Hauskauf mit Folgen

"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)

Veröffentlicht am
25.9.2024
Melanie Koch-Fröhlich

Melanie Koch-Fröhlich

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Wer hinter dem neuen Buch des Goncourt-Preisträgers Hervé Le Tellier ein ähnlich schwindelerregendes Science-Fiction-Szenario wie in L’anomalie (2020) vermutet, wird rasch eines Besseren belehrt. Anstatt mit den Tücken einer duplizierten Realität hat es der Leser hier mit dem schweren Erbe einer Vergangenheit zu tun, die weit in die Gegenwart hineinragt. Als Le Tellier sich im Frühjahr 2020 auf die Suche nach einem Landhaus in der südfranzösischen Drôme begibt – das finale Manuskript des späteren Erfolgsromans ruht zu jener Zeit noch geduldig beim Verlag –, ahnt er noch nicht, welche Geister er mit diesem Unterfangen wecken würde. Fündig wird Le Tellier in dem beschaulichen Weiler La Paillette nahe Dieulefit, wo er das ehemalige Relais der Post erwirbt: ein ebenso bescheidenes wie authentisches chez-soi, gelegen im Herzen einer geschichtsträchtigen Region. Ihren kämpferischen Geist konnte sich die Drôme – einst Hochburg der Résistance – bis zum heutigen Tag bewahren, stach sie doch nach dem ersten Urnengang für die vorzeitig anberaumten Parlamentswahlen als einer jener wenigen Flecken auf der französischen Landkarte hervor, der nicht in beklemmendem Braun markiert war.

Unzählige anonyme Helden haben hier ihr oftmals noch blutjunges Leben für ein nazifreies Frankreich geopfert, wie der im Alter von 20 Jahren in einem Hinterhalt getötete André Chaix, dessen Namen, eingeritzt in eine Wand des Landhauses, Le Tellier eines Tages zufällig entdeckt. Auf dem im Zentrum des Örtchens errichteten Monument aux morts begegnet er ihm kurz darauf ein zweites Mal. Von diesem Augenblick an reift in Le Tellier der Entschluss zu einem neuen Schreibprojekt heran, bei dem sich der Vorsitzende von Oulipo keinerlei formalen Zwängen beugen will. Nein, dieses Mal ist die einzugehende Verpflichtung ausschließlich moralischer Natur. Was ihm vorschwebt, ist ein den gefallenen Widerstandskämpfer ehrendes Buch, das ihm ein zweites bleibendes Denkmal setzen soll. Über diese Hommage hinaus aber verfolgt das Werk noch einen weiteren Zweck, nämlich der eigenen Existenz ein Quäntchen Sinn zu verleihen. In akribischer Archiv-Arbeit tastet sich Le Tellier an die behutsame Rekonstruktion eines Lebenswegs heran, der sich nicht nur auf Chaix’ politisches Engagement reduzieren lässt. Schließlich war der junge André nicht nur Aktivist, sondern auch Sohn, Bruder und Verlobter. Dass er sich mit diesem biografischen Anspruch auf sensiblem schriftstellerischen Terrain bewegt, ist Le Tellier bewusst. In Ermangelung von Fakten bleiben oft nur Hypothesen. Das Bedürfnis nach Ästhetisierung muss gelegentlich das Nachsehen haben, rhetorische Effekte dürfen die Wucht des Schicksals nicht verfremden. Diese und andere ästhetische Bedenken teilt der Autor mit dem Leser, dessen Bereitschaft zu verzeihen er sich im Vorhinein erhofft. Und dann ist da noch die Furcht des Biografen vor dem unerlaubten Eindringen in ein fremdes Menschenleben, das nun – wenn auch sanft, so doch unvermittelt – wachgerüttelt wird. Wie durch ein Wunder gelangt Le Tellier in den Besitz einer kleinen Schachtel, die ein paar wenige persönliche Gegenstände, darunter Fotografien, von Chaix enthält. Begeht er, so die selbstkritische Frage, mit deren Öffnung nicht ein Sakrileg? Obgleich die von Chaix hinterlassenen Spuren spärlich sind, fällt die literarische Ernte vergleichsweise ergiebig aus. Schließlich fokussiert Le Tellier nicht nur seine Hauptfigur, sondern will den Geist der Zeit einfangen, ihn verstehen, weitergeben und bewahren. Dies geschieht in exkursartigen Kapiteln, deren Episoden – wie z. B. das von einem US-amerikanischen High-School-Lehrer in den 1960er-Jahren erprobte Sozialexperiment „die Welle“ – dem einen oder anderen Leser hinlänglich bekannt sein dürften. Wer also hie und da ein paar Seiten überspringen möchte, darf dies getrost tun, zumal dies ganz im Sinne des Autors ist. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, die Lektüre ohne Unterbrechung fortzusetzen, denn es zeigt sich: Alles ist mit allem verwoben. Zusammengenommen ergeben die aneinandergereihten Erzählfragmente eine epochenübergreifende Gesamtkomposition, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als untrennbares Ganzes denkt. Etwa dann, wenn uns Le Tellier die personelle Erstbesetzung des Front National ins Gedächtnis ruft und dieses beängstigende Gruppenbild (ganz ohne Dame) mit einem aphorismusartigen, an das Hier und Jetzt gerichteten Appell beschließt: Wer Hass säe, verdiene keine offene Debattenkultur. Wird der historische Rückblick mit persönlichen Reminiszenzen durchmischt, tun sich erstaunliche Koinzidenzen auf. Just im Gründungsjahr des FN führt Le Telliers Philosophielehrer seinen Schüler an die Lektüre von Primo Levis Se questo è un uomo (1947, dt.: Ist das ein Mensch?) heran. In gewisser Weise war der wissbegierige Zögling für dieses Literaturerlebnis schon gewappnet, hatte er doch Alain Resnais’ KZ-Dokumentarfilm Nuit et Brouillard (1956, dt.: Nacht und Nebel) bereits als Zwölfjähriger gesehen. Retrospektiv begreift der Autor diese filmische Konfrontation mit dem Faschismus als eine Zäsur, die ihn ebenso abrupt wie schonungslos aus dem Zeitalter der Kindheit herausgeschleudert habe.

