Barbès im Brennpunkt

Soufia Aouines (Ab-)Gesang auf die Vergessenen der Fünften Republik

Veröffentlicht am
17.8.2021
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Der einprägsame Titel und die Paratexte lassen keinen Zweifel daran, in welches Universum Sofia Aouine das Lesepublikum ihres knapp 200 Seiten umfassenden Debutromans Rhapsodie des oubliés (2019) entführt. Das gilt vor allem für den dem Text nachgestellten Soundtrack der ,Vergessenen'. Es handelt sich um eine Sammlung von vorwiegend Funkmusiktiteln, die das Leben im sowohl amerikanischen als auch französischen „Großstadtghetto“ beleuchten. Gewissermaßen bieten diese Lieder einen thematischen Vorgeschmack (oder besser Nachgeschmack?) auf die Sorgen und Nöte der Marginalisierten, von denen Aouine erzählt. Aus dieser Playlist sind die Songs Barbès von Rachid Taha (1990) und B.E.Z.B.A.R. von Scred Connexion (2008) von besonderem Interesse, weil sie das Leben in Barbès(-Rochechouart) im Stadtviertel Goutte-d’Or im 18. Arrondissement in Paris thematisieren, also in jenem quartier, wo die Rhapsodie des oubliés spielt. Während Barbès die positiv besetzte Multikulturalität stimmlich arrangiert, beschreibt das zweite Lied (verlan für Barbès) die Probleme dieses „quartier chaud“. Von den Diebstählen, der Gewalt und den zahlreichen Drogendealern scheint sich die multikulturelle Bevölkerung nicht befreien zu können.

Vielmehr als die englischen Playlistsongs bildet dieses lokalprogrammatische Stimmenmosaik den thematischen Rahmen für den Roman, in den sich die literarisch inszenierte Polyphonie der aus der kollektiven französischen Aufmerksamkeit Verbannten einpasst. Unter dem Titel der Rhapsodie des oubliés, der nicht zufällig gewählt ist, wie die dem Romaneinstieg vorangestellte etymologische Bemerkung verdeutlicht, schildert die Autorin den (Ab-)Gesang der Vergessenen. Die französische Genitivkonstruktion lässt sich gleich doppelt deuten: Als genitivius objectivus gelesen, hat der Gesang die Vergessenen zum Thema, als genitivus subjectivus verstanden, sind es die Vergessenen selbst, die den Gesang anstimmen. Bewusst in diesem zweifachen Sinn versteht sich der Roman, denn der dreizehnjährige Ich-Erzähler Abad, Sohn libanesischer Einwanderer, gehört erstens zu denjenigen, deren Not sich in Frankreich kaum jemand vergegenwärtigt. Zweitens schildert er die elenden Lebensbedingungen seiner Leidensgenossen, die aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen worden sind. Zu diesen notleidenden Mitstreiter*innen zählen insbesondere Abads einzige Freundin, die Prostituierte Gervaise, seine an Alzheimer erkrankte Nachbarin Odette, die in eine islamistische Familie hineingeborene Nachbarin von gegenüber, deren Name ihm unbekannt ist, seine jüdische Psychoanalytikerin und die eigenen Eltern. Sie alle kommen in unterschiedlichem Umfang zu Wort.

Gleich der erste Satz des Romans setzt den von den Liedern aufgefächerten Rahmen fort und liest sich als krachender Auftakt: „Ma rue raconte l’histoire du monde avec une odeur de poubelles.“ (11, dt.: „Meine Straße erzählt die Geschichte der Welt, die nach Mülleimern riecht.“) Diejenigen, die in der Rue Léon im Viertel Goutte-d’Or rund um den Boulevard Barbès wohnhaft sind, sind solche, wie der Erzähler ironisch bemerkt, die das Elend lieben, solche, die Lampedusa hinter sich gelassen haben, Nord- sowie Westafrikaner und Araber der ersten, zweiten oder gar dritten Generation.

