Am Abend des 13. November 2015 saß ich mit zwei befreundeten Kolleginnen auf einer Pariser Caféterrasse und trank ein Bier. Der Abend war für diese Jahreszeit erstaunlich mild, so dass wir bei Weitem nicht die Einzigen waren – nur mit Mühe und etwas Geduld hatten wir den kleinen Tisch mit drei Stühlen ergattert. Es blieb nicht bei dem einen Bier: Wir hatten den ganzen Tag in einem eher muffigen Seminarraum der renommierten École des hautes études en sciences sociales (kurz: EHESS) gesessen, wo eine englischsprachige Tagung zum Thema „Geteilte Städte in Literatur und Film“ stattgefunden hatte. Wir waren stolz darauf, dass unsere Vorträge gut angekommen waren und wir uns trotz Sprachbarriere ganz ordentlich in den Diskussionen geschlagen hatten. Ich hatte über den Film La haine gesprochen und Schwarzweiß-Bilder gezeigt von gewalttätigen Banlieue-Aufständen. Da war der Feierabend mit 7-Euro-Bieren mehr als willkommen. Im Inneren des Cafés hatte gerade die Live-Übertragung des Fußballspiels Deutschland gegen Frankreich begonnen, das in Paris ausgetragen wurde, knapp zehn Kilometer von uns entfernt. Da meine beiden Begleiterinnen fußballbegeisterter waren als ich, schauten sie immer wieder mal auf den Fernseher, als plötzlich in kurzen Intervallen Textnachrichten auf unseren Handydisplays aufploppten – eher besorgte Fragen:
„Wo seid ihr?“
„Geht’s euch gut?“
„Bitte melde dich mal!“
Wir sahen uns ratlos an, bis ich dann meine Spiegel-Online-App öffnete und mit gelb hinterlegten Eilmeldungen konfrontiert wurde: „Terroranschläge in Paris. Viele Tote“, „Dschihadisten stürmen Konzertsaal“, „Massaker in Pariser Cafés“. Mittlerweile schienen auch andere Gäste ähnliche Nachrichten bekommen zu haben, ängstliche Blicke, hastiges Bezahlen, die Terrasse leerte sich nach und nach. Auch wir bezahlten und gingen schnell in unser Hotel, das nur wenige Schritte entfernt lag. In der Lobby lief ein Fernseher, und so wurden wir nach und nach Zeugen des gesamten Horrors dieses Novemberabends. Unter Schock fielen wir uns mehrmals in die Arme und waren trotz der Tragödie froh, in Saint-Germain-des Prés zu sein und nicht in den Szene-Cafés in der Nähe des Boulevard Voltaire.
130 Menschen wurden an jenem Abend auf brutalste Weise aus dem Leben gerissen – überwiegend junge Leute. Vom Terroristen-Kommando, das zum größten Teil aus dem Brüsseler Viertel Molenbeek stammte, überlebte nur einer, Salah Abdeslam, der am 18. März 2016 ebendort geschnappt wurde. Alle anderen hatten sich entweder mit Sprengstoffgürteln in die Luft gesprengt oder wurden von der Polizei getötet. Die meisten der Attentäter hatten sich in Syrien radikalisiert und waren ungefähr im selben Alter wie ihre Opfer.
Die Attentate des 13. November haben zweifelsohne ein kollektives Trauma in der französischen Bevölkerung hinterlassen. Umso größer war das öffentliche Interesse, als im September 2021, knapp sechs Jahre nach dem Massaker, im Pariser Palais de la Justice der Prozess gegen Abdeslam und neun seiner Helfer und Helfershelfer begann. Die Öffentlichkeit erwartete einen Jahrhundertprozess, etwas für die Geschichtsbücher. Da die schiere Anzahl an Opfern, Zeugen, Anwälten, Angeklagten, Journalisten und Sicherheitsbeamten selbst die Kapazität des größten Gerichtssaals weit überschritten hätte, hatte man im Innenhof des Justizpalast eine riesige Box aus Holz aufgebaut, die für rund zehn Monate der Schauplatz des wohl gigantischsten Justiz-Spektakels seit dem Prozess gegen den ‚Schlächter von Lyon‘ Klaus Barbie im Jahr 1987 werden sollte.
Unter den akkreditierten Journalisten im V13-Prozess – V13 steht für Vendredi 13 – saß jeden Tag der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère, der darüber für den Nouvel Observateur eine wöchentliche Gerichtskolumne schreiben sollte. Die überarbeitete und stark erweiterte Sammlung dieser Kolumnen ist im vergangenen Jahr unter dem Titel V13 als Buch in Frankreich erschienen und im Sommer dieses Jahres unter demselben Titel in deutscher Übersetzung. Es ist nicht das erste Mal, dass der Romancier, Drehbuchautor und Filmemacher Carrère sich an spektakulären Gerichtsfällen abarbeitet. Schon im Jahr 2000 hatte er mit L’adversaire den Bericht über die so genannte affaire Romand veröffentlicht. Der Betrüger Jean-Claude Romand hatte über Jahre hinweg seiner Familie vorgegaukelt, als erfolgreicher Mediziner zu arbeiten. Als seine Täuschung aufzufliegen drohte, erschlug er zunächst seine Frau mit einem Nudelholz, erschoss sodann seine beiden kleinen Kinder und später noch seine Eltern. Carrères Bericht ist zugleich das Psychogramm eines krankhaften Narzissten sowie die Rekapitulation des Gerichtsprozesses gegen ihn. Beides lässt sich auch für V13 geltend machen. Die Reportage schildert minutiös die einzelnen Etappen des Prozesses und ist zudem von dem Willen getragen, die Angeklagten zu verstehen. An einer Stelle des Textes zitiert Carrère das bekannte Diktum von Spinoza „Nicht urteilen, nicht weinen, nicht toben, nur verstehen“ und auch die darauf folgende Reaktion des damaligen Premierministers Valls, der sich darüber empörte, da verstehen bereits entschuldigen bedeute. Carrère macht deutlich, dass er diese Meinung nicht teilt.
