Authentizität ist bekanntlich Trumpf im gegenwärtigen literarischen Feld. Je authentischer die Erzählung über den eigenen Werdegang im Sozialraum, desto erfolgreicher der Lebensbericht. Das veranschaulicht die französische Klassenaufsteigerliteratur von Annie Ernaux, Didier Eribon, Édouard Louis und Kaoutar Harchi. Die (vorgegebene) Treue zur schonungslos offenen Inszenierung der selbst erfahrenen Wirklichkeit hat, so will es mir zumindest erscheinen, in jüngster Zeit zu einer Reihe an autofiktionalen Romanveröffentlichungen geführt, die das Authentizitätsgebot auf ihre Weise auf die Spitze treiben: Zu denken wäre wohl an Emma Beckers La Maison (2019). Darin erzählt die Autorin von einem ganz besonders extremen Selbstversuch: Zwei Jahre lang hat Becker als Prostituierte in zwei Berliner Bordellen gearbeitet und über ihre Erfahrungen ein Buch geschrieben. Letztes Jahr hat die unter dem Pseudonym Louise Brévins tätige Schriftstellerin ihren Debutroman mit einer sehr ähnlichen Anlage vorgelegt. In Pute n’est pas un projet d’avenir (2023) berichtet sie von ihrer jahrelangen Arbeit als Escort-Girl und erotische Masseuse.
Im Unterschied zu Becker, die wohl größtenteils aus Neugier begonnen hat, ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit zu verdienen, hat sich Louise Brévins zu dieser Entscheidung aufgrund ihrer prekären Lebenssituation durchringen müssen: Sie ist alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter. Ihre zahlreichen Schichten in wechselnden Jobs bringen nur ein geringes Einkommen ein. Aus den am Ende des Monats nicht beglichenen Rechnungen resultieren Schulden. Und schließlich ist da noch die von Bettwanzen heimgesuchte Wohnung, die deshalb bis zum Abschluss der Renovierung – für die selbstverständlich Louise aufkommen muss – unbewohnbar ist.
Die als Abiturientin aus der Provinz in die Hauptstadt gezogene Louise muss sich als Mittzwanzigerin also eingestehen, dass ihre juvenile Hoffnung, das Leben eines Rastignac in Paris führen zu können, vollständig zerschlagen ist. Sie erkennt, dass ihr Leben nichts anderes ist als ein erbarmungsloser Teufelskreis: Arm zu sein bedeutet für sie, noch ärmer zu werden. An ihrem eigenen Leib erfährt sie als alleinerziehende Mutter ohne staatliche Unterstützung, dass das Leben kein Monopoly-Spiel ist, wie sie selbst sagt: Keine 200 Euro gratis, wenn man eine Runde, einen Monat geschafft hat. Stattdessen macht das Leben sie fertig, genauso wie ein wild gewordener Stier einen hilflosen Torero in der Arena in die Mangel nimmt – und die Schar an Zuschauern jubelt frenetisch! Für Brévins existiert, wie sie anschaulich macht, nur diese infernale Gegenwart. Das Heute ist der Modus, in dem ihr Überlebenskampf bestritten wird.
Die prekäre Mutter sieht keinen anderen Ausweg als sich, dem Ratschlag einer Bekannten folgend, auf einer Escort-Seite anzumelden. Der Rest des Romans ist schnell erzählt: Die Mittzwanzigerin kann sich vor Anfragen kaum retten, wozu sicherlich ihr Alter, aber auch ihr Bildungsgrad beitragen: Als an Kunst und Kultur interessierte junge Frau mit Abitur und einigen Semestern Jurastudium im Gepäck– wenngleich sie es nicht abschließen konnte – kann sie Konversation machen, ein Vorteil, aus dem sie Profit schlägt. Sie begleitet abends Geschäftsmänner zu Eröffnungsveranstaltungen und teilt gelegentlich das Bett mit ihnen. Tagsüber, wenn ihre Tochter das Haus verlassen hat, empfängt sie Alleinstehende und Verheiratete zum sexuellen Rendez-vous. Sie verliebt sich in einen Kunden, der dann Teil ihrer Kleinfamilie wird und es auch bleibt. Das Paar beschließt einen Kompromiss: Sie hört als Escort auf und wird erotische Masseuse. Als Alma ‚verzückt‘ sie ihre Kunden und verdient so gut, dass sie ihrer Tochter ein schuldenfreies Leben ohne Sorgen bieten kann. Schließlich beendet sie ihre Masseuse-Karriere und erfüllt sich den Traum eines Kunstateliers in Paris.