Bleibenden Eindruck hinterlassen vor allem die Darstellungen von Abads Freunden. An erster Stelle ist zunächst Odette zu nennen, die schließlich an Alzheimer erkrankt. Der hübschen jungen Frau von gegenüber, in die sich Abad verliebt, gelingt es, Abad über das Internet an ihrem, von den fundamental muslimischen männlichen Verwandten dominierten Familienalltag und ihren Fluchtträumen teilhaben zu lassen. Genauso schnell, wie sie in sein Leben getreten war, verschwindet sie: Seine Frage „Où-es tu Nour?“ verhallt in der Leere der wohl familiär erzwungenen Antwortlosigkeit. Dieses Schicksal, allerdings auf weitaus schlimmere Weise, teilt auch seine beste Freundin, die Prostituierte Gervaise. Sie wurde unter falschen Versprechen aus Afrika nach Paris gelockt (verbannt? ausgestoßen?) und muss auf dem „Boulevard des rêves brisés“ – die Anspielung auf den „boulevard of broken dreams“, den Green Day (2004) besingen, liegt auf der Hand – männliche erotische Träume erfüllen.  Ihre Geschichte ruft das mitleidvolle Kopfschütteln des Lesepublikums hervor: In Afrika wird Gervaise von ihrer eigenen Mutter hochrangingen französischen, weißen Staatsbeamten überlassen, die sie vergewaltigen. Sie wird schließlich schwanger und bekommt ein weißes Kind, das den Namen Nana erhält. Abad lernt Gervaise kennen, als diese, von den Handlangern ihrer Zuhälterin zusammengeschlagen, halbtot auf der Straße liegt. Die kurzen Momente alltäglichen Glücks, die beide in ihren Unterhaltungen teilen, werden jäh von ihrem Tod unterbrochen – Gervaise wird im Roman zur ultimativen Passionsfigur stilisiert, von deren Leiden inmitten des aufgeklärten Kontinentaleuropas man en passant Notiz nimmt, es jedoch sogleich wieder vergisst.

Die Leser fühlen sich vor allem anhand von Gervaise an Émile Zolas beeindruckenden Arbeiterroman L’Assommoir (1877) erinnert, worin der Begründer des Naturalismus für sich in Anspruch nimmt, als erster das wahre Arbeiterleben rund um die Rue Goutte-d’Or in Paris, also dem Viertel, das auch Aouine zum Schauplatz erhebt, ungeschönt darzustellen. Und genau wie Gervaise Coupeau von ihrem Milieu ausgebeutet, von den Männern um sie herum zur fleischlichen Ware degradiert wird, bis sie schließlich den Hunger- und Kältetod stirbt, ist die Prostituierte Gervaise das Opfer ihres kriminell organisierten Milieus. Im Unterschied zu ihrer Berufsvetterin Nana, deren Leben Émile Zola in Nana (1880) porträtiert, schafft sie es nicht, sich an den Männern zu rächen. Deshalb verwundert es nicht, dass Aouine ihrer Protagonistin nicht den Namen Nanas, sondern den ihrer Mutter gibt. Familiär verbunden sind Gervaise und Nana, wie in Zolas Vorlagen, jedoch auch bei Aouine. Gervaises Tochter, die in Afrika lebt, heißt, wie bereits berichtet, ebenfalls Nana.

Sofia Auoine legt einen Erstlingsroman vor, der nicht nur aufgrund seiner naturalistischen Anleihen, die gekonnt inszeniert werden, besticht. Die Kraft der Erzählung liegt auch nicht allein in der analytischen Schärfe hinsichtlich der aktuellen Problemlagen innerhalb der französischen Gesellschaft begründet. Stattdessen tut es dem Roman gut, dass der phasenweise pessimistische Grundtenor durch die humorvolle Ehrlichkeit des dreizehnjährigen Ich-Erzählers kontrastiert wird, dessen Leben nicht ausschließlich um das Elend kreist, sondern um die jugendlichen Erfahrungen der Entdeckung der eigenen Sexualität und des Verliebtseins. Sofia Aouine legt ein faszinierendes Werk vor, dem der Spagat zwischen ernster Sozioanalyse und heiterem Coming of Age in schwierigen Lebensbedingungen auf vorzügliche Art und Weise gelingt.

 

Sofia Aouine: Rhapsodie des oubliés, Paris: Éditions de la Martinière 2021, 208 S.

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