Ohne Punkt und Komma

Joseph Ponthus schreibt mit "À la ligne" einen Versroman über den Alltag eines Fließbandarbeiters

Veröffentlicht am
3.2.2022
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Auch wenn im vorletzten Jahr mit Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber ein Versroman den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, gehört diese Gattung der Vormoderne ganz sicher nicht zu den Publikumslieblingen der Erzählliteratur. Umso erstaunlicher und, ja, heldenhafter mutet die Tatsache an, dass nur ein Jahr später derselbe Berliner Verlag, Matthes & Seitz, einen weiteren Text dieser Art veröffentlicht. Hierbei handelt es sich um den Roman Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik, die deutsche Übersetzung des französischen Romans À la ligne. Feuillets d’usine von Joseph Ponthus, der in Frankreich im Jahr seines Erscheinens (2019) mit nicht weniger als sechs Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Im Folgejahr kam mit dem Prix des lycéens de littérature noch ein siebter hinzu. Auch in den französischen Buchhandlungen entpuppte sich das ungewöhnliche Werk innerhalb weniger Monate als Überraschungserfolg, während sich hierzulande das Interesse bislang eher in Grenzen hält.

Ich bin rein zufällig beim Stöbern in einer Frankfurter Buchhandlung auf diesen Roman gestoßen, dessen hübsches Cover eine Unmenge an Fischen ziert, wenngleich es sich dabei nicht um Zierfische handelt, sondern um Heringe und Makrelen. Noch vor der Lektüre habe ich im Netz nach dem mir unbekannten Autor recherchiert, dessen traurige Lebensgeschichte Stoff für einen eigenen Roman böte. Nachdem Ponthus erfolgreich den literarischen Zweig der Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles absolviert hatte, arbeitete er zunächst als Sozialarbeiter mit schwer erziehbaren Kindern im Pariser Vorort Nanterre. Die Liebe brachte ihn schließlich in die Bretagne, nach Lorient, wo er zunächst keinen Job fand. Vor lauter Verzweiflung heuerte er bei einer Zeitarbeitsfirma an, für die er dann zwei Jahre lang in Fischfabriken und Schlachthöfen arbeitete. Während dieser Zeit schrieb er nach Schichtende immer wieder kleine Skizzen über seine Arbeit, die er nach den zwei Jahren zu seinem ersten Roman zusammengefügt hat, der gleichzeitig auch sein letzter bleiben wird. Nur gut zwei Jahre nach der Veröffentlichung von À la ligne stirbt Joseph Ponthus am 24. Februar 2021 im Alter von 42 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung.

Das Wissen um den frühen Tod des Autors überschattet natürlich die Lektüre und lässt einiges von dem, wovon Ponthus erzählt, in einem noch melancholischeren Licht erscheinen. Die Tatsache, dass es sich bei À la ligne um einen Versroman handelt, stellt nicht das einzige Kuriosum dieses literarischen Debüts dar. Auch verzichtet Ponthus auf jegliche Form der Interpunktion, lediglich ein paar wenige Anführungszeichen markieren Zitate aus französischen Chansons oder anderen Texten. Dadurch verstärken die insgesamt 66 Kapitel jeweils den Eindruck der monotonen und zugleich zeitenthobenen Arbeit am Fließband, die einzig hin und wieder durch Kaffee- oder Mittagspausen unterbrochen wird. Den linken sozialkritischen Impetus des Romans macht Ponthus gleich zu Beginn deutlich:


En entrant à l’usine
Bien sûr j’imaginais
L’odeur
Le froid
Le transport de charges lourdes
La pénibilité
Les conditions de travail
La chaine
L’esclavage moderne
Je n’y vais pas pour écrire
Mais pour les sous


Bevor ich in die Fabrik kam
Dachte ich natürlich an
Den Gestank
Die Kälte
Das Schleppen schwerer Kisten
Die Erschöpfung
Die Arbeitsbedingungen
Das Fließband
Moderne Sklaverei
Ich geh dort nicht zum Schreiben hin
Sondern für die Kohle


Das marxistische Vokabular taucht im Folgenden immer mal wieder auf, wechselt sich ab mit romantischen Versen von Charles Trenet, der sogar in der Widmung erscheint, oder eingestreuten Verweisen auf Hugo, Proust oder Apollinaire. Zusammengehalten werden diese fragmentarischen Hommagen durch die autofiktionalen Schilderungen des tristen Arbeitsalltags. Während der ersten Hälfte arbeitet der Ich-Erzähler in einer Fischfabrik, wo er am Fließband Garnelen und panierte Fischfilets sortiert. Die toten Tiere rauschen in schier endlosen Mengen vorbei und lassen dem arbeitenden Geist ausreichend Gelegenheit, in literarische Welten zu flüchten oder über die Misere prekär beschäftigter Zeitarbeiter nachzudenken. Die stets zu kurzen Kaffee- und Zigarettenpausen dienen dem Kennenlernen anderer Arbeiter, die alle dem Perpetuum mobile des Fließbands unterworfen sind, ebenso wie den Launen der Personaler.


