Urlaubszeit ist Lesezeit. Insbesondere dort, wo es mehr Kühe als Menschen gibt, mehr Wiesen als Häuser und deutlich mehr Ruhe als Stress. Mitten im Cantal, der Heimat berühmter Käsesorten und der Schriftstellerin Marie-Hélène Lafon, bin ich auf einige literarische Reisen gegangen: nach Japan, New York und Guinea. Jede dieser Reisen war anders, aber jede hat sich auf ganz eigene Weise gelohnt. Hier meine Eindrücke:
Amélie Nothomb: L’impossible retour (2024)
Ich war noch nie in Japan und hatte auch ehrlich gesagt nie den dringenden Wunsch, dieses Versäumnis zu beseitigen. Als Kind war das noch anders. Mein Onkel mütterlicherseits war beruflich oft im ‚Land der aufgehenden Sonne‘ unterwegs und schickte hin und wieder eine Postkarte mit dem Fujiyama, einem prächtigen Tempel oder der berühmten Kirschblüte. Eine dieser Postkarten im XXL-Format hing sogar eingerahmt in unserem Treppenhaus. Der Fujiyama hatte mir es irgendwie angetan. Doch der Wunsch, diesen meist schneebedeckten Vulkan einmal in natura zu sehen, verschwand im Laufe der Jahre gemeinsam mit den geliebten Playmobilfiguren auf Nimmerwiedersehen.
Während der Lektüre des jüngsten Romans L’impossible retour von Amélie Nothomb kam es zu einer unerwarteten Wiederkehr meiner kindlichen Träume, da die Autorin darin eine Reise nach Japan schildert, in jenes Land, in dem sie einst große Teile ihrer eigenen Kindheit und zwei Jahre ihres Erwachsenenlebens verbracht hatte. Der Vater von Amélie Nothomb war jahrelang als belgischer Diplomat in Tokyo tätig und später dann auch in anderen Ländern, weshalb das Leben der jungen Autorin von häufigen Ortswechseln geprägt war. Wie sie zu Beginn von L’impossible retour schreibt, habe sie diese Rastlosigkeit regelrecht traumatisiert, insbesondere ihr Abschied von Japan im Alter von fünf Jahren. Daher habe sie nach ihrem Umzug von Belgien nach Paris nie wieder den Wunsch verspürt, ihre neue Heimat zu verlassen, so wie sie auch sonst ihre Reisetätigkeiten auf ein Minimum beschränkt. Warum also eine Rückkehr in das Land ihrer Kindheit? Eine ihrer besten Freundinnen, die Fotografin Pep Beni, hat einen Preis für ihr Werk erhalten, zu dem eine Fernreise für zwei Personen gehört. Sie schlägt also Amélie vor, eine Reise nach Japan zu machen, eine bessere Begleitung könne sie sich nicht vorstellen. Nach anfänglichen Zweifeln willigt Nothomb ein, und die beiden brechen im Mai 2023 erst nach Kyoto auf und fahren dann weiter nach Tokyo. Man könnte also sagen, dass es sich bei L’impossible retour um einen klassischen Reisebericht handelt, wovon ich auch über die Hälfte des Textes ganz selbstverständlich ausgegangen war. Bis ich dann irgendwann doch etwas mehr über die mitreisende Fotografin erfahren wollte und den Namen „Pep Beni“ bei Google eingab. Die eher spärlichen Suchergebnisse verwiesen mich allesamt auf den Roman L’impossible retour von Amélie Nothomb, was bedeutet, dass es diese Fotografin offenbar gar nicht gibt. Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben: Entweder hat Nothomb ihrer Reisegefährtin ein Pseudonym verpasst oder sie existiert schlicht nicht. In den zahlreichen Interviews, die man im Netz findet, wird dieses Rätsel nicht wirklich aufgelöst. Da die Reise aber offenbar tatsächlich stattgefunden hat – zumindest das legen Nothombs Aussagen nahe – gehen wir mal von der Pseudonym-Hypothese aus. Unterm Strich ist das auch gar nicht so wichtig, da wir Vexierspiele die eigene Biografie betreffend von der belgischen Autorin durchaus gewohnt sind. Vor allem aber ist es egal, da es sich bei L’impossible retour, dem 33. Roman von Nothomb um ein regelrechtes Juwel der Reiseliteratur handelt. Die beiden Hauptfiguren könnten unterhaltsamer kaum sein. Pep hat offenkundig große Schwierigkeiten, sich in die japanische Kultur der höflichen Spiritualität einzufinden und sorgt in regelmäßigen Abständen für kleinere und größere Irritationen im Umgang mit Hotelangestellten, Kellnerinnen oder Schaffnern. Ihre Hausstaubmilbenallergie ist dabei nur ein Auslöser für solche scheinbar unüberwindbaren interkulturellen Konflikte. Die Japan-Kennerin Nothomb hingegen fungiert immer wieder als Friedensrichterin zwischen den Kulturen und verhindert mit ihrer diplomatischen Vorprägung Schlimmeres. Diese meist dialogisch konstruierten Abschnitte gehören sicherlich zu den komischsten des Buches und werden geschickt kombiniert mit Szenen der inneren Einkehr. Die Passagen nämlich, in denen Nothomb allein in ihrer alten Heimat unterwegs ist, dienen vor allem der kontemplativen Erinnerung bzw. den Erinnerungsversuchen an die eigene Kindheit. Hierbei spielt der vor einigen Jahren erst verstorbene Vater eine Schlüsselrolle, mit dem sie als kleines Kind ein nahezu märchenhaftes Japan entdeckt und kennengelernt hat. Nicht ohne Grund ist das Wort „Nostalgie“ eines der häufigsten des ganzen Romans. Als junge Frau Anfang zwanzig wollte sich Nothomb sogar dauerhaft in Tokyo niederlassen, musste dieses Experiment aber nach zwei Jahren abbrechen, da sie letztlich an den kulturellen Unterschieden gescheitert ist. An dieser Erfahrung des Scheiterns hat sie seither lebenslang zu knabbern, und so erklärt sich auch, warum der Titel des Romans die „unmögliche“ Rückkehr beschwört. Es ist genau diese Mischung aus beinahe filmisch erzählten komischen Konflikten und zarten proustianisch anmutenden Erinnerungskaskaden, die aus L’impossible retour eines der schönsten Bücher der letzten Rentrée machen. Man könnte auch sagen: Japan ist Nothombs Venedig. Absolute Leseempfehlung!
Céline Spierer: Noyade (2023, dt.: Bevor es geschah, 2024)
In Noyade wird zwar nicht gereist, aber immerhin spielt sich die Handlung im großbürgerlichen Milieu in der Nähe von New York ab und erlaubt daher immerhin mir und anderen nicht dort beheimateten Lesern das gedankliche Reisen. Dort lebt auch die Schweizerin Céline Spierer, deren zweiter Roman nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Die aus Genf stammende Autorin hat vor ihrer Karriere als Schriftstellerin in New York Filmwissenschaften mit dem Schwerpunkt Drehbuchschreiben studiert – viel mehr Informationen über Spierer findet man (noch) nicht im Netz, aber für die Lektüre ihres Romans ist das auch vollkommen ausreichend. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe wirbt ein Zitat von France 2 für den Roman: „Ein richtiger Pageturner. Absolut genial konstruiert“. Mein Urteil: Pageturner ja, genial konstruiert – na ja. Ich habe die 256 Seiten an zwei halben Tagen weggelesen und mich dabei keine Sekunde gelangweilt. Für eine Urlaubslektüre also gar nicht schlecht. Ich habe allerdings alle zehn Seiten gedacht: Das kenne ich doch schon, ach, jetzt kommt auch noch diese Enthüllung, nee, dieses Stereotyp wäre jetzt wirklich nicht auch noch nötig gewesen. Eine Lektüre in etwa so wie gut gemachtes Fastfood: Man weiß genau, was man bekommt, und musste sich beim Kochen nicht mal besonders anstrengen. Worum geht’s?
