Es passiert ja immer wieder, dass Theateradaptionen von französischen Romanen auch auf den Bühnen hierzulande zu sehen sind. So wurde beispielsweise im vergangenen Jahr Gabriel, der Dialogroman von George Sand, einer der umtriebigsten französischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, in Karlsruhe gespielt, die Erfolgstrilogie Vernon Subutex von Virginie Despentes wurde schon mehrfach, u.a. auch als Puppentheater, aufgeführt und Houellebecqs Skandalbuch Soumission (dt. Unterwerfung) war vor einigen Jahren ein absoluter Kassenschlager auf den Bühnen von Berlin und Hamburg. Nicht überraschend also, dass nun auch die Theaterfassung des Romans Leurs enfants après eux (2018, dt. Wie später ihre Kinder) des Goncourt-Preisträgers Nicolas Mathieu im Staatstheater Saarbrücken anlief, die sich unser Gastautor Moritz Heß nicht entgehen lassen wollte.
Auf dem Weg von Landau nach Saarbrücken. Abwechselnd landwirtschaftliche, dörfliche und kleinstädtische Gegenden; Gespräche über die Geschichte des Saarlandes, Kohle und Stahl, vom Bergbau geprägte Dörfer, ein Haus wie ein anderes… Vor Beginn des Stücks ein Spaziergang durch das geliebte Nauwieser Viertel, ein Wegbier („Fuß-Pils“) von Peace Kebab – dringende Empfehlung! Dann ins Theater Alte Feuerwache. Das Licht geht aus, es wird still, das Ensemble betritt die Bühne.
Das Erste, was mir entgegenschlägt, ist Wut. Ich weiß nicht so recht, woher sie kommt, kann mir auch nicht erklären, wieso diese Menschen da so wütend sind – oder sind sie es überhaupt? – noch erinnere ich mich, dass dieser Affekt, diese Stimmung im Roman so präsent gewesen wäre. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler stehen in einer Linie am vorderen Bühnenrand dem Publikum direkt gegenüber. Sie bilden das ‚Erzählkollektiv‘, so bezeichnet, weil sich die Rollen nicht eindeutig auf die einzelnen Darsteller:innen verteilen und weil diese nicht nur die Figuren, sondern auch die Erzählstimme verkörpern. Zwei Frauen und zwei Männer, vermutlich zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, sowie ein Mann und eine Frau, schätzungsweise um die fünfzig, schauen uns an oder zumindest in unsere Richtung. Mit den ersten Sätzen der Romanvorlage Leurs enfants après eux in deutscher Übersetzung eröffnen sie das Stück. Die Stimmen sind energisch, die Vortragsweise leidenschaftlich und eindringlich. Da ich den Roman bereits kenne, habe ich eine Vermutung, was mich erwartet: Über vier Sommer hinweg werden die Irrungen und Wirrungen verschiedener Jugendlicher mit unterschiedlichen biographischen und sozio-kulturellen Hintergründen entfaltet. Gemessen an der erzählten Zeit ist die Narration dabei denkbar handlungsarm. Es wird viel gekifft, ein Motorrad geklaut, zum ersten Mal rumgemacht, eine Fußball-WM geschaut. Dass das Lesen trotz relativer Ereignisarmut überhaupt nicht langweilig war, lag an der Erzählkunst von Nicolas Mathieu, dessen empathisches Verständnis der einzelnen Figuren sowie sein Gespür für soziale Differenzen auf dem Papier einen regelrechten Sog entwickeln. Funktioniert das auch auf der Bühne?
Ich erkenne Anthony (Silvio Kretschmer) und seine Eltern Hélène (Christian Motter) und Patrick Casati (Fabian Gröver). Auch Stéphanie ‚Steph‘ Chaussoy (Verena Maria Bauer), die Tochter des Bürgermeisters und künftige Geliebte Anthonys, erkenne ich wieder, sowie Hacine (Lucas Janson), dessen Vater Malek Bouali (Philippe Journo) erst später auftreten wird. Anthonys Cousin, durchweg nur ‚der Cousin‘ genannt, wird zu diesem Zeitpunkt von Laura Trapp dargestellt, die auch Stephs Freundin Clémence Durupt verkörpern wird. Spätestens dann wird klar: nicht in, sondern mit den Geschlechtergrenzen wird hier gespielt. Dass sich ausgerechnet Clémence und ‚der Cousin‘, die noch eine Beziehung eingehen werden, eine Darstellerin teilen, mag praktische Gründe haben, treibt das sex versus gender-Spiel jedoch auf die Spitze. Als Anthonys Eltern plötzlich zu feiernden Teenagern werden, wird ersichtlich, dass auch die Generationengrenzen zeitweise verschwimmen. Wer spielt hier eigentlich wen? könnte man fragen. Oder: Wer ist hier eigentlich wer? Und schließlich: Wo endet die Rolle, wo beginnt der Mensch dahinter? Das Individuelle und das Kollektive durchdringen einander und die Fragerei endet selbstverständlich nicht am Bühnenrand – wir alle spielen schließlich Theater.
