Verbrechen und Strafe – Sorj Chalandon führt in seinem Roman "Enfant de Salaud" (mindestens) zwei Prozesse

Lyon 1987: Ein Mann erzählt aberwitzige Geschichten, ein anderer Mann lächelt und schweigt. Beide tragen Masken.

Veröffentlicht am
11.11.2021
Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
Hier klicken um den Beitrag runterzuladen

Sorj Chalandon führt mit seinem neuen Roman Enfant de salaud (Grasset 2021) in den Justizpalast von Lyon und macht die Leser zu Beobachtern des Prozesses gegen Klaus Barbie, SS-Hauptsturmführer, von 1942 bis 1944 Gestapo-Chef in Lyon. Wie viele andere Nazis, darunter Adolf Eichmann und Josef Mengele, war Barbie nach dem Zweiten Weltkrieg über die „Rattenlinie“ nach Südamerika geflohen und in einer Diktatur untergetaucht, unter dem Pseudonym Klaus Altmann hatte er in La Paz, Bolivien, ein neues Leben begonnen. Anfang der 1970er Jahre spürten Serge und Beate Klarsfeld ihn dort auf, nach zähen Verhandlungen wurde Barbie 1983 nach Frankreich ausgeliefert. Der Prozess gegen den inzwischen 73- jährigen Angeklagten, den „Schlächter von Lyon“ – 1952 und 1954 zweimal in Abwesenheit in Lyon zum Tode verurteilt –, wurde 1987 von einem außergewöhnlichen Medieninteresse begleitet und in der ganzen Welt verfolgt. In Frankreich trug dieser Prozess zu vertieften Debatten um die lange verschwiegene oder halbherzig aufgearbeitete Kollaboration bei.

Chalandon, in Deutschland vor allem durch den Erfolg des sozialkritischen Thrillers Le Jour d’avant /Am Tag davor (2017/ 2019) bekannt, hatte bereits zuvor den autobiographisch gefärbten Vater-Sohn-Roman, Profession du père/Mein fremder Vater (2015/2017) veröffentlicht. Mit Enfant de salaud, seinem zehnten Roman, begibt er sich in das Herz familiärer Finsternis, der Text ist autofiktional. Der Ich-Erzähler wurde als 10-Jähriger von seinem Großvater in einem Anfall von Zorn „enfant de salaud“ genannt, die Zuschreibung lastet seitdem als ungelöste Frage auf ihm. 25 Jahre später verfolgt er als Berichterstatter den Prozess gegen Klaus Barbie, so wie der Autor selbst es damals für die Zeitung Libération tat. Wegen der großen Zahl an Zeugen, Nebenklägern, Vertretern verschiedener Organisationen und akkreditierten Reportern – 800 Journalisten aus aller Welt hatten um Zulassung ersucht – wird der Prozess in die Wandelhalle des Justizpalastes verlegt und mit der Begründung seiner historischen Dimension gefilmt. Die Idee, die Sitzungen in ein Stadion zu verlegen, wurde verworfen, um den Angeklagten nicht zum Schauobjekt zu machen. Der Barbie-Prozess wird am 11. Mai 1987 eröffnet. „Il entre. Vieillard fantomatique en costume noir“. So schrieb Chalandon am 12. Mail 1987 in seinem Zeitungsbericht, so steht es nun wieder im Roman. Ein zwingendes Bild. Auch Vater Chalandon, von Barbie besessen, verschafft sich mit falschen Insignien den Zutritt, der Sohn beobachtet ihn, wie er während der Zeugenaussagen einschläft oder an die Decke starrt und beim Erscheinen Barbies „vibriert“. Was hat dieser Mann erlebt? Was hat er zu verbergen? Jeden Tag stellt der Sohn den Vater zur Rede, um die wahre Geschichte des „Dreckskerls, der auf der falschen Seite stand“, zu hören und das Familiengeheimnis zu lüften. Und während der Vater ihm in zahllosen Episoden aus der Okkupationszeit die aberwitzige, nachgerade pikareske Heldengeschichte eines jungen Mannes in fünf Uniformen auftischt, der sich wie ein Traumtänzer zwischen allen Frontlinien bewegte, bekommt der Sohn Einsicht in geheime Justizakten. Sie weisen den Fabulierer als Kollaborateur aus und legen dar, dass er 1944 wegen Gefährdung der nationalen Verteidigung zu einem Jahr Gefängnis und fünf Jahren nationaler Unwürdigkeit verurteilt wurde: ein „gefährlicher Lügner, begabt mit erstaunlicher Einbildungskraft“. Die Leser nehmen so an zwei Prozessen teil, dem aufsehenerregenden Prozess Frankreichs gegen Klaus Barbie, und dem stillen, von Scham begleiteten Prozess des Erzählers und Autors gegen seinen Vater, den Phantasten. Der nicht nur seiner armseligen Kriegsgeschichte wegen ein „salaud“ war, sondern auch, weil er über viele Jahre seinen Sohn elend belogen hat. Ein Schmerz.