Noyade beginnt mit einer Art Prolog: Ein Kleinkind betritt einen Swimmingpool, greift nach einer vorbeifliegenden Libelle und verliert den Boden unter sich. Es droht zu ertrinken. Aus dem Hintergrund eilt nach wenigen Augenblicken ein Erwachsener herbei und fischt den leblosen Körper aus dem Wasser. Dann setzt mit „Sept heures avant (Sieben Stunden zuvor)“ die eigentliche Handlung ein. Schon dieser suspense-heischende Anfang kommt einem bekannt vor, wenn man z. B. Chanson douce (2016, dt.: Dann schlaf auch du) von Leïla Slimani gelesen hat. Auch hier haben wir es gleich zu Beginn mit zwei toten Kleinkindern zu tun, die ermordet wurden, bevor der Roman mit der Vorgeschichte zu dieser bestialischen Tat einsetzt. Dabei handelt es sich um ein ein Familienbarbecue im Hause der verwitweten Matriarchin Elisabeth Haynes, die einmal im Jahr ihre vier Kinder mitsamt Anhang in ihrem feudalen Anwesen empfängt. Zur Haynes-Dynastie gehören der älteste Sohn Winston und seine Frau Mathilde (die Eltern des kleinen Jungen), dann die Tochter Jacquelyn mit Mann Lucas und ihren zwei pubertierenden Töchtern, Sohn Sean mit seiner schüchternen Ehefrau Emma und schließlich die aufmüpfige TochterRose mit Ehemann Raj, einem indischen Arzt. In den zahlreichen Rückblenden gehören noch der verstorbene Patriarch Alastair Haynes und dessen Bruder John zum Familieninventar. Wir haben es bei Noyade also mit einem Familienroman zu tun, der im Rahmen eines Familienfests den Abgründen der einzelnen Mitglieder auf die Spur geht – davon gibt es erwartungsgemäß mehr als genug: Missbrauch, Ehebruch, ungewollte Schwangerschaften, Drogensucht, eine verheimlichte Demenzerkrankung, ein gestohlenes Patent, ein Unfall mit Fahrerflucht, ein Mord, etc. Gewürzt wird dieses Panoptikum der Grausamkeiten mit den üblichen familiären Konflikten und Gefühlslagen, die man von einem solchen Zusammentreffen erwartet: Verachtung, Gleichgültigkeit, Neid, Zuneigung, Mitleid, Langeweile. Man kennt all das, wenn man – wie ich – ein großer Fan von Familiendramen made in Hollywood (oder anderswo) ist. Um nur ein paar zu nennen: Familienfest und andere Schwierigkeiten (Regie: Jodie Foster, 1995), Im August in Osage County (Regie: John Wells, 2013), Einfach das Ende der Welt (Regie: Xavier Dolan, 2016) oder Die Nacht, als Laurier erwachte (Regie: Xavier Dolan, 2022). Das Strickmuster ist in all diesen Filmen ähnlich: Die Familie kommt nach längerer Pause zusammen, man streitet sich, Abgründe werden aufgedeckt, über allem wacht die gefühlskalte Matriarchin, die selbst ihr Päckchen zu tragen hat. Wir haben in dieser Rolle Anne Bancroft erlebt, Meryl Streep, Nathalie Baye und Anne Dorval. In all diesen Filmen wird das Zuhause als Huis Clos geschildert, in der die jeweils anderen die Hölle für jeden einzelnen sind: „L’enfer c’est les autres“ – das wusste schon Jean-Paul Sartre, und das macht sich auch Céline Spierer zu eigen. Nichts, aber wirklich gar nichts lässt sie aus. Mithilfe wechselnder Erzählperspektiven werden nach und nach Familiengeheimnisse gelüftet, immer mehr droht das gemeinsame Barbecue zu eskalieren. Und auf jeder einzelnen Seite schreit der Roman förmlich nach seiner eigenen Verfilmung! Liebhaber des Genres werden also keineswegs enttäuscht, aber – und das ist das große Manko dieses Romans – auch niemals überrascht.
Azouz Begag / Mamadou Sow: Népour partir. Récit de Mamadou, migrant mineur de Guinée (2023)
Die Reise, die in Né pour partir (dt.: Geboren, um wegzugehen) geschildert wird, ist keine freiwillige. Sie ist ca. 10.000 km lang und dauert rund vier Jahre. Im Rahmen des Projekts „Auteurs solidaires“der SACD (Société des auteurs et des compositeurs) lernt der Kinder- und Jugendbuchautor Azouz Begag den 20-jährigen Schüler Mamadou Sow kennen, einen Geflüchteten aus Guinea. Dieses einjährige Projekt, das mit Jugendlichen in Lyon durchgeführt wurde, stand unter dem Motto „Raconte-moi ta vie!“ (dt.: Erzähl mir dein Leben!). Das Buch Né pour partir ist das gemeinsame Produkt dieser Aktion. Mamadou erzählt darin seine Fluchtgeschichte, während Begag – so der Klappentext – als sein Sprachrohr („son porte-plume“) fungiert.
