Wenn ich überlege, wie ich die vorliegende Rezension beginnen soll, kommt mir unmittelbar Lotta aus der Krachmacherstraße in den Sinn. Sie wissen schon, das kleine Mädchen aus der schwedischen Vorstadt, die sich Astrid Lindgren ausgedacht hat. Dieser Knirps kann, anders als es der Titel Lotta kann fast alles vermuten lässt, wirklich alles. Ski laufen, sich um eine kranke Tante kümmern, die älteren Geschwister Jonas und Mia Maria ärgern und sogar einen Weihnachtsbaum organisieren, obwohl selbst die Erwachsenen ihre Suche erfolglos abbrechen mussten – Lotta kann eben alles.
Das trifft auch auf den französischen Drehbuch-, Comic-, und Krimi-Autor Tonino Benacquista zu. Im vergangenen Jahr hat er überraschenderweise sein literarisches Spektrum um die Autofiktion erweitert. Und nach der Lektüre seiner Familiengeschichte Porca Miseria (2022) bleibt festzuhalten: Benacquista kann auch das! Das liegt vor allem daran, dass er nicht einfach ein bewährtes Erfolgsrezept aus dem aktuellen literarischen Feld kopiert. Obwohl das Thema des Klassenaufstiegs schon seit längerer Zeit boomt, gelingt es ihm, seinen Werdegang so zu beschreiben, dass man gerade nicht denkt, all das schon mehrfach gelesen zu haben.
Das ist aus mehreren Gründen überraschend: Erstens entführt uns der Schriftsteller in dasselbe Milieu, aus dem Annie Ernaux, Édouard Louis oder Didier Eribon stammen, nämlich in die classes populaires. Zweitens zeichnet auch er das Porträt eines alkoholabhängigen Vaters, von dem sich die Kinder wünschen, dass er endlich betrunken ins Bett gehen möge. Wie die genannten Schriftsteller und Schriftstellerinnen kondensiert er in der Figur seines Vater drittens den Lebensstil eines ganzen Milieus: Die Lebensbedingungen seiner Familie drückt er mit dem Verb subir, (er-)leiden, aus. Ihr Leben liest sich wie eine Passionsgeschichte, die Eltern sind zur Passivität verurteilt. Sie zählen zu den sozial Enterbten (Sayad) und zu den Verwundbaren (Castel), die sich mit einem kleinen Gehalt mühsam von Monat zu Monat über Wasser halten müssen. Darauf spielt auch der Titel an: „Porca miseria“ ist ein typisch italienischer Fluch – „Verflucht nochmal!“ oder „Was für ein scheiß Leben“. Wie die Mehrzahl der genannten Autosoziobiographen gelingt es Benacquista viertens, ganz ohne sozialvoyeuristische Verzerrung von seinem Herkunftsmilieu zu erzählen, in dem der Vater kaum lesen kann, in dem kein einziges Buch zum Haushalt gehört, in dem Französisch eine Fremdsprache ist, in dem bloß dem letzten Sprössling der Familie eine längere Schulausbildung gestattet wird. Fünftens gewinnt der Autor ebenfalls aus seinen Erinnerungen, dem imaginären Museum aufgehängter Bilder, wie er erläutert, seinen Romanstoff. Das Schreiben bedeutet für ihn, wie für so viele erfolgreiche Autoren, sechstens Rache zu nehmen nach dem Klassenverrat.
Wie gelingt es Benacquista also, der boomenden Gattung etwas Eigenes, etwas Originelles hinzuzufügen? In erster Linie dadurch, dass er nicht sein Aufsteigerleben erzählen will. Er will keine soziologischen Theorien von Bourdieu, Castel oder Sayad illustrieren, nicht von Verratsgefühlen und gespaltenem Habitus reden. Bezeichnenderweise kommt weder der Begriff Habitus noch das Gefühl der Scham in seinem Buch vor. Diverse Ungleichheitskategorien bleiben ebenso außen vor. Schreiben als Racheakt wird auch bloß an einer Stelle erwähnt, dort übrigens im Zusammenhang mit Hexerei und Magie. Als Leser habe ich den Eindruck, dass Benacquista das Genre der Autosoziobiographie gar nicht bedient. Anders als die Vertreter und Vertreterinnen dieses erfolgreichen literarischen Genres erzählt er die Biografie eines Geschichtenerzählers, eines Jungen, in dem schon sehr früh der Wunsch reift, Schriftsteller zu werden. Benacquista ist als Kind schon der Langeweile entkommen, indem er sich Abenteuer ausgedacht hat: In seiner Straße muss er nur die Augen aufmachen, um hinter den geschlossenen Türen Stoff für seine eigenen Fiktionen zu finden. Was die Erzählkunst betrifft, ist er Autodidakt, denn zuhause findet er, wie bereits erwähnt, keine Bücher vor. Außerdem interessiert er sich kaum für die Werke, die im Unterricht gelesen werden. Während seiner Schulzeit mag er daher nur die Aufgaben, der sich auch ohne längere Vorbereitung erledigen lassen, nämlich Aufsätze zu schreiben. Seine Phantasie und sein Sprachgefühl sind dabei seine wichtigsten Trümpfe.
Fiktion ist für ihn generell die von der Hand in Buchstaben gegossene Träumerei! Das ist nicht despektierlich gemeint. Träumerei im besten Sinne des Wortes: Porca miseria ist an den Stellen am stärksten, wo das Dringlichste, also das menschliche Herz, seinen ehrlichen Ausdruck findet. Wie es anders hätte sein können, wie es sich Tonino Benacquista für sich, seine Geschwister und seine Eltern gewünscht hätte. Dazu zählt eine besonders eindrückliche Szene, die nie stattgefunden hat: Sein Vater, an dessen Sterbebett sie alle stehen, erklärt sich, seine Sucht und bittet die Ehefrau und die fünf Kinder schließlich um Vergebung. Es folgen noch weitere versöhnliche Utopien, wie der Autor es ausdrückt, ein mögliches Familienleben in Amerika, eins in Italien. Ja, so hätte es sein können, vielleicht sogar sein sollen. Das ist weder Realitätsflucht noch bedeutet es, dass in Benacquistas Buch Verbitterung zu spüren wäre. Maupassants letzte Romanworte aus Une vie, die er so oft zitiert, sind als sein Credo zu lesen: „La vie, ça n’est jamais si bon ni si mauvais qu’on croit“ (dt.: „Das Leben ist nie so gut oder so schlecht wie man denkt“).
Tonino Benacquista ist ein wirkliches schönes Buch gelungen, das, so scheint es, mehr fiktional als autobiographisch ist. Es ist nicht die Authentizität, die die Wahrheit verbürgt. Stattdessen liegt sie in der kunstvollen Bearbeitung von Erlebnissen, die so oder so ähnlich oder ganz anders hätten sein können. Die Kunst ist das Wahre, das Wahre die Kunst.
Tonino Benacquista: Porca Miseria, Paris: Gallimard 2022, 198S.
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