Wenn Erzähler gefährlich werden

Jérôme Ferrari liefert in 'Nord Sentinelle. Contes de l'indigène et du voyageur' einen wortgewaltigen Abgesang auf das Patriarchat.

Veröffentlicht am
11.12.2024
Matthias Kern

Matthias Kern

TU Dresden
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Vor 12 Jahren hat Jérôme Ferrari die Leserschaft in seinem mit dem Prix Goncourt prämierten Roman Le Sermon sur la chute de Rome nach Korsika mitgenommen, um zwei Philosophiestudenten zu begleiten, die auf der Insel eine Bar eröffnen und hoffen, dort eine ideale Parallelwelt aufzubauen. Schon in diesem Roman stößt sich diese Hoffnung an der Realität, und zum Ende der Erzählung bricht Gewalt in das scheinbar idyllische Leben auf Korsika ein. Nord Sentinelle nimmt genau an diesem Punkt den Faden wieder auf – auch wenn in keinem Moment des Romans wortwörtlich von Korsika, sondern lediglich von einer Insel gesprochen wird: Hier ersticht eines Abends der junge Restaurantbesitzer Alexandre Romani auf offener Straße den Touristen Alban Genevey. 

Dieser Ausgangspunkt, der zunächst wie eine willkürlich aus den Lokalnachrichten entnommene Meldung wirkt, löst daraufhin einen Sprachschwall voller langer, von Sarkasmus und Zynismus gespickter Sätze beim Erzähler aus, wobei die Rollen von Täter und Opfer zwar nicht umgekehrt, doch deutlich verwirrt werden. Denn der Erzähler, der sich von Beginn an als Cousin von Alexandres Mutter und als bester Freund von dessen Vater vorstellt, begnügt sich nicht mit der Darlegung der Vorgeschichte und der Motive. Stattdessen mischt er in seine mäandrierende Rede Überlegungen zum modernen Erlebnistourismus, essayistische Anmerkungen zu Richard F. Burtons First Footsteps in East Africa und den Fall des Emirats von Harar; dann zur Begegnung zwischen Fremden und Eingeborenen im Allgemeinen und vor allem auch seine eigene Geschichte, die von Frustrationen und Empörungen gekennzeichnet ist.

Für Alexandre Romanis Gewalttat findet der Erzähler zunächst klare Worte: Als Abkömmling der Romani-Familie sei Alexandre in eine „lignée de branleurs“ („eine Nachkommenschaft von Wichsern“) hineingeboren und habe mit seiner Straftat seine Verwandtschaft nur bestätigt. Denn Alexandre stammt vom Banditen Pierre-Marie Romani ab, der in den 1930er Jahren das Hinterland der Insel unsicher gemacht haben soll und von der Presse des zentralistischen Frankreichs als folkloristischer Provinzheld inszeniert worden ist. Der Erzähler von Nord Sentinelle zeichnet dann jedoch ein gegenteiliges Porträt:  Nicht nur sei seine wilde Aufmachung mit Flinte und gekreuzten Patronengürteln um den Torso eine Inszenierung für die Medien – Pierre-Marie Romani habe sich seinen Ruf als Gewalttäter nur verdient, nachdem er von zwei fremden Männern in seinem Haus bedrängt und vergewaltigt worden ist, worauf er die Täter getötet und verstümmelt und sich geweigert habe, sich der Polizei zu stellen. Die romantische Darstellung des provinziellen Räubers weicht also derjenigen einer ursprünglichen Demütigung, die die Gewalt entfesselt hat.

