und welche Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Literatur oder dem Film zu? Verbindungslinien taten sich zu der von Christian von Tschilschke vorgestellten filmischen Soziologie der Dardenne-Brüder auf. Anhand von Deux jours, une nuit (2014) wurde nicht zunächst deutlich, wie die Filmkamera zum unsichtbaren Zeugen solcher Industrieorte wird. Zudem wird mithilfe der Fokussierung des Körpers nicht nur eine Komplizenschaft mit dem Betrachter hergestellt, sondern über die Körperlichkeit auch Assoziationen mit Machtverhältnissen, denen die ‚classes populaires‘ unterworfen sind. Dass der Körper eine besondere Rolle in der Darstellung der ‚classes populaires‘ spielt, wurde auch im Vortrag von Antonella Ippolito deutlich, die eine detaillierte Analyse des Romans Désintégration (2018) von Emmanuelle Richard vornahm, sowie im Beitrag von Christiane Conrad von Heydendorff, der sich der Musical-Adaptation von Hugos Notre-Dame de Paris widmete.

Immer wieder kreisten die Diskussionen um die von Spivak aufgeworfene Frage:  Can the subaltern speak? (2010) bzw. um das Problem, ob, wie und vor allem von wem die ‚classes populaires‘ in Öffentlichkeit und Literatur repräsentiert werden: Kann Literatur überhaupt einen Ort bieten für all jene Stimmen, die nicht zur gesellschaftlichen Elite gehören? Wer liest die Romane, in denen von Arbeit, Armut und Klassenaufstieg berichtet wird, wer schaut die entsprechenden Filme? Von wem werden sie geschrieben, wer steht hinter der Kamera? Ob und wie man den ‚Abgehängten‘ Gehör verschaffen kann, zeigte besonders der von Hartmut Stenzel vorgestellte Dokumentarfilm J’veux du soleil (2019) unter der Regie von Francois Ruffin und Gilles Perret. Ruffin, seines Zeichens Journalist, Regisseur und Politiker, reiste 2018 durch Frankreich und mischte sich unter die Demonstrierenden der Gilets Jaunes-Bewegung. Aufgrund seiner Rollen-Trias dürfte er mit dem Ziel, die Leute für sich sprechen zu lassen, auch seine eigene politische Agenda verfolgt haben. Oftmals wird mit dem Begriff der ‚classes populaires‘ in diesem Kontext relativ locker umgegangen: Sind damit die Einkommensschwachen gemeint? Diejenigen, die über keinen höheren Bildungsabschluss verfügen? Diejenigen mit schlechteren Berufsaussichten? Oder diejenigen, die, wie Walburga Hülk eingehend darlegte, bereits von Victor Hugo ‚als das Volk‘ bezeichnet wurden? An dieser Stelle sei deswegen lediglich darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚classes populaires‘ ein vielschichtiger ist und vor allem in der Soziologie immer auf ein Machtverhältnis aufmerksam macht, das sich politisch und sozial in die Gesellschaft einschreibt.

Deutlich wird aus diesem Grund, dass es auch uns Literaturwissenschaftler*innen daran gelegen sein muss, unsere erkenntnistheoretischen Motive – etwa nach dem Vorbild Bourdieus – stets zu hinterfragen und die eigene Position kritisch im Blick zu behalten. Denn auch wenn manche der Forschenden einen, wie Chantal Jaquet es in ihrem Vortrag eingehend beschrieb, sogenannten transclasse-Background haben mögen, so ließe sich nun wahrlich nicht behaupten, dass wir zu den Abgehängten gehören, die keine Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen: Alle im Raum waren Akademiker*innen und somit qua ihres Berufs an Literatur interessiert, publizieren regelmäßig in Fachzeitschriften oder wissenschaftlichen Sammelbänden, konnten sich ein Hotel in der schicken Wiener Innenstadt leisten. Wie aber auch die in den Blick nehmen, diejenigen ernst nehmen, die außerhalb unserer literaturaffinen Bubble stehen? Ist das überhaupt (politisch) gewünscht? Die Forderung hilfreich? Oder setzen wir dadurch nicht unsere Maßstäbe an bestimmte gesellschaftliche Gruppen an, ohne zu berücksichtigen, dass es da draußen auch Leute gibt, denen Literatur und auch Filme komplett egal sind, in ihrer Lebensrealität keine Rolle spielen? Ist es vielleicht möglich, dass das vielleicht auch gar nicht das Mittel der Wahl sein kann, um mehr Repräsentation der ‚classes populaires‘ zu bewirken?

