Connemara? So heißt eine reizvolle, wild zerklüftete Region im Westen von Irland. Und es ist der Titel des neuen Romans von Nicolas Mathieu, der 2018 für Leurs enfants après eux mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet wurde und mit der Erzählung Rose Royal (2020) auch in Deutschland einen zweiten großen Erfolg verbuchen konnte. Connemara spielt wieder im Grand-Est, der im zentralistischen Frankreich einerseits Provinz, andererseits Region mit wirtschaftlichem Potenzial ist und in dieser Unbestimmtheit zum Schauplatz des Romangeschehens wird. Um Connemara geht es, wenn Michel Sardous mitreißender Song Les Lacs du Connemara von 1981 aus den Boxen schallt. Das jedoch geschieht erst spät in diesem umfangreichen und vielschichtigen Roman, und es ist anzunehmen, dass Connemara für mehr als ein Stück Irland stehen soll.
Erzählt wird die Geschichte von Hélène Poirot und Christophe Marchal. Beide sind so alt wie der Song, der vom DJ dann aufgelegt wird, wenn Erfolge abzufeiern sind, große Emotionen und Hoffnungen im Raum stehen: Schulabschlussball, Examen an einer Wirtschaftshochschule, Weihnachtsfeier im Unternehmen, ein großer Sieg im Sport, DAS Treffen auf dem Dancefloor, Hochzeit. Ein Stimmungshit also, und das ganz unabhängig von der Tatsache, dass es – neben Anleihen bei John Fords Film The Quiet Man mit John Wayne (1952) – in den Lyrics doch auch um die irische Geschichte, um religiöse und soziale Spannungen und den Bürgerkrieg zu Anfang der 1970er Jahre geht. Anders als in Deutschland kennen in Frankreich alle Les Lacs du Connemara – was übrigens auch in Yasmina Rezas Serge (2021) deutlich wurde.
Mathieus Connemara handelt von zwei Menschen, die in der Hälfte des Lebens eine erste Bilanz ziehen, und von Arbeitswelten, Aufstiegsträumen und dem Eishockey-Rausch, dem offenbar eine ganze Region verfällt. Hélène und Christophe sind small town kids aus der (fiktiven) Gemeinde Cornécourt in der Nähe der (realen) Kleinstadt Épinal, Präfektur des Departements Vogesen. Zu „Images d’Épinal“, zusammengesetzt aus naiven und traditionellen Szenen wie auf den gleichnamigen Bilderserien, werden ihre Geschichten freilich nicht. Es sei denn, man löst den idyllischen Glanz von den Bildern ab und reduziert sie auf das, was sie wirklich zeigen: das Triviale und Alltägliche. Hélène Poirot, ein Einzelkind, schämt sich schon ihres Familiennamens. Sie will einfach nur weg, raus aus ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus und weg vom alljährlichen Sommerurlaub in La Grande Motte. In der Familie ihrer Freundin Charlotte und im Ferienhaus auf der Ile de Ré lernt sie die feinen Unterschiede kennen und ebenso die kleinen Bosheiten und Dreistigkeiten der Reichen; die Mädchen schmökern erotische Literatur, hören endlos Platten und schwärmen für die Jungs von der heimischen Eishockeymannschaft. Hélène, mit den falschen Sneakers und einem schäbigen Rucksack, ist eine ausgezeichnete Schülerin; sie lernt Latein und zwei moderne Fremdsprachen und macht dann, dem Rat einer Lehrerin folgend, das naturwissenschaftliche „Bac S“. Weil im Grunde nur das zählt. Sie studiert in Lyon, wird Unternehmensberaterin in Paris, nimmt Komplimente und Anzüglichkeiten männlicher Vorstände hin und heiratet den erfolgreichen Philippe; das Ehepaar zieht zurück in die Gegend von Nancy, wohnt in einem Architektenhaus und bekommt zwei Töchter, Claire und Mouche. Philippe ist geschäftlich viel unterwegs und geistig oft abwesend, Hélène trägt den familiären mental load.
Christophe Marchal wächst mit einem älteren Bruder auf, kleinbürgerlich und behütet wie Hélène, die Mutter aber stirbt früh. Er bleibt in Cornécourt und ist der süßeste Eishockeyspieler weit und breit, „super cute“. Trainingseinheiten und Turniere bestimmen seinen Stundenplan, irgendwie macht er seinen Abschluss, hat keinen Plan und will auch nicht weg; aus einer chaotischen Beziehung stammt der kleine Gabriel. Christophe wird schließlich Vertreter für Hundenahrung und wohnt zusammen mit seinem Sohn und seinem verwitweten Vater, für den der Junge alles ist. Um beide kümmert sich Christophe liebevoll: um den Sohn, der heranwächst, und um den Vater, der geistig und körperlich abbaut. Christophe, der einstige Sportstar, schiebt eine ruhige Kugel, the quiet man.
