Alles über einen Mörder?

Daniel Pennac über die dem Nachdenken unzugänglichen Quellen des eigenen Schreibens

Veröffentlicht am
26.3.2025
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Zugegeben: Daniel Pennac kannte ich nicht, bis Jean Tévélis, Kinder- und Jugendbuchautor aus Frankreich, mir im Interview zu seinem Roman Frère! erzählte, dass er dessen Adoleszenzromane gerne lese und sich von ihnen inspirieren lasse. Der Autorenname klang in meinem Kopf nach. Als ich schließlich im Oktober auf der Suche nach neuem Lesestoff durch verschiedene Buchhandlungen in Südfrankreich schlenderte, hielt ich plötzlich seinen gerade bei Gallimard erschienenen Roman Mon Assassin in der Hand. Der Klappentext machte mich neugierig. Ich wollte mehr erfahren über diesen auf dem beigen Cover angekündigten Mörder, von dem Pennac berichtet, dass er nicht wisse, aus welchen Tiefen seines Bewusstseins diese Idee an die Oberfläche seines Denkens aufgestiegen sei...

Pennac verschreibt sich in Mon Assassin der Lösung dieses Rätsels. Im Kern geht es um ein Kind, das so gar nichts Kindliches an sich hat. Das „enfant Lassalve“, im ganzen Roman nie anders bezeichnet, ist ein Einzelgänger, der ein Talent dafür hat, Unterschriften zu fälschen. Seine gesamte Freizeit verbringt er damit, diese Fähigkeit weiter zu schulen. Akribisch ahmt er die Signaturen von weltbekannten Persönlichkeiten wie Picasso nach. Das ist aber nicht das einzig Merkwürdige an ihm: Aus Frust oder Langeweile – das genaue Motiv seines Handelns bleibt unklar – flieht er von zuhause in die Großstadt. Da sich das Leben als Kind ohne Eltern im Paris der 1950er Jahre schwierig gestaltet, beschließt er zwei halbwegs erfolglose Schauspieler damit zu beauftragen, sich als seine Eltern auszugeben und ihn zur Anmeldung in einem elitären Gymnasium zu begleiten. Abgestoßen von der verstörenden Aura des Jungen nimmt das Schauspielerpaar dennoch an – Geld stinkt bekanntlich nicht. À propos Geld: Wie finanziert das ‚unkindliche Kind‘ das Ganze? Seine ‚wahren‘ Eltern sind tatsächlich sehr wohlhabend, haben einen Keller voller Geld, das wohl aus dubiosen Finanzgeschäften im Zusammenhang mit dem Indochinakrieg stammt. Davon hat der Junge auf seiner Flucht einige Scheine mitgehen lassen. Als die letzten Münzen jedoch ausgegeben sind, überzeugt er die ‚falschen‘ Eltern davon, die ‚wahren‘ Erziehungsberechtigten zu erpressen. Es versteht sich von selbst, dass das wie ein Erwachsener handelnde Kind einen ausgeklügelten Plan im Kopf hat, um an seine finanzielle Grundsicherung für die Zukunft zu kommen, ohne von der Polizei erwischt zu werden…

Was hat es nun aber mit ‚seinem Mörder‘ auf sich, der im Klappentext angekündigt wird? In der Eliteschule, die das „enfant Lassalve“ besucht, kommt es zu einem Todesfall. Allerdings wird der Tod eines Mitschülers, der mitten in der Nacht vom Dach stürzt, bloß auf knapp einer Seite abgehandelt. Was ist der Sinn dieser Episode, wenn überhaupt nicht geklärt wird, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen gehandelt hat und ob das Kind involviert war? Ist der Klappentext, der von einem Mörder berichtet, ein Trick, die Täuschung des Lesers, ein gemeiner Schachzug, ihn zum Kauf zu bewegen? Mitnichten. Als Leser darf man nicht vergessen, dass die konkrete Romanhandlung eingebettet ist in die Suche nach der Idee eines Verbrechers in seinem Kopf. Pennac will gerade nicht die Geschichte eines Mörders erzählen, sondern dem Aufblitzen der Idee eines Mörders auf den Grund gehen. Deshalb bleibt einiges in der Schwebe. Dazu rekonstruiert er, wie sich sein Leben und sein Schreiben miteinander verwoben haben. Der Schriftsteller, Jahrgang 1944, sieht eine mögliche Spur in den vielen Menschen, die er in seinem langen Leben getroffen und die er in Protagonisten seiner Romane verwandelt hat. Dazu zählen in erster Linie seine Verleger, die Mitglieder seines siebenköpfigen Literatur-Clubs, die sich jeden ersten Dienstag im Monat getroffen haben, und die er mit Ausnahme von Tonino Benacquista alle überlebt hat. Den Schmerz, den Pennac empfindet, wenn er über die disparus, seine disparus schreibt, nimmt man ihm übrigens in jeder Zeile ab. Dazu trägt auch seine klare Prosa bei, die einen poetischen Anstrich hat, der beim lauten Lesen des Textes deutlich zutage tritt – chapeau!

Daniel Pennac hat eine klare Botschaft: Mit der Frage nach den Ursprüngen von Ideen kommt man nicht weit, auch er selber nicht, wenn er von den reellen Vorbildern für seine Romanfiguren berichtet. Die Rekonstruktion der biographischen Spurensuche kommt einfach an ihre Grenze, wenn es um Kunst geht. Selbst ein Schöpfer kann nicht alle Türen seines Geistes aufschließen, Schreiben beinhaltet eine große Portion Unverfügbarkeit. Aus ihr entsteht Literatur. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Kunst. Literatur ist das Produkt einer nicht näher zu präzisierenden Inspiration, so lässt sich Pennac zumindest verstehen. Mon Assassin liest sich schon fast als Vermächtnis, als ein äußerst gelungenes Vermächtnis, so darf ich hinzufügen.

 

Daniel Pennac: Mon Assassin. Paris: Gallimard 2024, 155S.

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