Der Hauptteil von Pute n’est pas un projet d’avenir ist ihren Erlebnissen als Masseuse Alma gewidmet. Louises Augenmerk liegt vor allem auf den Porträts ihrer Kunden, die unbestritten Unterhaltungswert haben! Zu ihr kommen zunächst liebende und liebevolle Ehemänner, die aus den verschiedensten Gründen vor dem Sex mit ihren Gattinnen zurückschrecken und sich deshalb stattdessen von Alma massieren lassen. Da sind außerdem die Workaholics, denen die Zeit für eine tiefe Beziehung aufgrund der (selbst gewählten) Arbeitslast fehlt, zudem Männer im Rollstuhl und ja, auch die Sex-Hypochonder. Das ist eine ulkig-weirde Spezies Mensch, wie Brévins mit einer Prise Humor erläutert. Es handelt sich um solche Männer, die auf jedem frisch gewaschenen Handtuch, jeder angebrochenen Tube Öl einen Krankheitsherd erblicken und die für die erotische Massage notwendigen Utensilien deshalb selbst mitbringen. Nicht allein dieser Typ Mann sorgt beim Lesen für Lacher, sondern auch der Kunde, der davon überzeugt ist, dass sein bestes Stück von den vielen sexuellen Kontakten in seiner Jugend zu schrumpfen begonnen hat. Der Unterhaltungswert dieser Szene ist hoch, wozu sicherlich die mit Ironie gewürzten Dialoge beitragen. Nicht zu vergessen die hochgebildeten Literaturlehrkräfte, die obszöne, aber stilistisch anspruchsvolle Briefe aus der Perspektive des männlichen Geschlechtsorgans an Almas Vagina schreiben. Es gibt nichts, was es nicht gibt! Unter den Kunden stechen zuletzt jene Gestalten hervor, die es sich nicht vorstellen können, dass Alma ein Privatleben, eine stabile Partnerschaft und ein Kind hat. Ihnen will es nicht in den Kopf gehen, dass die Masseuse außerhalb ihrer Beziehung für 120 Euro in der Stunde als Mensch, als Zweck an sich existiert...
Was bleibt nach der Lektüre? In erster Linie der Eindruck, dass Louise Brévins eine toughe ‚self-made-woman‘ ist. Sie hat es ganz alleine in die Prostitution hinein und auch ohne Unterstützung wieder herausgeschafft, bravo! Brévins inszeniert sich als eine selbstständige Unternehmerin, die den Widerständen in ihrem Leben erfolgreich getrotzt hat, weil sie bereit war, wirklich alles zu geben. Damit nährt sie das neoliberale Märchen, die Hindernisse im eigenen Leben nur aufgrund von Opfer- und Leistungsbereitschaft überwinden zu können. Ihr Lebensweg ist also gar nicht so weit entfernt von dem mythischen Aufstieg der Vivian aus Pretty Woman (1990) und damit wohl selbst ein Mythos, weniger dokumentarisch, als es die dem Roman vorangestellten Zeilen propagieren, nichts erfunden, nichts ‚romanciert‘ zu haben.
Was mir wiederum gefallen hat, ist, dass Brévins in ihrem Debutroman die gängigen Fallstricke von Populismus und Miserabilismus vermieden hat. Die Autorin ist weit entfernt davon, das Milieu, in dem sie sich bewegt, zu glorifizieren oder zu denunzieren. Sie verurteilt weder die Prostituierten oder die Kunden, noch legt sie eine Apologie der Sexarbeit in der Spätmoderne vor. Gerade in dieser Hinsicht arbeitet sie sich, allerdings ohne den Titel explizit zu nennen, an Beckers La Maison ab. Das hat ihr Freund Florent ihr in die Handgedrückt. Dieser Poetisierung des Sexbusiness kann sie nicht zustimmen! Das Einzige, was sie ehrlich und offen sagen kann, ist, dass die Prostitution sie gerettet hat, sodass sie diese Wahl jederzeit wieder treffen würde. Und darüber hinaus, dass dieser Beruf, wie der Titel belegt, jungen Frauen keine Zukunft bietet, kein adäquates Zukunftsprojekt ist. Als Prostituierte kann sie zwar an ein Morgen denken und dieses Morgen sorgenfrei (er-)leben, denn Louise ist schuldenfrei, hat eine stabile Partnerschaft, eine gesunde Tochter, die in den Ferien verreist und die die Theater-AG der Schule besucht. Jedoch kann die Sexarbeit kein Zweck an sich, kein Selbstentwurf sein, wie Sartre sagen würde: Die Arbeit belastet Louise derart, dass sie Ekzeme am ganzen Körper bekommt. In ihrem Lebenslauf klafft außerdem eine Lücke nach dem Studienabbruch und der Geburt ihrer Tochter, die sie in Bewerbungsgesprächen nicht geneigt ist, aufzuklären. Der Undurchsichtigkeit ihrer Einkünfte wegen verleiht ihr die Bank trotz einem vollen Konto keine Kreditwürdigkeit. Kurzum: Dass sie die Autonomie über ihre Zukunft zurückerlangt hat, ist, so paradox es klingen mag, synonym zu einer bestimmten Zukunftslosigkeit. Das ist der Widerspruch ihres Lebens, der sich nicht auflösen lässt, solange Louise Brévins gewillt ist, ein bürgerliches Leben führen zu wollen. Es bleibt der (Aus-)Weg in die Kunst, den Louis Brévins freudig geht. La bohème, la bohème, ça veut dire qu’on est heureux, wie uns Charles Aznavour beigebracht hat. Ausdruck dieser konsequenten Selbstwahl, wie Sartre sagen würde, ist das Buch, das wir als Leser in den Händen halten, ein Roman, dem die sicherlich nicht ganz ernst zu nehmende Aussage vorangestellt ist, gar kein Roman zu sein, sondern ein dokumentarischer Bericht, der bloß dem Imperativ der Authentizität und nichts anderem unterliegt.
Louise Brévins: Pute n’est pas un projet d’avenir. Paris: Grasset 2023, 223 S.
"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)
Dass Anne Webers neuestes Buch 'Bannmeilen' ein Roman ist, kann bezweifelt werden. Dass es aber auf fesselnde Weise von soziologischen „Streifzügen“ erzählt, das lässt sich nach der Lektüre und auch schon nach wenigen Seiten sagen. Gerade ist sie dafür in Münster mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis ausgezeichnet worden.