Der Roman führt anfangs an den Ort, der im Zentrum der Anklage steht: das weitgehend verlassene Kinderheim von Izieu, in dem 44 jüdische Kinder und 7 Erwachsene am 6. April 1944 gefangen genommen und später nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Au revoir, les enfants – vor Augen stehen hier auch sofort Bilder aus Louis Malles Film. Serge Klarsfeld, selbst 1943 nur knapp einer Razzia entkommen, wird am 17. Juni als Anwalt der Opfer aufgerufen, seine Aussagen sind die letzten. Er nennt jedes deportierte Kind bei seinem Namen. Keines kam zurück. Klarsfelds tonlose Stimme spricht das Kaddish für jedes Kind. Das ist erschütternd. Barbie, der an manchen Verhandlungstagen nicht erscheint und gegen seine „Entführung“ protestiert, lächelt und leugnet bis zuletzt die Verantwortung für diese und andere Verbrechen  – darunter die Razzia im Gebäude der Union générale des israélites de France am 9. Februar 1943 und der Befehl für Deportationen mit dem letzten Zug nach Auschwitz-Birkenau am 11. August 1944. Die Zeugenaussagen jedoch führen dazu, dass Barbie nach 36 Verhandlungstagen am 4. Juli zu fünfmal lebenslanger Haft verurteilt wird, ohne Berücksichtigung mildernder Umstände. Er stirbt am 25. September 1991 in Haft. Die Prozessakten werden dreißig Jahre später, am 4. Juli 2017, geöffnet.

Die Nazizeit ist nicht vergangen, auch wenn die Täter von damals längst Greise sind und bis zuletzt, soweit man ihrer habhaft wird, vor Gericht stehen. Die Literatur über die Verbrechen und Strafen des Nationalsozialismus ist auf dem deutschen, französischen und internationalen Buchmarkt präsent und erfolgreich. In den letzten Jahren erschienen zum Beispiel La Disparition de Josef Mengele/Das Verschwinden des Josef Mengele von Olivier Guez (2017/2018) und Die Verteidigung von Fridolin Schley (2021), auch das eine Vater-Sohn-Geschichte, die Geschichte von Richard und Ernst von Weizäcker. Hinzukamen viel beachtete Filme über Adolf Eichmann und den Generalstaatsanwalt und Nazijäger Fritz Bauer. Chalandon fügt den Erinnerungen an die Verbrecher und den historischen Nachforschungen ein weiteres, intimes Kapitel hinzu. Nicht zuletzt aus dieser Parallelführung und Verdichtung entsteht die Wucht von Enfant de salaud: Denn wir erleben einerseits die szenische Darstellung des Barbie-Prozesses – die Atmosphäre im Gerichtssaal, die ergreifenden Aussagen von Zeugen und Nebenklägern, Auszüge aus den Plädoyers – und verfolgen andererseits die labyrinthische Suche des Erzählers nach der wahren Geschichte seines Vaters. Dieser war, wie im Roman immer wieder reflektiert, kein primitiver, gemeiner Lacombe Lucien, sondern verfügte vielmehr bis zu seinem Tod 2014 auf eine irre Weise über die Qualitäten eines Romanciers.  

Der Roman rüttelt auf und bestürzt, manches irritiert. Zum Beispiel dieses: Barbie wurde 1987 durch Maître Jacques Vergès, durch den Algerier Maître Nabil Bouaita und durch Maître Jean-Martin Mbemba, Anwalt in Brazzaville, Kongo, verteidigt. Bezeichnet Chalandon Letzteren als Senegalesen, um der von der von der französischen Armee ausgebeuteten tirailleurs sénégalais zu gedenken? Vergès, der Diktatoren, Kriegsverbrecher und Terroristen vertrat und zum Islam konvertiert war, redet sich in Rage, verhöhnt die „Phantasmen“ der Opfer, geht zum Angriff auf die Kolonialmacht Frankreich über und fragt, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit diese Bezeichnung nur verdienen, wenn ihre Opfer Europäer sind. Bouaita vergleicht die Verbrechen Barbies zum Entsetzen der Nebenkläger mit denen der „israelischen Schlächter“ und spricht von der „Nazifierung der israelischen Juden“. Mbemba erinnert an die kolonialistischen Grausamkeiten im Kongo und äußert Genugtuung darüber, dass die Nazis zu ihrer Verteidigung auf einen „nègre“ zurückgreifen und diesen deshalb als Menschen anerkennen müssen. Er zollt Barbie, der ihm die Hand gebe, Respekt. Heute ist um die Frage der Relativität nationalsozialistischer Verbrechen, vor allem um die postkolonialen Positionen Achille Mbembes und Dirk Moses‘, ein neuer „Historikerstreit“ entflammt, zumal Grundsätze des Völkerstrafrechts wie der juristische Tatbestand des Genozids – zurückgehend auf Raphael Lemkin und Hannah Arendt – gar als Verschwörung von Zionisten bezeichnet werden. Chalandon räumt Bouaita und Mbemba nur wenig Raum ein, dieser jedoch reicht aus, um auf kolonialistische Schuld und Rassismus aufmerksam zu machen, Themen, die 1987 noch nicht debattiert wurden. Allerdings kürzt er die Aussagen der beiden um die fragwürdigsten Details, so dass sie ohne zusätzliches Wissen und die Lektüre anderer Prozessberichte seltsam erratisch wirken. Wie kam es gerade zu diesen Anwälten? Dass sie 1987 im Justizpalast von Lyon während eines Holocaust-Prozesses zwecks Entlastung des „Schlächters von Lyon“ in dieser Weise plädieren konnten, ist doch im Grunde, obwohl Verteidiger verteidigen, ungeheuerlich.

