Mythos Medea-Komplex

Prune Antoines düstere Studie der Mutterschaft in 'Eine Frau in Deutschland. Der Fall Christiane K.'

Veröffentlicht am
4.8.2025
Lea Sauer

Lea Sauer

RPTU in Landau
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Wenn Annie Ernaux schreibt, bei einem Buch handle es sich um „eine überwältigende Geschichte“, wie es auf dem Klappentext von Eine Frau in Deutschland. Der Fall Christiane K. der deutsch-französischen Autorin Prune Antoine heißt, ist das im Grunde für alle, die sich für französische Literatur interessieren, ein Lesebefehl. So auch für mich, die hochschwanger über diesen schlichten Titel stolperte, der zunächst einmal wenig über die Tragik verrät, die sich dahinter verbirgt. Einige werden sich erinnern: Mitten in einem der Corona-Lockdowns, im Jahr 2021, schockiert eine Nachricht aus Solingen. Eine Frau, in den Medien fortan nur Christiane K. genannt, bringt zuerst fünf ihrer sechs Kinder um und wirft sich im Anschluss vor einen Zug. Schwer verletzt überlebt sie und muss sich für ihre Taten vor Gericht verantworten. Die Nachrichten über die „Todesmutter“ Christiane K. gehen um die Welt und ziehen dabei auch Prune Antoine, selbst gerade Mutter einer Tochter geworden, in den Bann. Medea heute – der Stoff ist alt, aber nicht weniger brisant als in der Antike, und auch, so stellt die Autorin heraus, nicht wesentlich intensiver erforscht als damals.

Was bringt eine Frau dazu, ihre eigenen Kinder zu töten? Was sagt dies über unsere Gesellschaft aus? Über die Vorstellungen von Mutterschaft, die hier vorherrschen? Was verrät es uns über das Bild der Frau, das wir haben? Und weil Christiane K. zu all diesen Fragen schweigt, stellt sie sich die Autorin Antoine selbst, verbindet sie mit ihren eigenen Erfahrungen als Mutter und Frau und legt so Schicht um Schicht des (deutschen) Muttermythos frei. Sie befragt das Umfeld, den psychiatrischen Gutachter, Gerichtsakten, sich selbst. Immer wieder versetzt sie sich auch in die Gedankenwelt von involvierten Personen, wie beispielsweise des ältesten Sohns von Christiane K., das einzige Kind, das überlebte, weil er zum entscheidenden Zeitpunkt in der Schule war. Zu den Personen zählt auch eine Sozialarbeiterin, die sich Gedanken darüber macht, ob sie früher etwas hätte bemerken können. Alles, um dem Motiv näherzukommen, den Gründen für die Tat. Da postpartale Depressionen ausgeschlossen werden können, denn dafür sind die Kinder schon zu alt, muss es etwas anderes sein. Hat es etwas mit dem Vater zu tun? Gab es eine Historie von Vernachlässigung und häuslicher Gewalt? Eine Abwärtsspirale, die an irgendeiner Stelle hätte gestoppt werden können?

Als eine Mischung aus narrative non-fiction und Fiktion, die ihrer eigenen Imagination entsprungen ist, bezeichnet Antoine ihren Stil. Narrative non-fiction ist ein Genre, das ursprünglich aus dem (amerikanisch-englischen) Journalismus stammt und somit Prune Antoine, die bislang eher durch teils preisgekrönte Reportagen aufgefallen ist, naheliegt. So erschienen erste Ausschnitte des Buches bereits im Nouvel Observateur und dem Schweizer Reportage-Magazin. Dass sie diese True-Crime-Elemente nun mit ihren persönlichen Eindrücken in der Art eines récit verwebt, ist durchaus von Gewinn. Und erinnert in seiner Form an ähnliche Bücher wie beispielsweise Maggie Nelsons Rote Stellen (2020) oder auch Emmanuel Carrères Gerichtsprotokolle des Prozesses der Pariser Anschläge V13 (2023), insbesondere dann, wenn sie nicht nur den Umgang mit der Täterin durch das Justizsystem analysiert, sondern auch die öffentliche Darstellung der Kindsmörderin durch die Medien. Die eingeschobenen erfundenen Monologe des Umfelds, wie beispielsweise vom Sohn oder Exmann der Täterin hätte es dabei gar nicht gebraucht, das Grauen ist auch so schon tiefgreifend genug.

