Auch wenn ihr Roman Une année étrangère (2009) über eine französische Au-Pair in einem kleinen Dorf an der Ostsee hierzulande seit einiger Zeit auf dem Französisch-Lehrplan steht, gilt die 1960 geborene Schriftstellerin Brigitte Giraud noch zu entdecken – spätestens, seitdem sie in diesem Jahr für ihren Roman Vivre vite mit dem Prix Goncourt 2022 ausgezeichnet wurde. Hierbei handelt es sich streng genommen um einen autofiktionalen Récit, in dem sie sich auf eine Zeitreise zwanzig Jahre zurück begibt, um jenem tragischen Tag auf den Grund zu gehen, an dem ihr Mann durch einen Motorradunfall jäh aus dem Leben gerissen wurde. Jener 22. Juni 1999 wird von allen Seiten und unter Berücksichtigung jeder denkbaren Hypothese ausgeleuchtet. Ein reizvolles und zugleich bedrückendes, in jedem Fall aber ungewöhnliches Gedankenexperiment beginnt.
Gleich zu Beginn wird einem klar, dass das Leben der Erzählerin auch in der Gegenwart gedanklich-emotional immer noch von ihrem verstorbenen Mann Claude bestimm. Sie ist gerade dabei, das gemeinsame Haus zu verkaufen, das sie zwei Jahrzehnte zuvor erworben hatten, als der grausame Unfall ihr Zusammenleben jäh unterbrach und für die Erzählerin eine nicht wieder zu kittende Zäsur bedeutete: das Ende von allem Gewohnten, Liebgewonnenen, das Ende der Familie, die aus Mann, Sohn und ihr selbst bestand. Mit ihrem Mann war die Erzählerin zunächst aus der Peripherie der Stadt Lyon, wo die beiden zwischen Sozialwohnungen und Hochhäusern großgeworden waren, in eine Wohnung im Zentrum der Stadt umgezogen – als Zeichen des sozialen Aufstiegs –, um einige Jahre später sogar ein eigenes Haus zu kaufen, denn die Erzählerin hatte sich diesen Wunsch, ein Eigenheim zu besitzen, in den Kopf gesetzt. Claude, ein Motorradfahrer und Musikfan, der in der örtlichen Diskothek arbeitete, stammte aus einer Familie mit algerischen Wurzeln, während man über die Erzählerin fast nur erfährt, dass sie als Schriftstellerin auf dem Land arbeitet und ab und zu nach Paris fährt, um Verlagsgeschäfte zu erledigen und Freunde zu besuchen – und natürlich, dass sie es war, die für die Ambitionen des Paars zuständig war, während Claude sich eher arrangierte.
Doch wie ist Vivre vite nun aufgebaut? In jedem Kapitel stellt die Erzählerin, die zugleich die von Claude und Schriftstellerin von Berufist, in der Rückschau eine Frage, die mit „Si“, also mit „falls, wenn“, beginnt(mit Ausnahme des Anfangs und des Epilogs, wobei man letzteren meiner Ansichtnach auch hätte streichen können). Im Grunde ist das Buch eine Ansammlung vonHypothesen, was geschehen hätte müssen, damit der Unfall, in dem Claude seinLeben verloren hat, nicht stattgefunden hätte. Die Erzählerin reiht unter der Überschrift „Si“ eine Abfolge von potentiellen Geschehnissen und Aktionen aneinander, die hätten stattfinden können und die sich zu einer (scheinbar) logisch ineinandergreifenden Kausalkette hätten verbinden lassen. In sich ist dieses Narrativ, das der Roman vermittelt, völlig logisch, doch würde man hier und da den ein oder anderen Wenn-Satz aus der Reihe herausnehmen, würde die Kausalkette in sich zusammenbrechen. Beispielsweise beginnt die Aufzählung mit Kapitel „Wenn ich die Wohnung nicht verkaufen hätte wollen“, gefolgt von „Wenn mein Großvater sich nicht umgebracht hätte“ und „Wenn ich das Haus nicht besucht hätte“. Manche der Hypothesen sind in der Reihung durchaus stichhaltig, andere sind weniger glaubhaft und scheinen mitunter eher an den Haaren herbeigezogen.
Der große Vorzug von Vivre vite, dessen Titel übrigens auf einen Ausspruch von Lou Reed („Schnell leben, jung sterben“/ „Vivre vite, mourir jeune“) zurückgeht, liegt in der ungewohnten Struktur, die sicherlich ihren Reiz hat. Zugleich liegt in der Tendenz, jedem „Falls“, jeder Hypothese und jeder Eventualität nachzugehen, die im Zusammenhang mit dem Motorradunfall vor zwanzig Jahren steht, eine Gefahr verborgen; denn allzu leicht passiert es, dass man sich als Erzähler(in) in den Details verliert und in Theorien versteigt. Dies geschieht leider bisweilen auch in diesem Roman von Brigitte Giraud, der manchmal Längen aufweist, die nicht per se langweilig sind – „langweilig“ wäre wirklich der falsche Ausdruck für Vivre vite –, sondern dadurch zustande kommen, dass sie zu hypothetisch sind. Ist es wirklich ein bedeutsamer Grund für den Unfall, dass der Verunglückte 300 Francs im Geldautomaten vergessen hatte? Oder dass das Motorrad, das Claude an jenem 22.Juni 1999 fuhr und das eigentlich dem Bruder seiner Frau gehörte, eine Honda900 CBR Fireblade, auf dem japanischen Markt nicht verkauft werden durfte, dafür aber sehr wohl in Frankreich? Oder dass seine Frau am Abend zuvor nicht mit ihm telefoniert hatte?
Die große Stärke von Vivre vite ist zweifelsohne seine raffinierte Form, die variantenreiche, literarische und gewählte Sprache, die aber nicht gestelzt erscheint. Die Erzählung fließt dahin, als würde die Erzählerin ihre Hypothesen einem wohlgesonnenen Publikum erzählen, als wäre diese Aneinanderreihung von Ursachen, die zwangsweise zum Unfall geführt haben müssen, eine Selbstverständlichkeit, in die jeder vernünftig denkende Mensch Einsicht haben müsste.
Positiv hervorzuheben sind ebenfalls die immer wieder einfließenden Gedanken über gesellschaftliche Fragen, die jedoch nicht überhandnehmen, sondern subtil miterzählt werden. So wird zum Beispiel der Umzug nach Lyon mit Klassenaspekten in Verbindung gebracht. Der Anruf aus Paris nach Lyon von der fern von ihrer Familie weilenden Schriftstellerin wird zu einer Frage der Emanzipation der Mutter von der ihr zugeschriebenen Rolle der ewigen Kümmerin, die sich allerdings letztlich – nach der Interpretation der Erzählerin – verhängnisvoll auswirkte. Hätte sie doch angerufen, so ihr Credo! Auch die immer wiederauftauchenden popkulturellen Referenzen auf Bands, Rockkonzerte und CDs sowie Schallplatten machen Vivre vite zu einem pulsierenden Roman.
Brigitte Giraud: Vivre vite. Paris: Flammarion 2022. 205 S. Bisher ist keine deutsche Übersetzung erschienen. Die hier angegebenen Zitate wurden vom Verfasser ins deutsche übersetzt.
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