Was macht dieses Buch mit dem Leser? Gibt es am Ende Wahrheit und gerechte Strafen? Klaus Barbie wurde gerichtet. Vater Chalandon verurteilt. Nur der Nebel über seinem Schicksal und in seinem Kopf lichtet sich nie ganz. Der Sohn aber, bekannt für seine packende Erzählweise, für schockierende showdowns und überraschende Volten, fügt den Recherchen ein weiteres Rätsel hinzu, eines der großen Rätsel der Okkupationszeit: Wer verriet Jean Moulin? Ein anderer prominenter Résistant, wie Vergès insinuiert, um den „großen nationalen Roman“ zu „verdunkeln“? Und was hat der irrlichternde Vater damit zu tun? Chalandon legt Fährten aus in das Dickicht um Klaus Barbie, den Schlächter, Jean Moulin, den Märtyrer der Résistance, und den kleinen Soldaten mit den großen Geschichten – welch ein Coup! Wohin das führt? Das muss man selbst nachlesen. Veritas und Iustitia aber sind schwierige Göttinnen. Sie geben nicht immer einfache Antworten. Und entlassen uns nicht aus der Pflicht, weiterhin Fragen zu stellen.

Notiz

Mit einer deutschen Übersetzung, vermutlich erneut bei dtv, ist zu rechnen. Man würde sich dafür, vor allem für eine hoffentlich große junge Leserschaft, ein Glossar und ein Nachwort wünschen. Das Leben von Beate und Serge Klarsfeld ist mehrfach verfilmt und erzählt worden, zuletzt in einer Graphic Novel (Pascale Bresson/Sylvain Dorange, Beate et Serge Klarsfeld. Un combat contre l’oubli/Beate und Serge Klarsfeld. Die Nazijäger, 2015/2020). Auch das könnte junge Leute interessieren. Außerdem zum Weiterlesen: Omer Bartov. „Blinde Flecken“, FAZ, 13.10.2021, S. N3; Gerhard  Mauz, „...nicht für alles allein verantwortlich“, Der Spiegel 28/5.7.1987, https://www.spiegel.de/politik/nicht-fuer-alles-allein-verantwortlich-a-a89f3cf6-0002-0001-0000-000013523180, Abruf am 24.10.2021. Vgl. auch allg. zum Prozess: https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/barbie-klaus/, Abruf am 27.10.2021; https://www.zeit.de/1987/28/schweigen-vor-dem-leid-der-opfer/seite-3, Abruf am 27.10.2021, https://www.spiegel.de/geschichte/a-1127832.html, Abruf am 31.10.2021, https://www.liberation.fr/france/2017/05/11/il-y-a-trente-ans-dans-libe-le-11-mai-1987-l-ouverture-du-proces-barbie_1568810/, Abruf am 31.10.2021.

Weitere interessante Beiträge

Extravaganzen auf hoher See

Mariette Navarro lässt in ihrem Roman „Ultramarins“ alle Männer über Bord gehen

Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
Zum Beitrag
Wo kauft man eigentlich Groschenromane?

Nach Annie Ernaux und Édouard Louis hat nun auch Didier Eribon mit "Vie, vieillesse et mort d'une femme du peuple" ein Buch über seine Mutter geschrieben und kreist doch immer wieder nur um sich selbst

Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
Zum Beitrag
Keinesfalls banal: Wenn das Gewohnte zum Problem wird

In "La vie ordinaire" (2020) geht Adèle van Reeth den Erfahrungen des Gewöhnlichen auf den Grund

Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
Zum Beitrag