Je weiter man fortschreitet in der Lektüre, desto deutlicher treten so die systemischen Probleme und Ungerechtigkeiten zutage, die die Tat bedingen, die auch noch im Strafprozess auf eine Ungleichbehandlung der Mörderin schließen lassen, weil sie als Frau und Mutter eben gegen alles verstoßen hat, was ihre gesellschaftliche Rolle für sie vorgesehen hat. So wird dem mutmaßlich gewalttätigen Mann positiv ausgelegt, dass er die Kleidergrößen seiner Kinder aus dem effeff aufsagen konnte. Was bei der Mutter als selbstverständlich gilt, wird beim Vater als Zeichen seiner besonderen Fürsorge interpretiert. Über die ‚Rabenmutter‘ Christiane K. hingegen wird öffentlich spekuliert, ob sie wirklich so fürsorglich gewesen sein kann, so wie sie sich kleidet, in Spaghettiträgertop mit freizügigem Dekolleté und offener Karobluse. Wie sie sich fühlt, fragt niemand. Christiane K. hat ganz offenbar jegliches Recht auf Milde, Mitgefühl oder auch nur den Willen, ihr Motiv verstehen zu wollen, verwirkt. Und so ist es ein deutlicher Gewinn, dass Antoine diese Lücke zu schließen versucht. Denn dass sich über das Thema anders schreiben lässt, beweist sie deutlich. So kommen durchaus auch überraschende Nuancen zutage, die das moralische Urteil über den Kindsmord abmildern, zumindest bei den Lesern und Leserinnen, die sich darauf einlassen. Denn Schwierigkeiten hatte Christiane K. durchaus – doch waren alle selbst verursacht und somit ihre eigene Schuld?

Als Jugendliche missbraucht und in der Schule gemobbt, wurde sie bereits mit sechzehn Jahren zum ersten Mal schwanger, geriet dann an die falschen Männer. Ihr letzter, mit dem sie die jüngsten vier Kinder bekam, war ein Alkoholiker, der sie immer wieder unangekündigt mit den Kindern allein ließ, und sie zwar nicht zusammenschlug, aber sie „schubste“, wie sie es formuliert. So hart, dass sie überall grün und blau war. Hinzu kommen Corona, möglicherweise die Überforderung, die Last der Sorgearbeit ohne ausreichende finanzielle Unterstützung vom Staat allein tragen zu müssen und ihr allgemeiner psychischer Zustand.

Doch auch ein Gender Bias im Justizsystem wird von Antoine deutlich herausgearbeitet. So zeigt sie beispielsweise auf, dass das Motiv der Heimtücke, das im deutschen Justizsystem einmalig ist und das auch im Fall Christiane K. zu einer besonders hohen Freiheitsstrafe führte, Frauen benachteiligt, insbesondere dann, wenn die Gewalttaten im Kontext von häuslicher Gewalt passieren. Denn weil Frauen in der Regel dem männlichen Gegenüber körperlich unterlegen sind, greifen sie tendenziell häufiger zu Gift, und werden in der Folge automatisch wegen heimtückischen Mordes angeklagt. Noch schauriger liest sich, dass bis heute bei der Bewertung von Kindsmorden auf die auf einen Forschungsbericht aus den 1970ern zurückgehende Analysekriterien zurückgegriffen wird. Unter ihnen auch der sogenannte Medea-Komplex, die Tötung der eigenen Kinder, um sich an seinem (Ex-)Partner zu rächen. Ohne dass es dafür ein männliches Äquivalent, geschweige denn wissenschaftliche Evidenz, gäbe. Auch ist nicht klar, ob Christiane K. zum Tatzeitpunkt wirklich zurechnungsfähig war. Immer wieder spricht sie von einem Mann, der in die Wohnung eingedrungen sein und den Mord verübt haben soll. Ist dies eine Ausrede oder ein Zeichen dafür, dass sie an einer Psychose beziehungsweise an einer dissoziativen Störung litt, die durch ihre eigenen Missbrauchstraumata ausgelöst wurde?

Es sind solche Details, die nachdenklich stimmen und die Eine Frau in Deutschland zu einer spannenden Lektüre machen. Die persönlichen Passagen sind dabei besonders stark, wenn Antoine beispielsweise von einer Abtreibung berichtet, für die sie unter anderem den Kommentar „shameless killer“, skrupellose Mörderin, erntet, und so aufzeigt, dass das „Argument“ vom Kindsmord nicht nur bei realen Tötungsdelikten verwendet wird. Bei der Beurteilung von Müttern und Kindsmorden schwingt also immer auch der Muttermythos mit, den Prune Antoine anhand dieser Schreckensgeschichte entlarvt. Das tut sie mit einer großen Gründlichkeit und Vielschichtigkeit.

Prune Antoine: Eine Frau in Deutschland. Der Fall Christiane K., übersetzt aus dem Französischen von Theresa Benkert, Berlin: Hanser, 2025, 256 S.. Im Original: Prune Antoine: La mère diabolique, Paris: Denoël, 2024.

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