Damit stehen bereits einige der zentralen Fragen im Raum, die das Stück aufzuwerfen vermag: Welchen Einfluss hat der Zeitpunkt, welchen Einfluss haben der geographische und der soziale Ort unserer Geburt auf unsere Entwicklung, unsere Entscheidungen – unser Leben? Kann von ‚Entscheidungen‘ überhaupt die Rede sein? Das Stück dekonstruiert sie eher, die „angenehme Fiktion vom freien Menschen“. Die verzweifelten Versuche, Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen, sind ziellos und verlaufen somit ins Leere: „Der Profit schien den Tod auf Abstand halten zu können“. So tritt Konkurrenz an die Stelle der Solidarität, als deren klägliches Überbleibsel die ehemalige Gewerkschaftszugehörigkeit der beiden Väter kurz aufblitzt. Doch die Hoffnungen in Meritokratie und Liberalismus werden enttäuscht – entgegen der Verheißung bleibt nur ein „Fingerschnippen von der Jugend bis zum Friedhof“. Zumindest für Anthony und Hacine ist ans Sterben allerdings noch nicht zu denken. Sie stehen erst einmal vor der Herausforderung, ihre Sommerferien nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Es muss doch mehr geben als diese gähnende Leere und drückende Hitze! Das Motorrad wird, wie auch im Roman, zum Sinnbild der Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. Das Erzählkollektiv erweckt den Geschwindigkeitsrausch sprachlich zum Leben. Während Anthony in halsbrecherischem Tempo die Landstraße entlangbrettert, werden auf die Stoffbahnen im Hintergrund abwechselnd Filmaufnahmen von ländlichem Grün und eintöniger Dorfkulisse projiziert. Die im minimalistischen Bühnenbild versetzt aufgehängten Stoffbahnen werden im Laufe des Stückes nach und nach weniger – mal voller Wut heruntergerissen, mal sorgsam gefaltet. Sukzessive wird so die kleinbürgerliche Fassade dekonstruiert, wird das Gewebe des gezeigten Gesellschaftsausschnitts durchdrungen und in Fetzen gelegt. Die Projektion muss auf dahinterliegende Flächen ausweichen.
Anthony fährt und fährt. Nur weg hier! Aber wohin? Also wieder zurück, zum Kiffen an den See, in der Hoffnung, ein paar Mädchen zu treffen oder wenigstens aus der Ferne zu bestaunen. Er und der Cousin haben Glück. Zwar wird das Haschisch knapp, aber mit Steph und Clémence lassen sich tatsächlich zwei echte Mädchen blicken und das Wenige wird geteilt. Wie aus dem Nichts kündigt sich sogar eine Party an – auf der sich dann allerdings der Motorraddiebstahl zuträgt, der zum Katalysator für den tragischen Fortgang auf allen Ebenen wird. Einen schrecklichen Höhepunkt erreichen die Folgen des Diebstahls in Maleks Reaktion auf die Tat seines Sohnes, von der er gerade durch Anthonys Mutter erfahren hat. Die Gewalthandlungen werden vom Hacine-Darsteller narrativ entfaltet – wieder und wieder schlägt der Vater mit einem Schaufelstiel auf seinen am Boden kauernden Sohn ein. Statt die Misshandlung tatsächlich vorzuspielen, faltet der Schauspieler Maleks währenddessen eine der weißen Stoffbahnen – schweigend und konzentriert.
Einige Zeit später, als die Leute ringsherum zu sterben beginnen, führt die Beerdigung eines gemeinsamen Bekannten die Väter Malek und Patrick noch einmal zusammen. Beide freuen sich sichtlich über das Wiedersehen. Doch sie sprechen verschiedene Sprachen, wenn auch beide Französisch. Sie reden aneinander vorbei und verpassen so die Chance zu Versöhnung. Werden die Söhne Hacine und Anthony ihre noch bekommen und nutzen können? Kurz vor der Pause nimmt das Stück dann noch einmal Fahrt auf. Während das Thema der Langeweile bisher über weite Strecken zum Programm erhoben wurde – es zog sich, und das musste so sein – überschlagen sich jetzt beinahe die Ereignisse: Patrick fängt das Trinken wieder an und schlägt Hacine die Zähne aus. Nachdem zuerst Anthony die gesamte Verantwortung für die unglücklichen Wendungen im Hause Casati auf sich nehmen musste (kein Motorrad – keine Familie!), hat Patrick endlich einen neuen Schuldigen für das Scheitern seiner Ehe, ja seines Lebens gefunden.