Interessant war diesbezüglich der Beitrag von Robert Lukenda, der u.a. das von Pierre Rosanvallon ins Leben gerufene Online-Projekt „Raconter la vie“ und die dazugehörigen Buchprojekte vorstellte. Ziel von „Raconter la vie“ war es, ein literarisches Gesamt-Tableau der französischen Gesellschaft abzuliefern, so wie es einst auch schon Balzac als sécretaire der französischen Gesellschaft anstrebte. Im Zentrum der aktualisierten Comédie humaine 2.0 stand nun allerdings vor allem der partizipative Gedanke, denn auf der Website konnte sich jeder, der wollte, anmelden, um seine Geschichte aufzuschreiben. Es bleibt allerdings ungewiss, ob Projekte wie dieses tatsächlich zur Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen beitragen können – und dies nicht nur weil die Website längst nicht mehr abrufbar ist. Vielen wird wohl eher Rosanvallon als Initiator im Gedächtnis geblieben sein, als beispielsweise Christophe Petot, der in „Ligne 11“ von seinem Alltag als Métro-Fahrer berichtet. Damit sei nicht gemeint, dass hinter der Initiierung eines solchen Projekts der reine Wille zur Bereicherung an den Leben anderer stecken muss. Es verdeutlicht allerdings ein essenzielles Problem: Empowerment, auch in bester Absicht, muss nicht immer empowernd wirken.

Dieser Punkt zeigte sich ebenfalls in der Besprechung von Aufstiegsgeschichten von den, wie sie Joseph Jurt in seinem Vortrag nannte, transfuges de classe, als deren aktuell prominenteste Vertreter*innen der französischen Literatur wohl Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis zu nennen sind. Im Gespräch mit uns machte die Soziologin Silke van Dyk bereits vor einigen Monaten darauf aufmerksam, dass Erzählungen des eigenen Aufstiegs immer Gefahr laufen, das neoliberale Bild vom ‚self-made man‘ (oder der ‚self-made woman‘) zu perpetuieren: Einzelne haben es aufgrund ihrer besonderen Begabung gegen alle Widerstände geschafft – hierbei handele es  sich mithin um  moderne Narrative individuellen Heroismus. Christina Ernst stellte ihrerseits dar, wie Louis sich in seinen Romanen hinsichtlich der gewählten Motive und Szenen auch auf literarische Vorbilder (insbesondere Louis-Ferdinand Célines Mort à crédit, 1939) beruft und sich somit – bewusst oder unbewusst – in die literarische Tradition des Bildungsromans einschreibt.

Wie man dies nun mit Bezug auf die einzelnen (und ja auch durchaus unterschiedlich schreibenden) Autoren und Autorinnen bewerten mag, sei jedem selbst überlassen. Es ist aber zumindest auffällig, dass diese Art von Literatur zwar die gesellschaftlichen Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten benennt, allerdings immer auch auf das Selbstbild ihrer Urheber und Urheberinnen einwirkt und damit immer auch dem Marketing der eigenen Autor-Persona dient. Können die transfuges de classes wirklich auch zu Vorbildern werden, die die 'Unterdrückten' zur Selbstermächtigung befähigen und damit gar eine gesellschaftliche Revolution anzetteln, wie es beispielsweise Louis immer wieder in Interviews betont?

Das muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Denn wie so viele anderen, blieb auch diese Frage am Ende unserer Sektionsarbeit kontrovers diskutiert, aber zwangsläufig unbeantwortet. Wohl nicht das schlechteste Ergebnis, zeigt es doch, dass den Ambivalenzen Raum geboten und ebenso differenziert wie reflektiert an die Themen herangetreten wurde. Vor allem zeigt die Diskutierfreude der Teilnehmer und Teilnehmerinnen sowie der zahlreichen Gäste, wie relevant und aktuell das Klassenthema auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften ist. Längst ist noch nicht alles gesagt. Die Tage in Wien können somit als erfolgreicher Anfang gesehen werden, als Auftakt für weitere Diskussionen, als Einladung zum Nach- und Mitdenken, als Boden, aus dem hoffentlich weitere Veranstaltungen dieser Art erwachsen, die sich mit dem Thema Klasse auseinandersetzen.

Weitere interessante Essais:

Ein Wiedersehen mit alten Bekannten

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