Ob das Thema Auschwitz tatsächlich als Sommerlektüre taugt? Wäre da nicht ein raffiniert komponierter Krimi die bessere Wahl? Zwei aktuelle Romane aus Frankreich, die vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienen sind, zeigen, dass auch schwierige Familiengeschichten glänzend unterhalten können und dass der berufliche Alltag in einem Verlagslektorat durchaus tödliche Folgen haben kann.
Die Starautorin Yasmina Reza gilt hierzulande vor allem als die Godmother eskalierender Gesellschaftskomödien und Garantin für ausverkaufte Theatersäle. Mit ihrem jüngsten Werk Serge (F 2021, D 2022) hat sie nun einen Familienroman vorgelegt, in dem sie teilweise auf die vielfach bewährten Erfolgszutaten ihrer Theaterstücke zurückgreift (bourgeoises Milieu, sich hochschaukelnde Konflikte, geschliffene Dialoge, ambivalente Figuren), aber doch auch ungewohnt zarte Töne anschlägt. Das überschaubare Figurenensemble besteht im Wesentlichen aus der jüdischen Familie Popper: dem ältesten Sohn Serge – Griesgram durch und durch – und seiner ‚woken‘ Tochter Joséphine, dessen jüngerem Bruder Jean, der gleichzeitig als Ich-Erzähler des Romans in Erscheinung tritt, sowie der jüngsten Schwester Nana, glücklich verheiratet mit einem Spanier. Nach dem Tod der Großmutter schlägt Joséphine vor, dass die Familie einen Wochenendausflug nach Auschwitz machen solle, um sich am Ort des Grauens mit den eigenen Wurzeln jüdischer Identität auseinanderzusetzen, die in der Familie kaum je thematisiert wurden. Die verstorbene Großmutter gehörte zur Generation der Schweigenden, was von ihren drei Kindern offenbar niemals in Frage gestellt wurde. Jetzt ist es in der Logik der Generationen die Jüngste, die mit dem Schweigeregime der Ältesten brechen will. Während sich Jean und Nana bereitwillig auf diesen Trip einlassen, spielt die Titelfigur Serge die Rolle des Bad Guy: Ihm ist es während des Besuchs der Gedenkstätte zu heiß, er möchte lieber rauchen und sich überhaupt am liebsten von den schwitzenden Besucherhorden fernhalten – kurz: er verweigert sich dem von seiner eigenen Tochter aufoktroyierten Gedenkgebot.
Der konfliktreiche Familienbesuch von Auschwitz stellt jedoch nur den Mittelteil des Romans dar. Reza erzählt daneben vor allem die deutlich weniger spektakuläre Geschichte zweier ungleicher Brüder, die sich beide trotz allen Differenzen und familiären Dysfunktionalitäten bis zum bitteren Ende die geschwisterliche Treue halten. Diese Treue ist wohl vor allem dem konzilianten Wesen des Jüngeren in Rechnung zu stellen, während Serge nahezu durchgängig die Rolle des egozentrischen Zynikers spielt, der einem Skizzenbuch von Thomas Bernhard entsprungen sein könnte. Beide Brüder, die zu Beginn der Geschichte bereits sämtliche Illusionen und Glücksversprechen weit hinter sich gelassen haben, lernen auf sehr unterschiedliche Weise, sich mit der Absurdität der menschlichen Existenz zu arrangieren; und damit auch mit der unausweichlichen Vergänglichkeit des Lebens. Der eine wird zum Zyniker, der andere zum passiven Erdulder. Auch wenn insgesamt einige der sehr dialoglastigen Auschwitz-Passagen, wie einige Kritiker herausgestellt haben, etwas zu grell und effekthascherisch ausgefallen sein mögen, sind es doch gerade diese eher leisen Kämpfe der beiden Brüder um ihre eigene Existenz als Geschwisterpaar, die dem Roman am Ende eine beinahe zärtlich-ernsthafte Note verleihen, die man in Rezas Boulevardkomödien vergeblich sucht.