Azouz Begag selbst ist schon seit den 1980er Jahren erfolgreicher Autor von Kinder- und Jugendbüchern, einige davon wurden auch ins Deutsche übersetzt. Darunter sein Debütroman Le gone du Chabâa (1986; dt.: Azouz, der Junge vom Stadtrand. Eine algerische Kindheit in Lyon, 2001), in dem Begag von seiner Kindheit in einem Wellblechhüttenghetto in der Banlieue von Lyon in den 1960er Jahren erzählt. Seine Eltern waren Ende der 1940er Jahre aus Algerien nach Frankreich geflüchtet, d. h. das Thema Migration spielt sowohl in seinem Leben als auch in seinen literarischen und wissenschaftlichen Texten eine hervorgehobene Rolle. Auch in einigen Studien hat sich der promovierte Soziologe mit der Situation von nordafrikanischen Migranten in Frankreich beschäftigt. Last but not least hat sich Begag auch einen Namen als Politiker gemacht, war er doch von 2005 bis 2007 beigeordneter Minister für die Förderung von Chancengleichheit unter Premierminister Dominique de Villepin und Staatspräsident Jacques Chirac. Seine Amtszeit war getragen von einem leidenschaftlichen Engagement gegen Diskriminierung und für mehr Diversität sowie von einigen Konflikten mit dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy. In jüngster Vergangenheit hat sich Begag mehr seiner schriftstellerischen Tätigkeit gewidmet und ist u. a. regelmäßiger Gast im Kinder- und Jugendprogramm des Berliner Literaturfestivals. Gerade erst ist Begag für Né pour partir mit dem Prix des lycéens ausgezeichnet worden. Für diesen Literaturpreis lesen deutsche Oberstufenschüler und
-schülerinnen drei französische Jugendromane und bestimmen anschließend den Gewinnerroman. ImJuni schließlich kommt Azouz Begag für mehrere Lesungen nach Landau, wo er sowohl an Gymnasien als auch im Rahmen des Salon littéraire aus seinem prämierten Gemeinschaftswerk vorlesen und sich den Fragen des Publikums stellen wird.
In Né pour partir erzählt Mamadou Sow, der sich im Buch Kali nennt, in 15 Kapiteln von den Etappen seiner Flucht. Als 15-Jähriger startet er allein seine Reise in Pilimini, einem kleinen Ort in Guinea, um seinem todkranken Vater in Europa Krebsmedikamente zu besorgen. Ziel ist Lyon, wo ein Cousin von Mamadou wohnt, d. h. es liegen rund 10.000 Kilometer vor dem Jungen, der nur wenig Geld, kein Handy und keine gültigen Papiere mit sich führt. Der Weg führt zunächst über Mali nach Algerien, dann nach Libyen, von dort über Italien schließlich nach Frankreich. Es sind insbesondere die Etappenüber den afrikanischen Kontinent, die immer wieder von Gewalt, harter Arbeit und großer Angst geprägt sind. Man bekommt als Leser einen guten Eindruck, dass sich entlang der Fluchtrouten mit dem Ziel Europa eine regelrechte Schleuser-Industrie etabliert hat, für die jedoch das einzelne Menschenleben nur wenig zählt. Sein jugendliches Alter ist für Mamadou Fluch und Segen zugleich: Nur allzu leicht lässt er sich zu Beginn der Reise sein Geld von Betrügern abknöpfen, aber andere zeigen sich dem Jungen gegenüber barmherzig und helfen ihm, so gut es geht. Dramatischer Höhepunkt dieser Odyssee ist sicherlich das Überqueren des Mittelmeers in einem Schlauchboot mit 120 weiteren Geflüchteten – die meisten wie Mamadou Nichtschwimmer. Sie haben am Ende Glück und werden von einem Rettungsboot des Roten Kreuzes aus dem Meergefischt. In Europa endet zwar für Mamadou die Zeit der Todesangst, aber dafür beginnt nun die Zeit der Unsicherheit. Endlich in Frankreich angekommen, erfährt er als Erstes, dass sein Vater zwischenzeitlich gestorben ist. Da der Junge inzwischen volljährig ist, wird ihm auch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt, sondern die offizielle Aufforderung zugestellt, das Land zuverlassen. Dagegen legt Mamadou Widerspruch ein und geht in Lyon zur Schule, wo er begierig lernt, sich verliebt und eines Tages Azouz Begag kennenlernt. Das Ende dieser Heldenreise ist also noch offen.
Auch wenn sich Né pour partir primär an ein jüngeres Publikum richtet, so ist der Roman doch deutlich mehr als eine typische Coming-of-Age-Geschichte für Jugendliche. Gerade in der heutigen Zeit, in der gefühlt mehr über Abschiebung als über Integration debattiert wird, kann ein Text wie Né pour partir dazu beitragen, die Migrations- und Asylproblematikvom Einzelfall bzw. vom Menschen her zu denken. Wenn wir nämlich Menschen wie Mamadou zuhören, werden aus Zahlen und Statistiken Lebewesen aus Fleisch und Blut mit ihren Träumen von einem besseren Leben. Begag selbst bezeichnet sich im Prolog als engagierten Schriftsteller und tatsächlich liefert seine eigene Geschichte und die von Mamadou das Plädoyer, Humanität walten zulassen, wo immer es geht.
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