Vor dem Kauf des neuen Werks von Annie Ernaux habe ich in den Online-Kundenrezensionen eine neue Vokabel gelernt: Eine Leserin namens Sophie übertitelt ihre Kritik von Le jeune homme mit der Schlagzeile „grosse arnaque“, was im Deutschen – wie ich nun weiß und nie wieder vergessen werde – ‚fette Abzocke‘ bedeutet. Schaut man sich zunächst die nackten Fakten an, wird schnell deutlich, was Sophie uns sagen möchte: Der Verlag Gallimard gibt das Buch mit 37 Seiten an, von denen gerade mal 20 Ernaux’ neueste Lebensgeschichte erzählen und das auf sehr großzügig gestalteten Seiten – der Rest besteht Titelei und der Aufzählung weiterer Werke von Ernaux bei Gallimard. In Frankreich kostet das Büchlein immerhin acht Euro, hierzulande werden derzeit 11,50 Euro fällig. Rein rechnerisch würde das einen Seitenpreis von 40 Cent ergeben. Gemäß einer simplen Dreisatzrechnung müsste nach diesem generösen Tarif etwa der neue Tellkamp für nicht weniger als 364 Euro im Laden ausliegen. So gesehen scheint Sophies Ärger durchaus nachvollziehbar. Nach eigenen Angaben hat sie gerade mal 20 Minuten für die Lektüre gebraucht, was tatsächlich eher nach literarischem Fastfood klingt. Als eher bedächtiger Leser, der stets ‚seine‘ Romane mit dem Bleistift liest, kam ich auf immerhin 45 Minuten (inkl. fünf Minuten für das Zubereiten eines Milchkaffees). Nun wird Ernaux wohl, was den Umfang ihrer Werke angeht, niemals als weiblicher Tolstoi in die Literaturgeschichte eingehen. Bis auf Les années (2006) nehmen ihre autobiografischen Erzählungen selten mehr als 100 Seiten ein; die geschliffen-pointierte Kürze ihrer Geschichten, in denen selten ein Wort zuviel steht, gehört längst zum Markenzeichen der Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur. Bleibt also nun zu fragen: Lohnt sich im Fall von Le jeune homme die Investition oder behält Sophie am Ende Recht?
Der erste Satz der kurzen Erzählung macht es uns zunächst schwer, das Erzählte historisch einzuordnen. „Il y a cinq ans, j’ai passé une nuit malhabile avec un étudiant qui m’écrivait depuis un an et avait voulu me rencontrer“ („Vor fünf Jahren habe ich eine etwas ungeschickte Nacht mit einem Studenten verbracht, der mir seit einem Jahr geschrieben hatte und mich unbedingt treffen wollte.“) Die Frage lautet zwangsläufig: Welches Ich der Autorin spricht hier? Liest man weiter, wird anhand von Details schnell klar, dass es sich nicht um das heutige Erzähler-Ich Ernaux’ handeln kann, da sich die Affäre, die auf den folgenden Seiten geschildert wird, bereits in den Neunziger Jahren abgespielt hat. Der junge Geliebte, im Text nur A. genannt, studiert – wie einst Ernaux – in Rouen und stammt – wie Ernaux – aus einfachen Verhältnissen. Die 54-jährige Schriftstellerin besucht ihn meist an den Wochenenden, die das ungleiche Paar zum größten Teil auf einer Matratze auf dem Fußboden verbringt. A. gibt Ernaux das Gefühl, noch jung und begehrenswert zu sein, wofür sie ihren Liebhaber zu Reisen nach Venedig oder Madrid einlädt – für die Autorin ein „bon deal“. Als A. ein Kind von ihr möchte, was mithilfe medizinischer Verfahren offenbar möglich wäre, verlässt sie ihn im letzten Herbst des 20. Jahrhunderts: „Je me découvrais heureuse d’entrer seule et libre le troisième millénaire“ („Ich war glücklich, allein und frei in das dritte Jahrtausend einzutreten“). Nimmt man die wenigen Alters- und Zeitangaben ernst, hat die Liaison zwischen A. und A. rund fünf Jahre gedauert – fünf Jahre, die in gut zwanzig Seiten gepackt werden.
