Eins lässt sich mit Bestimmtheit nach der Lektüre des dritten, in Frankreich ausgezeichneten Romans der Autorin Emma Becker sagen: La Maison (2019, dt.: 2020) provoziert ein vielfältiges Spektrum an verschiedensten Leseeindrücken und -reaktionen, die zwischen Erschrecken, Ekel, Erstaunen, Mitleid, Kopfschütteln, Verwirrung, beherztem Lachen und Faszination oszillieren. Angesichts der Radikalität des Selbstexperiments, von dem Emma Becker in ihrem autofiktionalen Werk berichtet, mag diese Koinzidenz unterschiedlicher Gefühlslagen keinesfalls verwundern: Die Autorin hat knapp zwei Jahre lang als Sexarbeiterin in zwei deutschen Bordellen gearbeitet. Die ausschließlich literarischen Milieuerkundungen ihrer prominenten, zumeist männlichen Vorläufer zwischen Romantik und Naturalismus (etwa Dumas fils, Balzac, Zola und Maupassant) übertrifft sie mit diesem Engagement bei Weitem.
Emma Becker ist ein beeindruckendes soziales Porträt gelungen, das in erster Linie durch die Lebendigkeit der Protagonisten besticht. Sie zeichnet ein vielstimmiges Panorama, in dem ihre Kolleginnen und ihre Kunden zu Wort kommen. Als Lesende begleiten wir die Protagonistin Emma alias Justine, wohinter sich auch eine literarische Anspielung verbirgt, in die einzelnen Zimmer, in denen die Kunden mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte warten. So bleibt gleich Thibault, Justines erster Kunde, in Erinnerung. Emma Becker lässt uns an der Gefühlswelt Thibaults teilnehmen, wenn er seine selten werdenden Besuche damit erklärt, dass er sich einer Herzoperation habe unterziehen müssen und vor nicht allzu langer Zeit seinen Vater beerdigt habe. Becker lässt keinen Zweifel daran (oder weckt die Illusion?), dass das Verhältnis zwischen „Stammkunden“ und den arbeitenden Frauen über eine ökonomische Dienstleistung hinausgeht. Damit erinnert der Text in seiner Komposition stark an Katja Oskamps Milieustudie Marzahn mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin (2019), in dem die Autorin von ihrer Arbeit in einem Kosmetikstudio im wohl bekanntesten ‚Problemviertel‘ der deutschen Hauptstadt erzählt. Auch Oskamp bedient sich des Dienstleistungsdispositivs, um ihre Figuren kapitelweise zu porträtieren. Beide Autorinnen treiben somit das Authentizitätsgebot des neuen Realismus unserer Tage gleichsam auf die Spitze.
Zu den Stärken von La Maison zählt sicherlich die analytische Schärfe, mit der Becker die Beweggründe der Männer aufdeckt, die sie ins Bordell führen. Dies betrifft unter anderem den fast vierzigjährigen Mark, dessen Ehefrau nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes keinerlei Verlangen mehr nach Sinnlichkeit verspürt. Gleichermaßen Lachen und Mitleid ruft schließlich ihr Bericht über einen Kunden hervor, der sie aufsucht, um sich von ihr Nachhilfeunterricht in den erotischen Künsten geben zu lassen. Auch diese Episode bestätigt einen generellen Eindruck des Lesepublikums: Viele männliche Kunden leiden unter missglückten oder missglückenden Beziehungen, was im Bordell physisch, psychisch und emotional kompensiert werden soll. Dieser Ort wird für Becker gleichzeitig zum Vergrößerungsglas, das die Fehler und Laster der Männer entlarvt. Im Brennpunkt der Vergrößerung stehen vor allem die gewalttätigen und widerwärtigen Kunden, deren Besuche Becker nicht verschweigt.
Wenn sich bis dato der Eindruck aufzudrängen scheint, dass Emma Becker ein Porträt männlicher Puffbesucher gezeichnet hat, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr wahres Hauptaugenmerk den Frauen gilt. Sie führt uns in das Vorzimmer, wo sich die Sexarbeiterinnen aufhalten und sich gemeinsam in tiefschürfende Reflexionen über den Sinn des Ehebruchs sowie die gesellschaftliche Funktion ihres Berufs ergehen. Es ist insbesondere dieser Raum, in dem Becker die Frauen (zumindest in dem gleichnamigen Etablissement La Maison) als autonome Subjekte auftreten lässt, die sich für oder gegen Kunden, für oder gegen die Arbeit an einem bestimmten Tag entscheiden können. Emma Becker visiert damit keine Apologie der Prostitution an, sondern allenfalls – wie sie nicht müde wird zu betonen – die Verteidigung des Etablissements La Maison – was von feministischer Warte aus harsch kritisiert wurde.
Dieses Nachdenken über die gegen Geld angebotene weibliche Sexualität weckt in ihr eine bedeutende Erkenntnis. Becker erkennt schließlich, dass ihre Werke keine Romane über Männer seien, wie sie ursprünglich dachte. Stattdessen schreibe sie über die mannigfaltigen Formen von Weiblichkeit. Dazu zählt vor allem die Exploration ihrer eigenen Weiblichkeit, ihrer eigenen Lust. Es liegt daher wohl nicht fern, hinter der einzigen, wirklich sinnlichen Episode, die die Erzählerin ihre Kollegin Hildie und deren Internetbekanntschaft erleben lässt, eine autofiktionale Begegnung Emma Beckers auszumachen.
Emma Becker hat einen mutigen, einen lesenswerten Roman vorgelegt, der nach ihren ersten beiden Werken Mr. (2011) und Alice (2015) den vorläufigen Höhepunkt ihres thematischen Interesses an den erotischen Beziehungen zwischen Mann und Frau bildet. Aufgrund der Radikalität ihres Selbstexperiments lädt La Maison viel mehr als seine Vorgänger die Lesenden dazu ein, ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Begehren zu reflektieren, ebenso wie den gesellschaftlichen Stellenwert von Sexarbeiterinnen.
Emma Becker: La Maison, Paris: Flammarion 2021, 359 S.
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