Alexandre selbst wird vom Erzähler als Taugenichts „am Rande des Analphabetismus“ beschrieben, der vor seinem Schulabschluss bereits in die Fußstapfen seiner Ahnen treten wollte, indem er den alten Inhaber einer kleinen benachbarten épicerie bewaffnet überfallen und verletzt hatte und danach sofort gefasst wurde. Der Erzähler ist als zurückgekehrter Gymnasiallehrer dazu verdammt, Alexandre in seiner Abschlussklasse zu unterrichten und empört sich über die Dummheit des Jungen – aber auch über die Großzügigkeit von dessen Vater Philippe, der trotz der gerade noch ausreichenden Ersparnisse seinem Sohn einen neuen Audi A1 schenkt, sowie über die liebevolle Behandlung, die Alexandre von seiner Mutter Catalina erfährt. Diese Liebe Catalinas, seiner Cousine, ist dem Erzähler umso schmerzhafter, als er seit der Pubertät in sie verliebt ist und ihren Mann Philippe als ihrer unwürdig erachtet. Denn auch gegen Philippe hat der Erzähler vieles einzuwenden: Er wirft ihm vor, ohne eigene Verdienste zu Reichtum gekommen zu sein, indem er die Touristen, die auf die Insel kommen, nicht nur auf sexueller Ebene ausnutzt, sondern ihnen außerdem eine stereotype Rustikalität verkauft. Im Zuge der Suche nach authentischen Erfahrungen, lokaler Küche und Traditionen konnte Philippe ganze Straßenzeilen und Güter des Inselinneren aufkaufen und in Hotels, Herbergen und Restaurants verwandeln, die das folkloristische Klischeedenken der Touristen bedienen.

Der Erzähler wettert jedoch nicht nur gegen die Romani-Familie und die Gewalttat Alexandres, sondern auch gegen die Besucher auf der Insel. Einheimische und Touristen werden gleichermaßen als dumm und verabscheuungswürdig angeprangert. Der Erzähler selbst schließt sich dabei nicht aus: Auch er schläft mit älteren Touristinnen, die er nicht ausstehen kann; auch er hat zu Philippes Unterhaltungsprogrammen beigetragen und somit die falschen Beziehungen zwischen Ansässigen und Fremden gefestigt. Deshalb hinterfragt er, ob überhaupt eine Begegnung zwischen beiden Gruppen wünschenswert sei – und verweist auf den Untergang des Emirats Harar, das nur fünfzig Jahre nach der Ankunft des ersten Briten Richard F. Burton von Großbritannien annektiert worden ist, sowie auf das Gegenbeispiel der Adamanen-Insel North Sentinel, wo die indigene Bevölkerung jeden fremden Ankömmling angeblich töte. Provokant stellt der Erzähler die Frage, ob dies nicht der bessere Umgang mit Fremdheit wäre. Dabei rückt dieser sich zum Ende noch einmal ins Rampenlicht und lässt doch einige Fragen offen: Welche Mitschuld trägt er am Verbrechen von Alexandre Romani? Inwieweit handelt es sich hierbei nicht auch um eine Form von Abrechnung mit der gesamten Familie? Und vor allen Dingen: Wie sehr kann man dem Erzähler trauen? Denn er entpuppt sich nicht nur als unzuverlässiger Erzähler, sondern vielmehr als gefährlicher Erzähler, der alles um sich mit Dünkel betrachtet und sich nach Zerstörung sehnt.

Genau diese dünkelhafte Erzählhaltung löst den Lesegenuss aus, denn sie bringt einen häufig zum Lachen – bis einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Genau diese Einstellung ist es aber auch, die den Erzähler so sehr mit seinen ‚Opfern‘, den Hauptfiguren des Romans, verbindet: Denn sie enthüllt seine eigene Ohnmacht, sein Geltungsbedürfnis und seine enttäuschten Hoffnungen, die schließlich zu Gewalt führen und dabei ein größeres Problem andeuten, nämlich ein Männlichkeitsbild, das sich auf körperliche Gewalt und sexuelle Unterwerfung stützt. Dass er, der die Insel fürs Studium verlassen hat, wieder zurückkommen und sich mit Leuten unter seinem Bildungsniveau umgeben muss, führt ihn zur selben Frustration, die schon Pierre-Marie Romani zum Banditen gemacht hat.

Inmitten seiner vielsträngigen Erzählung liefert Nord Sentinelle so eine sehr kluge und anregende Infragestellung des Patriarchats. Diese gekonnte Vielschichtigkeit, die zwar mit einigen Lyrismen, wie die Kapiteltitel („ton corps de myrrhe et de jasmin“, „une subtile chair de feu“) belegen, einhergeht, aber dennoch einer leichten und unterhaltsamen Lektüre nicht im Wege steht, stellt erneut Jérôme Ferraris großes Talent als wortgewaltiger Romancier der Gegenwart unter Beweis.

Jérôme Ferrari: Nord Sentinelle. Contes de l’indigène et du voyageur. Arles: Actes Sud, 2004, 144 S.

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