Demain
En tant qu’intérimaire
L’embauche n’est jamais sûre


Der nächste Tag
Ist für einen Zeitarbeiter
Nie garantiert


Es sind solche lakonischen Dreizeiler, hinter denen sich ganze Studien aus dem Bereich der Prekaritätsforschung verbergen, steckt doch gerade in der Unplanbarkeit des eigenen Lebensentwurfs der Wesenskern prekärer Existenzen. Überhaupt verleihen solche Ausführungen zum Zeitempfinden der prekär Angestellten dem Text mitunter den Charakter eines literarisch vermittelten sozialistischen Manifests.


L’usine est
Plus que tout autre chose
Un rapport au temps
Le temps qui passe
Qui ne passe pas
Éviter de trop regarder l’horloge
Rien de change des journées précédentes


Ist die Fabrik
Mehr als alles sonst
Ein Verhältnis zur Zeit
Zur Zeit die vergeht
Die nicht vergeht
Versuche ich nicht zu oft auf die Uhr zu schauen
Ist ein Tag wie jeder andere


Das Zusammenwirken von unsicherer Zukunft und monotoner Gegenwart charakterisiert das tägliche Erleben der Fabrikarbeiter und sorgt gleichzeitig dafür, dass das Band stets am Laufen bleibt. Im Schlachthaus kommen zu den psychischen Belastungen noch die körperlichen Anstrengungen hinzu. Unter Aufwendung aller Kräfte müssen herabhängende Schweine- und Rinderhälften weiterbewegt werden, damit es zu keinen Stauungen im Ablauf kommt, damit das Band nicht anhalten muss. Der Stillstand wäre der worst case im Tagesablauf der Arbeiter.

Tout est si lourd
Les vaches
Mon corps
Le travail
Voire ma vie
Tout oppresse dans ce lieu qui ne change pas
Ne changera jamais


Alles ist schwer
Die Rinder
Mein Körper
Die Arbeit
Das heißt mein Leben
Alles engt ein an diesem Ort der sich nicht ändert
Der sich nie ändern wird


Lediglich punktuell wird dieser maschinell beförderte Bewusstseinsstrom unterbrochen durch kurze Exkurse in das Leben jenseits der Fabrik, ephemere Glücksmomente mit dem Hund oder der geliebten Frau. Aufgrund von kurzfristig angeordneten Änderungen in der Schichtarbeit währen diese Episoden manchmal nur ein paar Stunden lang.

Der Roman À la ligne ist so viel mehr als nur ein rundum gelungenes Formexperiment. Er ist Sozialkritik, Prosagedicht und Arbeiterroman in einem, den man genau so atemlos liest wie es die fehlende Interpunktion bereits suggeriert. Die nahtlose Aneinanderreihung von kurzen Anekdoten und Reflexionen, Leiderfahrungen und Glücksgefühlen ohne Punkt und Komma verhindert zwar eine zusammenhängende, dramatisch organisierte Handlungsstruktur, aber das tut der Faszinationskraft des Textes keinen Abbruch – ganz im Gegenteil.


J’écris comme je travaille
À la chaîne
À la ligne
En écrivant ces mots
Je continue
à dépoter des lieux communs


Ich schreibe wie ich arbeite
Am Fließband
Am laufenden Band
Und während ich das schreibe
Sortiere ich weiter
Nur diesmal Wortarten


Diese selbstreflexiven Passagen, die Fließbandarbeit und Schreiben ineinssetzen, wirken so unaufdringlich wie vergleichbare Passagen in den Erzählungen von Annie Ernaux. Alles fließt in der Prosa von Ponthus und reißt die Leser auch ohne einen ausgefeilten Spannungsbogen oder clever gesetzte Cliffhanger mit. Dieses höhepunktarme Fließen spiegelt den Fabrikalltag umso eindringlicher wider.

Man hätte gerne noch weitere Romane aus der Feder von Joseph Ponthus gelesen. Ihm es mit À la ligne gelungen, der Sozialfigur des prekär beschäftigten Zeitarbeiters auf unpathetische Weise ein zugleich wütendes wie zärtliches Denkmal zu errichten.


Joseph Ponthus: À la ligne. Feuillets d’usine, Paris: Éditions de La Table Ronde 2019, 272 S.

Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Berlin: Matthes & Seitz 2021, 239 S. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm.


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