Es mag an den immer höhere Wellen schlagenden Debatten über identitätspolitische Zuständigkeiten liegen, dass ich mich nach der Lektüre von Annie Ernaux’ L’événement (dt.: Das Ereignis) gefragt habe, ob es mir als Mann überhaupt zusteht, eine Rezension über diesen Bericht einer jungen Frau zu schreiben, in dem es um eine Abtreibung in den 1960er Jahren geht. Da mir aber ohnehin keine moralische Kritik vorschwebte, sondern eher die Frage, ob ich dieses Buch zur Lektüre empfehlen würde, habe ich meine anfänglichen Skrupel schnell über Bord geworfen. Schon lange lese ich die autobiografischen Texte von Annie Ernaux, die mich trotz ihres bewusst schlichten Schreibstils – oder vielleicht genau deswegen – so sehr berühren wie kaum andere Texte dieser Art von Prosa. Ernaux, die selbst aus einfachen Verhältnissen stammt, und als erste in ihrer Familie studieren durfte, um schließlich als Lehrerin und später als Schriftstellerin zu arbeiten, erzählt in ihren Erzählungen immer wieder aus ihrem eigenen Leben als ,Klassenflüchtling‘: In La place (1983, dt.: Der Platz, 2019) schildert sie etwa das einfache Leben ihres Vaters und ihre zunehmende Entfremdung von ihm, in La honte (1997, dt. Die Scham, 2020) schreibt sie über die Ur-Szene ihrer sozialen Scham und in Mémoire de fille (2016, dt.: Erinnerungen eines Mädchens, 2018) verarbeitet sie die schmerzhafte Erfahrung ihres sexuellen Erwachens. Wie sie bereits in La place erklärt hat, möchte sie nicht mit den Mitteln der Kunst den Leser rühren oder mit Spannung anlocken, sondern eine Sprache verwenden, die dem Milieu, aus dem sie stammt, möglichst gerecht wird, „keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Aufbegehren.“ Ernaux bezeichnet ihre eigene Schreibweise im selben Buch als „écriture plate“ – eine bewusste Stilentscheidung, die sich durch ihr Gesamtwerk zieht.
Die Erzählung L’événement ist in Frankreich schon vor über zwanzig Jahren erschienen. Sie beginnt mit einer unwillkürlichen Erinnerung: Die erwachsene Erzählerin sitzt in einem schäbigen Wartezimmer in Barbès und wartet auf das Ergebnis ihres HIV-Tests. Eine Datierung gibt es nicht, aber kleine Details, wie der ihr gegenüber sitzende junge Schwarze mit Walkman, lassen die 80er Jahre erahnen. Der Test ist negativ, die erleichterte Frau verlässt das Krankenhaus und erinnert sich an eine ähnliche Situation, als sie, noch junge Studentin in Rouen, im Jahr 1963 im Wartezimmer eines Gynäkologen auf das Ergebnis ihres Schwangerschaftstests gewartet hatte, nachdem ihre Tage seit Wochen ausgeblieben waren. Wenig überraschend hatte sich sich dieser Test als positiv erwiesen. Das Kind zu bekommen, kommt für die junge Annie nicht in Frage, insbesondere deshalb, weil sie durch die neue Lebenssituation als unverheiratete Mutter ihren Bildungsaufstieg gefährden würde.
