7 Kinderleben

Lilia Hassaine erzählt von einer (verlorenen) Immigrationsgeneration

Veröffentlicht am
28.11.2021
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Für ihren facettenreichen und vor allem originellen Beitrag zur Geschichte des kollektiven wie individuellen französischen Gedächtnisses nach dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert Soleil amer (2021, eine Übersetzung liegt noch nicht vor, zu Deutsch etwa Bittere Sonne) wurde Lilia Hassaine völlig zurecht auf die Longlist des Prix Goncourt, die prestigeträchtigste Literaturauszeichnung Frankreichs, gesetzt. Auch wenn inzwischen klar ist, dass ihr zumindest dieses Jahr der Preis verwehrt blieb, ist wohl unbestreitbar, dass die junge Frau mit algerischen Wurzeln in den nächsten Jahren für Furore im literarischen Feld sorgen und bedeutende Konsekrationen erhalten wird. Grundlegend zeichnet sie ihre Fähigkeit aus, lebendige, mehrdimensionale Charakterporträts in einer klaren, durchdringenden Sprache einzufangen. Davon zeugt der zu besprechende, packende Roman, in dem sie sich den Anfängen der algerischen Immigration nach Frankreich in den 1950er/1960er Jahren widmet.

Den Leser zieht sie in den Bann ihrer Schilderungen zweier ungleicher Brüder, deren Lebenswege auch in Frankreich miteinander verbunden bleiben. Kader und Saïd werden in Algerien angeworben, um in einer Pariser Fabrik zu arbeiten. Kader verliebt sich schließlich in eine Französin, deren Eltern eine Schokoladenfirma, unter anderem mit Zweigstelle in Belgien, unterhalten. Nach der Heirat steigt er sehr erfolgreich ins Unternehmen ein. Lediglich ein Kind fehlt zum gemeinsamen Lebensglück. Saïd wiederum gelingt es nach fünfjährigem administrativem Kampf, der Blessuren in Form des steigenden Alkoholkonsums hinterlassen hat, seine Frau Naja und die drei gemeinsamen Töchter Maryam, Sonia und Nour nach Frankreich zu holen. Die Familienzusammenführung glückt, jedoch stürzt die damit verbundene Schwangerschaft Najas die Familie in Verzweiflung. So entscheiden die Brüder, übrigens in Algerien in wirtschaftlich schwierigen Lebenslagen zu dieser Zeit üblich, dass Kader und seine Frau das Kind von Saïd und Naja aufziehen werden. Überraschenderweise werden jedoch Zwillinge geboren. Kader und Ève adoptieren Daniel, während sein Bruder Amir bei Saïd und Naja aufwächst. Über die familiären Ursprünge der Kinder wird weitestgehend ein Mantel des Schweigens gehüllt.

In den vier Romanteilen, die jeweils grob ein Jahrzehnt, beginnend in den 1960ern, abbilden, erzählt Hassaine das Leben der Familiengenerationen. Sie fertigt ein mehrdimensionales Porträt von sieben verlorenen Kindern an, die alle auf individuelle Weise von Kummer gezeichnet sind, sich gar selbst verlieren, (nicht) alle ohne Aussicht auf Rettung. Just in diesem Rahmen muss das als Paratext dem Roman vorangestellte Rimbaud-Zitat gelesen werden, das jeden Morgen/Sonnenaufgang, jede/n Nacht/Mond als grausam sowie jeden Sonnenstrahl als bitter evoziert.

Arthur Rimbaud: Le bateau ivre

Der Verlust begegnet Saïd und Saja zum ersten Mal in Algerien, als ihr Erstgeborener Ismaël mit drei Jahren an einer Angina pectoris stirbt. In Frankreich müssen sie den Kummer ihrer Tochter Maryam hinnehmen, die der Vater als Teenagerin nach Algerien verheiratet. Ihr Leid in der arrangierten Ehe, das bis auf die Hochzeitsnacht unnarrativiert bleibt, findet seinen sichtbarsten Ausdruck darin, dass sie ihre Schwester Nour, die nicht zur Beerdigung ihres Vaters 1983 erscheint, zu dieser Tat beglückwünscht. Nour, die jüngste Tochter, das Lieblingskind des Vaters, überschüttet die Familie mit Schande, als sie mit einem jungen Franzosen schläft. Die gefallene junge Frau sei ein fauler Apfel, dessen Fäulnis, wie ihr Vater bekennt, auf die Familie zurückfalle. Angesichts dieser Aussage beschließt Nour ihrer Familie den Rücken zu kehren und zu fliehen. Anschließend macht sie als Model Karriere. Wenngleich sie den Drogen fern zu bleiben scheint, gelingt dies ihrem Bruder Amir nicht. Als intelligenter Junge, von einer ehemaligen Lehrerin aus der Nachbarschaft gefördert, beginnt er ein Medizinstudium, das er durch seine Anstellung in einer Bäckerei finanziert. Dem immensen Druck, mit seiner Arbeit seine verwitwete Mutter zu versorgen sowie die Vorlesungen erfolgreich zu besuchen, hält Amir nicht Stand. Er stirbt schließlich an einer Überdosis. Daniel muss also den Verlust seines „Cousins“ verarbeiten. Das siebte verlorene Kind ist die verstorbene Tochter von Ève. Hélène, ungeplante Frucht einer Liebe der Gymnasiastin mit einem Mitschüler, wächst bei Èves Onkel auf und verunfallt auf dem gefrorenen Eis. Sieben verlorene Leben, die um das Zwillingspaar Daniel und Amir zentriert werden. Sieben verlorene Kinder, deren Lebensfäden miteinander von einem Erzähler verwoben werden, dessen Identität schließlich im letzten Kapitel gelüftet wird.