Die erzählerische Raffinesse dieser Miniatur vollzieht sich weniger auf der Handlungsebene als in den für Ernaux typischen reflektierenden Passagen. Zum einen stellt sie mehrfach Verknüpfungen zu früheren Texten her – vor allem zu L’événement, der kurz nach dem Ende der Beziehung entstanden sein muss. Vom Zimmer, das A. in Rouen bewohnt, blickt Ernaux auf das Krankenhaus, in das sie nach ihrer beinahe tödlichen Abtreibung eingeliefert worden war. Sie war damals, in den 1960ern, im selben Alter wie ihr hier vorgestellter junger Geliebter. Auch erscheint ihr A. aufgrund seiner sozialen Herkunft als jüngeres Alter Ego ihrer selbst, so dass sie immer wieder das Gefühl heimsucht, die Geschichte wiederhole sich mit veränderten Rollen. Damals war die junge Annie diejenige, die auf die gesellschaftliche Initiation wartete, die sie aus ihrem alten Leben herausführte, nun spielt sie selbst die Rolle der Initiatorin. So wirkt es bisweilen, als habe die „femme mûre“ Sex mit ihrer eigenen Vergangenheit. Dieser Eindruck verfestigt sich noch dadurch, dass A. seine ältere Geliebte hin und wieder „meuf“ oder „reum“ nennt – bei letzterem handelt es sich um den jugendsprachlichen Ausdruck für „mère“, also Mutter. Als Ernaux die despektierlichen Blicke anderer, ‚normaler‘ Paare auf sich spürt, meint sie zu erkennen, dass jene in ihnen nicht nur das ungewöhnliche Paar erblicken, sondern den Inzest. In der Logik der Erzählung wird das Inzestuöse der Beziehung jedoch nicht nur dem Altersunterschied in Rechnung gestellt, sondern vielmehr der Nähe zwischen den beiden sozialen Herkünften und den daraus resultierenden gemeinsamen Lebenswegen – A. und A. entstammen derselben sozialen Familie.
Dieses Verhältnis erinnert in gewisser Weise an die Beziehung zwischen dem jungen Eddy Bellegueule – dem späteren Schriftsteller Édouard Louis – und dem deutlich älteren Didier Eribon. Auch wenn die Beziehung zwischen den beiden Männern, soweit wir wissen, bis heute nie sexueller Natur war, ist das Mentorenverhältnis zwischen ihnen doch auch eines, das den Gesetzen der Wiederholung folgt: Der erfolgreich Initiierte gibt sein Wissen an den zu Initiierenden weiter. So wie Louis diesen Prozess in Changer : méthode im vergangenen Jahr beschrieben hat, wiederholt sich Eribons Lebensgeschichte in der Biografie von Louis. Von A. weiterem Lebensweg wissen wir nicht viel, dafür lässt ihm Ernaux nach dem Ende der Liaison keinen Raum mehr. Aber sie verrät uns immerhin, dass er nach der Beziehung Rouen verlassen hat, um nach Paris zu gehen – history repeating. Oder besser: her-story?
Lohnt sich also der Kauf von Le jeune homme? Man fragt sich schon, warum Ernaux diese knappe Erzählung so wichtig war, dass sie sie nicht zusammen mit anderen Kurzprosatexten oder in einer Zeitung veröffentlicht hat. Warum also diese eigenständige Gallimard-Ausgabe, die kaum länger ist als die Gebrauchsanweisung einer Brotschneidemaschine? Die Antwort gibt sie uns indirekt selbst, indem sie die gereifte Ernaux mit der jungen Annie vergleicht, die sich einst schämen musste, als ihre Mutter ihr zu eng anliegendes Kleid gerügt hatte. Dieses Erlebnis vergleicht sie mit den Reaktionen der Umwelt auf ihre Beziehung mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann: „Il me semblait être à nouveau la même fille scandaleuse. Mais cette fois, sans la moindre honte, avec un sentiment de victoire“ („Es schien mir, als sei ich erneut die kleine Schlampe. Aber dieses Mal ohne die geringste Scham, sondern mit einem Gefühl des Siegs“). Anders als in früheren Texten – etwa in L’événement oder Mémoire de fille – möchte sich Ernaux in Le jeune homme offenbar nicht länger nur als Opfer präsentieren, sondern dieses Mal als Gewinnerin – diesen Sieg über die eigene Scham gönnen wir ihr nur allzu gerne.
Annie Ernaux: Le jeune homme erschien bei Gallimard 2022 und ist noch nicht in deutscher Übersetzung erhältlich.
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