Doch wäre Le Tellier nicht Le Tellier, wenn er es dabei bewenden ließe. Und so entfaltet sich im Buch neben biografischer Recherche, Kindheitserzählungen und historischem Bericht noch eine vierte Dimension, wenn auch auf ungleich subtilere Art. Offenbart Le Tellier dem Leser gleich zu Beginn, er habe sich in der Drôme auf die Suche nach einem Geburtshaus gemacht, so verbirgt sich hinter diesem naiv-absurd anmutenden Eingeständnis eine tiefe Ursprungssehnsucht. Allerdings verpufft der anfangs gehegte Wunsch, sich Wurzeln zu erfinden, auf der letzten Seite in der schmerzhaften Erkenntnis über die Unmöglichkeit einer derartigen Utopie. Und in ebendiesem Moment, der Anfang und Ende in einer kongenialen Kreisstruktur zusammenführt, ist Le Tellier – sei es bewusst oder unbewusst – seiner geistigen Heimat, der Welt von Oulipo, wieder ganz nah. Denn war vor ihm nicht schon Perec zu der Einsicht gelangt, dass solche (Heimat-)Orte nicht existierten und der Raum daher ein ständiger Zweifel sei? Etwas, das der gänzlichen Vereinnahmung grundsätzlich widerstrebe? Neben der Frage des Raums bleibt noch ein weiteres Rätsel ungelöst: Wer Chaix’ Namen in die Wand des Landhauses geritzt hat, wird Le Tellier vermutlich nie erfahren.

In diesem Jahr wäre André Chaix hundert Jahre alt geworden. Das Foto, mit dem der Autor wohl nicht grundlos die Erzählung enden lässt, zeigt André, beide Arme weit ausgestreckt und in perfektem Gleichgewicht, aufrecht stehend auf einem Pferd. Zweifellos ist es diese dem Tod ein Schnippchen schlagende Pose der Hoffnung und der Zuversicht, die der Leser in Erinnerung behalten soll.

 

Hervé Le Tellier: Le nom sur le mur. Paris: Gallimard, 176 S.

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