Hélène kontaktiert Christophe, als beide um die 40 sind. Sie ist getrieben von „colère“ und einer „rage sourde“: Im Unternehmen wird sie von jüngeren Kollegen in ihrer Karriere ausgebremst; diese jonglieren entspannter mit den Gemeinplätzen des Managements – consulting, asset, business unit usw. –, und zeigen sich freitags, wenn der Dresscode aufgehoben ist, in Polos von Ralph Lauren oder Sweatshirts mit den Logos der französischen und amerikanischen Elitehochschulen, die sie besucht haben. Längst ist Hélène auch entfremdet von Philippe und auf der Suche nach dem emotional flash und erotischen Kick. Christophe, mittlerweile mit etwas weniger Haaren und ein bisschen mehr Bauchfett als damals, fühlt sich von Hélènes Nachricht geschmeichelt. Es folgt eine Affäre von großer Dringlichkeit, mit gutem Sex und der Lobpreisung körperlicher Vorzüge im Stil eines Blason. Eine Affäre, in deren Verlauf sich Hélène allmählich wieder auf die Welt einlässt, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte und scheinbar hinter sich gelassen hat: Eishockey, dörfliche Hochzeiten, schlecht geschnittene Anzüge, Saufereien. Wohin das am Ende führt und wie sich Hélène entscheidet, das muss man nachlesen.
Warum aber der Titel Connemara? In einem Interview mit Bärbel Brands äußerte sich Mathieu dahingehend, dass der geliebte oder auch ironisch belächelte Song als Teil des kollektiven Gedächtnisses den „harten Bruch“ symbolisiere, der Frankreich spalte und sich bei den Präsidentschaftswahlen 2017 erneut offenbart habe: Groß- und Kleinstadt, Absolventen renommierter Hochschulen und unterer Mittelstand, Globalisierungsgewinner und -verlierer. Wäre es nur dieses mittlerweile oft verhandelte Thema, wäre es vielleicht zu wenig für eine große Geschichte, zumal außerhalb Frankreichs kaum jemand die Verbindung zwischen den Seen von Connemara und den Lebensträumen junger Leute herstellen wird, die Konflikte in Irland sich nicht auf Frankreich übertragen lassen und es doch weit hergeholt scheint, sie auf die Differenzen zwischen Hélène und Christophe beziehen zu wollen. Und doch: Nur zweimal im ganzen Roman aufgelegt, entwickelt Michel Sardous Hit noch einmal einen ungeheuren Sog, tam, tatam, tatatatatam. Und wirkt dann als Katharsis. Denn die Seen von Connemara, wilde Natur, dräuende Unwetter und Widerstand sind nichts als Folklore und Illusion, Kulisse für „une épopée moyenne, la leur“ und „des lundis à n’en pas finir“.
Warum also folgt man gebannt dem Leben Hélènes und Christophes? Weil Connemara psychologisch und soziologisch stimmig und, bis auf einige Längen (über die Eishockey- und Unternehmenswelt), mitreißend erzählt ist, aus Sicht eines außenstehenden, doch mit den Gegebenheiten vertrauten Erzählers, der 40 Jahre überblickt und überdies Einblicke in die Innenwelt der Protagonisten gewährt. Und weil sich wieder, untermalt mit dem trägen Wiederkäuen der Kühe, die grundsätzlichen Fragen nach Lebensträumen und Lebensmöglichkeiten stellen, so wie es schon in Madame Bovary, einer Vorfahrin Hélènes, der Fall war. Am Ende bleibt die Frage, welcher Entwurf glücklicher macht, das unbedingte und anstrengende Fortkommen(wollen) oder das bequemere und genügsame Bleiben. Ob überhaupt etwas glücklich macht. Und wo das Zuhause ist und ob man es findet. Mathieu wirft diese Fragen auf, ohne sie eindeutig zu beantworten, und dadurch gewinnt die Erzählung über zwei mittlere Charaktere mittleren Alters, über ihre Familien, Arbeitskollegen und potes eine Gültigkeit, die über die Einzelschicksale in der französischen Provinz und Emmanuel Macrons Präsidentschaft hinausweist. Das gelingt, weil Mathieu ein meisterhafter Erzähler und Figurenbildner ist. Der über Erotik und Sex genauso gut schreibt wie über soziale Milieus und Stimmungen, und der sich, wie schon Flaubert, nicht nur in ein Männerleben, sondern auch in ein Frauenleben versetzen kann, ohne übergriffig zu sein oder sich – wie es heute heißt – dieses anzueignen. Und der trotz allem, im Unterschied zu seinem illustren Vorgänger, in der Literatur auch Zärtlichkeit und Menschenliebe gelten lässt.
Nicolas Mathieu, Connemara, Arles, Actes Sud, 2022, 396 Seiten (übersetzt von Lena Müller und André Hansen, Berlin, Hanser, 2022).
"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)
Dass Anne Webers neuestes Buch 'Bannmeilen' ein Roman ist, kann bezweifelt werden. Dass es aber auf fesselnde Weise von soziologischen „Streifzügen“ erzählt, das lässt sich nach der Lektüre und auch schon nach wenigen Seiten sagen. Gerade ist sie dafür in Münster mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis ausgezeichnet worden.