„Ich stellte eine vage Verbindung her zwischen meiner Klassenherkunft und dem, was mir passiert war. In einer Familie aus Arbeitern und kleinen Händlern war ich die Erste, die studierte und so der Fabrik und dem Verkaufstresen entkam. Doch weder das Abitur noch ein erster Universitätsabschluss in Literatur konnten die unvermeidliche Weitergabe der Armut verhindern, deren Symbol die unverheiratete Schwangere war, im selben Maße wie der Alkoholiker. Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs.“
„J’établissais confusément un lien entre ma classe sociale d’origine et ce qui m’arrivait. Première à faire des études supérieures dans une famille d’ouvriers et de petits commerçants, j’avais échappé à l'usine et au comptoir. Mais ni le bac ni la licence de lettres n’avaient réussi à détourner la fatalité de la transmission d'une pauvreté dont la fille enceinte était, au même titre que l’alcoolique, l’emblème. J’étais rattrapée par le cul et ce qui poussait en moi c’était, d’une certaine manière, l’échec social.“
Die zunehmende Verzweiflung treibt sie schließlich in die Illegalität — Abtreibung stand im Jahr 1963 noch unter Strafe. Erst zwölf Jahre später sollte das Abtreibungsrecht unter Gesundheitsministerin Simone Veil liberalisiert werden. Es mag zarte Gemüter durchaus befremden, dass die junge Schwangere von Anfang an jegliche Beziehung zu dem Wesen in ihrem Bauch verweigert. So schreibt sie in ihr Tagebuch: „Das Ding muss weg.“ („Il faut que cette chose-là parte.“). Annie landet schließlich über einige Umwege in der Wohnung einer Engelmacherin in Paris. Auch den dort vorgenommenen Eingriff beschreibt Ernaux mit der ihr eigenen Nüchternheit: „Diese rein materielle Herangehensweise hatte etwas Befremdliches und zugleich Tröstliches. Weder Gefühle noch Moral.“ („Cette materialité pure avait quelque chose d’étrange et de rassurant. Ni sentiments ni morale.“). Beim ersten Mal misslingt der Eingriff, beim zweiten Mal stirbt sie beinahe am enormen Blutverlust, aber der Fötus wird ausgestoßen. Sie muss in die Notaufnahme, muss die vorwurfsvollen Blicke und Fragen der Ärzte über sich ergehen lassen und darf nach fünf Tagen die Klinik wieder verlassen. Der Text endet damit, dass die Erzählerin im Jahr 1999 noch einmal zum Haus der Engelmacherin zurückkehrt und dann unverrichteter Dinge wieder nach Hause fährt.
Wie alle Texte von Annie Ernaux ist auch Das Ereignis keine Feelgood-Lektüre. Allerdings muss man hier besonders oft schlucken und das schmale Buch kurz zur Seite legen, insbesondere dann, wenn sie in gewohnt nüchterner Sprache und mit allen Details den Abgang des Fötus beschreibt. Das vor allem deshalb, weil zwischen dem Beschriebenen und der Leserschaft keine abmildernden Metaphern, kein genuin literarischer Stil, keine vielsagenden Andeutungen, keine Emotionen liegen. Wir werden stattdessen mit der schieren Materialität des „Ereignisses“ bzw. des „Dings“ konfrontiert, ganz ohne Filter. Das ist bisweilen schwer auszuhalten. Gleichwohl lohnt die Lektüre genau deshalb, zumal in Zeiten, in denen wieder die Frauen auf die Straße gehen müssen, um gegen die Rücknahme liberaler Abtreibungsgesetze zu demonstrieren – sowohl diesseits des Atlantiks als auch jenseits davon, in Polen und in Texas. Der Zeitpunkt für die deutsche Übersetzung könnte daher passender kaum sein und ja, das Buch sollten definitiv auch Männer lesen, vor allem diejenigen Männer, die häufig über solche Gesetze und damit über die Zukunft und Körper junger Frauen entscheiden. Die knappe Erzählung sollte Pflichtlektüre in all jenen Hinterzimmern der Gesetzgebung sein, in denen klandestin die Uhren des gesellschaftlichen Fortschritts um Jahrzehnte zurückgedreht werden.
Noch einen weiteren Grund für den richtigen Zeitpunkt der Übersetzung stellt die gleichnamige Verfilmung der Erzählung dar, die dieser Tage auch in die deutschen Kinos kommt. Der Film unter der Regie von Audrey Diwan wurde auf den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt und gewann sogar mit dem Goldenen Löwen den Hauptpreis des Festivals. Gleichwohl wäre es in diesem Fall besonders befremdlich, wenn demnächst auf dem Buchcover der Verweis stehen würde „Der Roman zum Film“, aber das scheint bisher nicht der Fall zu sein. Ernaux wurde von der Regisseurin in die Arbeit am Drehbuch miteinbezogen, so dass sie ihre eigene Geschichte zumindest nicht komplett in fremde Hände abgeben musste. Damit löst sie im Grunde das ein, was sie am Ende der Erzählung über das Geschriebene sagt, nämlich dass das Ereignis durch das Aufschreiben und Veröffentlichen seinen Weg in die Köpfe und Leben finden soll.
Annie Ernaux: L'événement, Paris: Gallimard 2000, 128 S. Auch erhältlich in der Folio-Ausgabe. In der deutschen Übersetzung von Sonja Finck erhältlich beim Suhrkamp-Verlag. Der Film wird ab dem 31. März 2022 in den deutschen Kinos zu sehen sein.
"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)
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