Yasmina Reza: Serge, Paris: Flammarion 2021, 233 S. (dt.: Serge, aus dem Französischen v. Hinrich Schmidt-Henkel u. Frank Heibert, München: Hanser 2022, 208 S.).
In Deutschland ist der französische Schriftsteller und ehemalige Antiquitätenhändler Antoine Laurain noch zu entdecken. Der in Frankreich längst als Bestsellerautor von Unterhaltungsromanen etablierte Schriftsteller, zu dessen größten Fans u.a. Camilla, Duchess of Cornwall gehören, hat mit Le Service des manuscrits (2020, D 2022) einen im doppelten Sinne literarischen Krimi geschrieben, der sich im Vorfeld der Vergabe des Prix Goncourt abspielt. Schauplatz der Geschichte ist die Manuskript-Abteilung eines großen Pariser Verlags, der nur unschwer als Gallimard zu erkennen ist. Darin herrscht Star-Lektorin Violaine Lepage wie eine charismatische Königin über ihren eigenen Hofstaat. Nach einer längeren Durststrecke und einem nur knapp überlebten Flugzeugabsturz hat Violaine endlich wieder einen Grund zur Freude, als ein von ihr entdeckter Roman auf der Shortlist des renommiertesten aller französischen Literaturpreise landet. Das Problem ist nur: weder sie noch sonst irgendjemand kennt Camille Désencres, den Autor – oder die Autorin? – von „Les fleurs du sucre“. Violaine wurde einst das Manuskript per E-Mail zugesandt, danach hatte sie mit der oder dem offenbar öffentlichkeitscheuen Camille nur sporadischen Mailkontakt. Auch nach der Nominierung weigert sich der Schöpfer oder die Schöpferin der „Zuckerblumen“, persönlich in Erscheinung zu treten, was Violaine an den Rand des Wahnsinns treibt, da der Prix Goncourt nur in Anwesenheit der Prämierten verliehen werden darf. Violaines Wahnsinn steigert sich noch, als sich die Polizei ebenfalls auf die Suche nach Camille Désencres macht, da sie in einer Mordserie ermittelt, die exakt den Morden in „Les fleurs du sucre“ nachempfunden ist. Violaines Ahnungslosigkeit macht sie nicht nur zur Mitverdächtigen, sondern lässt ihre Hoffnungen auf den Prix Goncourt in immer weitere Ferne rücken.
Es ist nicht nur die typische Krimispannung, die aus Le Service des manuscrits einen regelrechten Pageturner macht. Laurain liefert nebenbei auch höchst amüsante Einblicke in die Herzkammern des Pariser Literaturbetriebs. Als Erfolgsautor, der seine Werke bei Flammarion veröffentlicht, dürften einige dieser Schilderungen durchaus von Insiderwissen unterfüttert sein. Als überaus gelungen erweist sich auch die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit, die nicht zuletzt darin kulminiert, dass die Protagonistin immer wieder einem Autor namens Marcel Proust begegnet und sich mit ihm angeregt unterhält – ironischerweise hatte Proust selbst lange Zeit mit dem Service des manuscrits von Gallimard zu kämpfen, wollte das Lektoratsteam doch den ersten Band von A la recherche du temps perdu lange Zeit nicht in sein Verlagsprogramm aufnehmen. Erst als Proust 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, zeigte sich Gallimard reuig. Ob nun Camille Désencres nach der (vielleicht etwas zu) turbulenten Auflösung am Ende des Krimis tatsächlich den Goncourt entgegennehmen darf (oder will), soll an dieser Stelle nicht verraten werden, auch wenn dieser Spoiler die sommerliche Lesefreude kaum trüben würde.
Antoine Laurain: Le Service des manuscrits, Paris: Flammarion 2020, 224 S. (dt.: Eine verdächtig wahre Geschichte, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Hamburg: Hoffmann und Campe / Atlantik 2022, 208 S.).
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