Geheimnisvolle Briefe, Absender unbekannt: Wer bist du?, Woher kommt die Welt? So beginnt der Weltbeststeller Sofies Welt (1994) von Jostein Gaarder. Auf unnachahmliche Art und Weise verknüpft der Norweger darin Coming-of-Age-Roman und Philosophiegeschichte miteinander – Plot Twist inklusive.
Aufgrund der didaktischen Anlage von Sofies Welt – in fünfunddreißig Kapiteln lernen die fünfzehnjährige Sofie und ihr Mentor die großen Denkerinnen und Denker seit der Antike kennen – wurde eine Parallele zwischen Gaarders Jugendbuch und Thomas Schlessers 2024 bei Albin Michel erschienenem Roman Les Yeux de Mona gezogen: Die titelgebende Mona sieht sich jeden Mittwoch, 52 Wochen lang, mit ihrem Großvater ein Kunstwerk in verschiedenen Pariser Museen an. Mit Botticelli in der Renaissance beginnend, lernt sie – und wir Leser mit ihr – die europäische Kunstgeschichte kennen.
Der Autor Thomas Schlesser war bislang wohl nur Insidern bekannt: Der Kunsthistoriker hat eine Doktorarbeit über Courbet geschrieben, Einführungen in die Kunstgeschichte verfasst und nun seinen zweiten Roman veröffentlicht. Mit Les Yeux de Mona, ebenfalls in deutscher Übersetzung erschienen, ist ihm nun auch ein Welterfolg als Schriftsteller gelungen.
Ausgangspunkt ist ein medizinisch unerklärlicher Zwischenfall: Für mehr als eine Stunde verliert die zehnjährige Mona an einem Sonntagnachmittag ihr Augenlicht. Tout devint sombre, alles wurde dunkel, heißt es zum Auftakt des Romans. Handelt es sich um einen einmaligen ‚Anfall‘? Droht das Mädchen für immer zu erblinden? Auf diese Fragen haben die Mediziner keine Antwort, ausschließen können sie den irreversiblen Verlust des Augenlichts jedenfalls nicht. Nach dem Untersuchungsmarathon wissen sich die behandelnden Ärzte im Krankenhaus schließlich keinen anderen Rat, als die von Problemen geplagte Familie zu einem Kinderpsychiater zu überweisen. Monas verwitweter Großvater Henry Vuillemin erklärt sich auf Bitten seiner Tochter bereit, seine einzige Enkelin zu den wöchentlichen Terminen zu begleiten. Allerdings beschließt er, anders als abgesprochen, sie nicht zum Arzt zu bringen, sondern Mona eine in seinen Augen vielversprechendere Therapie zu verordnen: Sollte Mona eines Tages tatsächlich erblinden, dann muss sie vorher die wahre Schönheit der Welt, kennengelernt und die Erinnerung daran in ihrem Inneren abgespeichert haben. Kurzerhand entscheidet Henry also, Mona die aus seiner Sicht bedeutendsten Kunstwerke der europäischen Geschichte zu zeigen.
Und das ist wirklich sehr gelungen: Wir Leser begleiten die beiden wöchentlich in den Louvre, in das Musée d’Orsay und das Centre Pompidou, um mit Monas Augen Fresken, Statuen, Porträts, Stillleben und spätmoderne Installationen zu betrachten. Dabei legt Thomas Schlesser Henry leicht verständliche Erklärungen in den Mund, die verdeutlichen, wie die Künstlerinnen und Künstler mit den etablierten Codes ihrer Zeit gebrochen haben. Ohne von Oben herab belehrt zu werden, lässt sich lernen, wie etwa in den Niederlanden im 17. Jahrhundert der Bruch mit den Gepflogenheiten der Porträtmalerei vollzogen wurde.
Zu den Stärken des Romans zählt außerdem, dass Schlesser trotz seiner Zielsetzung, in die Kunstgeschichte einzuführen, den Fokus auf Mona und Henry hält. Für beide ist bzw. wird die Kunst ein Anker zur Bewältigung der Unvorhersehbarkeiten des Lebens. Mona und Henry zeigen uns, dass Herausforderungen von unserer Perspektive abhängen. Und so ist für beide Schwarz auch nur eine Farbe, wie sie und damit auch wir Leser vor Pierre Soulages im Centre Pompidou lernen.
Nicht so überzeugend sind allerdings die allzu holzschnittartigen Nebenfiguren. Monas Mutter etwa hat kein wirkliches Innenleben, ihr Vater bleibt darauf reduziert, ein erfolgloser Antiquitätenhändler zu sein, der trinkt, weil er erfolglos ist, oder erfolgslos ist, weil er trinkt. Das scheint etwas zu einfach. Dann mutet es doch etwas antiquiert an, dass, wie vor 30 Jahren in Sofies Welt, ein alter weißer Mann seiner Enkelin die Kunstgeschichte nahebringt. Muss das im Jahr 2024 noch sein? Schließlich gelingt Schlesser die kindliche Perspektivierung außerhalb des Museums nur teilweise. Freundschaften von Mona und ihren Schulalltag wählt er als Rahmen für die Kapitel, was einerseits geschickt ist, um abwechslungsreiche Einstiege zu gestalten, andererseits aber nicht überzeugen kann, weil die Dialoge zwischen den Kindern – etwa Monas Streitigkeiten mit den Jungs um die Spielfläche auf dem Schulhof – allzu künstlich wirken. Bekanntlich ist das Erzählen aus der Perspektive eines Kindes ein äußerst schwieriges Unterfangen, an dem schon andere Autoren und Autorinnen gescheitert sind, wie zuletzt Leïla Slimani in ihrer Trilogie Le pays des autres.
So wie Sofies Welt (1994) mich damals für die Philosophie gewonnen hat, so verdanke ich Schlessers Les Yeux de Mona (2024) die Einladung, Kunstwerke und ihre Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – und zwar ganz konkret, wenn ich Mitte April in Paris durch den Louvre und das Musée d’Orsay streifen werde. Besonders freue ich mich auf Hals’ La Bohémienne und Benoists Portrait présumé de Madelaine – zwei Werke, die ich bei meinem letzten Louvrebesuch und damit vor meiner Begegnung mit Mona und Henry noch mit ganz anderen Augen gesehen hatte.
Thomas Schlesser: Les Yeux de Mona. Paris: Albin Michel, 485S.
Thomas Schlesser: Monas Augen. München: Piper, 496S.
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