Doch der Reihe nach. V13 folgt exakt der Dramaturgie des Prozessablaufs. Am Anfang stehen die Opfer im Vordergrund und damit die Aussagen jener, die entweder die Attentate überlebt oder einen Angehörigen oder Freund verloren haben. Dieser Teil des Buches ist sicherlich derjenige, der am schwersten auszuhalten ist. Da viele der Zeugen ähnliche Aussagen über Mord, Todesangst und Trauer zu Protokoll geben, lässt Carrère einzelne Betroffene ausführlich zu Wort kommen und fasst in einem anderen Kapitel einzelne Fragmente zu einer regelrechten Symphonie des Grauens zusammen. So lernen wir Nadia kennen, deren Tochter Lamia im Café La Belle Équipe erschossen wurde oder Georges, dessen Tochter Lola im Bataclan getötet wurde. Mit kaum erträglichem Realismus gibt das Kapitel „Dans la fosse“ („Im Parkett“) die Geschehnisse im Bataclan wieder und zwar aus der ungefilterten Sicht der Überlebenden. Dieses Kapitel wird man nach der Lektüre nie wieder vergessen – wie so vieles andere auch, was Carrère aufgeschrieben hat.
Der nächste Teil ist den Beschuldigten gewidmet. Wir lernen überzeugte Dschihadisten kennen, aber auch kleine Fische, die lediglich ein paar Pässe gefälscht oder ein Auto zur Verfügung gestellt haben, höchstwahrscheinlich ohne zu wissen, für wen und zu welchem Zweck. Carrère liefert verstörende Einblicke in die Islamisten-Szene von Molenbeek, wo die Täter sich im Hinterzimmer eines Cafés unter Jubel Enthauptungsvideos angeschaut haben. Auch solche Szenen verstören bei der Lektüre, wenn auch aus anderen Gründen. Aufgrund wechselnder und teils widersprüchlicher Aussagen werden die Motive und tatsächlichen Beteiligungen niemals eindeutig geklärt. Der Hauptangeklagte behauptet bis zum Schluss, dass er seinen Sprengstoffgürtel aus plötzlichem Mitleid mit den potentiellen Opfern nicht gezündet habe, während die Staatsanwälte davon ausgehen, dass er defekt war. Carrère fragt bis zum Schluss nach den wahren Gemütszuständen von Abdeslam und kommt zu folgendem ernüchtertem Ergebnis: Es handele sich um ein „pauvre mystère“, von Claudia Hamm vorzüglich übersetzt mit: „mickriges Mysterium“. Und weiter: „eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein entsetzt ist.“ An dieser Stelle wird deutlich, dass Carrère sich keineswegs mit eigenen Gedanken und Meinungen zurückhält. Das ist wohl angesichts der Monstrosität des Geschehenen, die in diesem Prozess auch nach sechs Jahren immer wieder gnadenlos aufflackert, nachvollziehbar. Ja, es ist auch wohltuend zu lesen neben all den Gräueln, die von so unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert werden. Hoch anzurechnen ist Carrère dabei, dass er immer wieder Empathie ausstrahlt und zwar für beide Parteien des Prozesses, es geht ihm, wie bereits gesagt, um das Verstehen und nicht etwa um populistisches Verstärken von Ressentiments.
Im letzten Teil schließlich steht das Gericht im Mittelpunkt und damit die Urteilsverkündung und der Abend danach. Hier würdigt Carrère eingehend die juristische Kompetenz und das Talent aller Beteiligten, sowohl der Richter, der Staatsanwälte als auch der Anwälte beider Seiten. All diese Menschen treffen sich nach Ende des Prozesses im Deux Palais, einem Café in der Nähe des Justizpalastes – es mutet beinahe wie ein Fest an, das selbst nach rund 300 Prozesstagen niemand verlassen möchte, weder die Anwälte der Nebenkläger noch die der Beschuldigten. So bekommt die Schilderung des V13-Prozesses am Ende, ohne ins Kitschige abzudriften, eine seltsam versöhnliche Note. Selten hat mich ein Buch so in extreme Gefühlslagen katapultiert wie dieses. Das nehme ich zum Anlass, diese Liebeserklärung an den Rechtsstaat, die V13 eben auch ist, uneingeschränkt zur Lektüre zu empfehlen.
Emmaniel Carrère: V13, Paris: POL 2022, 362 S. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Hamm und unter dem Titel V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage 2023 bei Matthes&Seitz erschienen.
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