Der Roman, so steht fest, macht aufgrund dieser Schicksale betroffen. Allerdings erklärt diese beim Leser hervorgerufene Anteilnahme noch nicht die Faszinationskraft dieses Werks. Sie scheint darin gegründet zu sein, dass Hassaine einen originellen Blickwinkel auf die Einwanderung in der zweiten Jahrhunderthälfte wirft, der das kollektive Gedächtnis der Banlieue-Geschichte tatsächlich bereichert. Die literarisch und filmisch verbürgten misères der Bewohner, die ohne Möglichkeit auf Erwerbsarbeit dem Alkohol, den Drogen und der Kriminalität (gegen den Staat) frönen, haben wir auf bedruckten Seiten und über Bildschirme flimmern gesehen. Diese Kenntnisse, die Hassaine auch reproduziert, erweitert sie, wenn sie die Ursprünge fiktional einkleidet: die Anwerbung algerischer Arbeiter, der euphorische Einzug in die HLM, wo in den 1960er Jahren noch verschiedene Ethnien aus unterschiedlichen Milieus um einen Esstisch versammelt sind – ohne Rassismus! Zu den wirkmächtigsten Darstellungen Hassaines zählt auch der Generationenkonflikt, der Familien offensichtlich entzweit. Dabei geht es der Autorin wohl nicht nur darum, darauf zu verweisen, was es bedeutet, in einer mediterranen Patriarchatskultur als Frau aufzuwachsen und davon auch fern von Algerien nicht losgelassen zu werden, sondern – fern von jeglicher Apologie – auch den Vater (und letztendlich die Söhne) als Opfer eines traditionellen Erbes darzustellen. Saïd ist nicht zuletzt eine ambivalente Figur, weil auch er angesichts der Anreize zur Rückkehr nach Algerien, die den algerischen Arbeitern von d’Estaing angeboten wurden, erkennen muss, dass er nur aufgrund seiner Arbeitsfähigkeit in Frankreich vom Staat anerkannt wird. Originell ist außerdem die Bedrohung durch das HIV-Virus, dem in den bidonvilles eine ganze Generation junger Menschen,  Männer wie Frauen, vom Leben ohnehin gepeinigt, zum Opfer fallen.

Inhaltlich betrachtet ist es also das Verdienst von Hassaine, diese formlos wabernden Episoden im Unterbewusstsein Frankreichs klar konturiert zu haben. Dies vollzieht sie im Kleid einer kraftvollen Prosa, der es gelingt, eine wundervolle Balance zu halten zwischen schnörkellosem Ausdruck und rhythmischer Sprachmagie. Es ist dieser Prosa zu verdanken, dass der pessimistisch anmutende Grundton nie die Oberhand gewinnt. Wenn die Sonnenstrahlen auch bitter wirken mögen, bedeutet das, dass man sich nicht von der Sonne wärmen lassen kann? Einen Eindruck davon mag das folgende Zitat bieten: „Ta fatigue te rend belle, Naja. On devrait apprendre à aimer les traces du passé, les rides qui ressemblent à des larmes, celles qui témoignent d’un caractère anxieux et marquent le front.“ (S. 24, dt.: „Deine Müdigkeit macht dich schön, Naja. Wir sollten lernen, die Spuren der Vergangenheit zu lieben, die Falten, die wie Tränen aussehen, jene, die einen ängstlichen Charakter bezeugen und Furchen in die Stirn ziehen.“).

Lilia Hassaine: Soleil amer, Paris: Gallimard 2021, 160 S.

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