Pause: Anstellen an der Theater-Bar? Eher nicht. Also wieder raus ins Nauwieser Viertel, noch ein Bier auf die Hand – dringende Empfehlung! Pfand abgeben an der Theaterbar? Geht! Und wieder rein.
Das Ende der Sommerferien rückt näher. Es sind die letzten für Anthony. Ihm steht der Ernst des Lebens bevor. Hier wird sich der Übergang von einer Generation zur nächsten markiert, und eine weitere Frage drängt sich auf: Wann werden Kinder zu Erwachsenen? Die Antwort: ziemlich genau – jetzt. „Für Anthony war die Kindheit vorbei. Die Gesellschaft hatte die Geduld verloren. Zweite Chancen gab es nicht mehr“. Durch die sonderpädagogische Brille, die ich kaum ablegen kann, sehe ich Anthony den Schüler, der er gerade noch war, und den Vater, der er schon sein oder bald werden könnte, zugleich. Wie lange sind wir bereit, die Handlungen eines Menschen, als biographisch geprägt, als ihre bestmögliche Anpassungsleistung, als Lösungsversuche anzuerkennen? Wann gehen wir dazu über, sie nur noch als Erwachsene zu begreifen, die ihr Leben längst im Griff haben müssten und eben einfach ‚selbst schuld‘ sind? Jeder ist schließlich des eigenen Glückes Schmied. Oder?
Während die Aufführung die dritte Stunde füllt, wird mir klar: Diese Wut – la colère! – sie war die ganze Zeit da. Unterschwellig zumeist. Doch wieder und wieder brach sie sich Bahn. Ein Vater verprügelt seinen Sohn. Ein Jugendlicher erschießt beinahe einen anderen Jugendlichen. Ein anderer Vater erniedrigt seinen Sohn (ungewollt?), indem er ihn nötigt, sich auszuziehen und einen Gartenschlauch auf ihn richtet, aus dem sich kaltes Wasser ergießt. Dieser Vater ist es auch, der einen migrantischen Jugendlichen blutig schlägt. Und dieser Jugendliche wiederum wird tatenlos dabei zusehen, wie sich sein Aggressor im See ertränkt. Betrinken, ertränken, ertrinken – weitere fließende Übergänge. Ebenso fließend wie der Wechsel von Täter zu Opfer.
Wut ohne Worte. Perspektivlosigkeit. Aggression. Gegenaggression.
„Allez, idiots de pauvres, entretuez-vous!“, will ich Ihnen mit den Worten Patrice’ aus meinem Lieblingsroman Vernon Subutex von Virginie Despentes zurufen. Tötet euch alle gegenseitig – alle für keinen und alle gegen alle. Mit Alfred Lorenzer versuche ich ihr Leid zu begreifen: als „soziales Leid, das den Menschen angetan wurde und das sie selbst nicht mehr auszusprechen vermögen, weil die Verhältnisse sie sprachlos gemacht haben; weil sie ihr Unglück, ihr Elend, die gesellschaftlich hergestellt sind, nur noch erleiden, jedoch nicht mehr erkennen können“ (Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse). In Anbetracht der Aussichtslosigkeit muss Betäubung her. Alkohol und Haschisch werden zum ‚Opium für das Volk‘. Anders scheint das alles kaum auszuhalten. Und die Liebe? Von ihr kaum eine Spur. Immerhin – eine kleine, allerdings nicht von Dauer. Nach dem Fest am See verabreden sich Anthony und Steph zu einem Treffen in der Pampa. Scherben, Gestrüpp und Dreck trennen die Kulisse vom ‚lieblichen Ort‘. Doch hier können sie ungestört zu zweit sein. Nur um nicht alleine zu sein? Anthony zumindest scheint ernsthaft verliebt. Und Steph? Scheint ein Stereotyp umkehren zu wollen und nimmt sich, worauf sie Lust hat. Die beiden steigen in den See, ziehen einander aus und für einen Moment sind sie sich ganz nah. Nachdem Steph sich genommen hat, was sie wollte, ist die Distanz zwischen ihnen unerträglich groß. Obwohl sie Körper an Körper im Wasser treiben, stehen sie auf der Bühne meterweit auseinander. Nackt und schrecklich einsam. Ein trauriges Bild und für mich der berührendste Moment im ganzen Stück. Nach drei Stunden endet eine beeindruckende Inszenierung, die der Romanvorlage nicht nur gerecht wird, sondern darüber hinaus die Möglichkeiten der Bühne – auch dank bestaunenswerter schauspielerischerer Leistungen! – für sich zu nutzen weiß.
Die Theateradaption Wie später ihre Kinder ist noch bis zum 23. Juni 2023 im Staatstheater Saarbrücken zu sehen.
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