Ein Buch pro Jahr veröffentlicht Amélie Nothomb, und so gibt es anlässlich jeder rentrée littéraire ziemlich zuverlässig einen frischen Roman aus ihrer Feder. Nothomb, die in Deutschland immer noch als Geheimtipp gilt, stammt aus einer großbürgerlichen belgischen Politikerfamilie und wuchs als Tochter eines Diplomaten auf, geboren wurde sie 1967 in Kobe, Japan. Ihre Kindheit verbrachte sie, wie so typisch für Diplomatenkinder, auf gleich mehreren Kontinenten. Nach Japan machte die Familie Station in China, New York, Burma und Laos. Erst mit siebzehn Jahren kam Amélie Nothomb erstmals nach Europa, wo sie Romanistik in Brüssel studierte. Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie in einem Großunternehmen in Japan, was als Grundlage für ihren Roman Stupeur et tremblements (1999, dt. Mit Staunen und Zittern, 2000) diente.
Ihr aktuell ins Deutsche übersetzte Buch Premier sang bzw. auf Deutsch Der belgische Konsul, für den sie im vergangenen Jahr mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde, wendet sich einem autobiografischen Thema zu: der Lebensgeschichte ihres Vaters, dem ‚belgischen Konsul‘, die sie von der Kindheit bis zu seiner Geiselname im kongolesischen Stanleyville im Zuge der Simba-Rebellion nachzeichnet. Doch anders als man vielleicht annehmen könnte, geht es in Premier Sang nicht um die Beziehung der Autorin zu ihrem Vater. Oder zumindest nicht vordergründig. Am Anfang steht, ganz im Gegenteil, eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung. Vater Patrick Nothomb wird nämlich als Sohn einer großbürgerlichen Mutter geboren, die ihn aber nicht selbst erziehen möchte, da sie zu sehr unter dem Tod ihres Mannes leidet. Stattdessen verbringt die Mutter des Halbwaisen, der zugleich als fabulierfreudiger Ich-Erzähler des Romans auftritt, ihre Zeit lieber auf gesellschaftlichen Anlässen, auf denen sie nach dem Tod ihres geliebten Mannes vergeblich umworben wird und ihre Trauer zur Schau stellen kann. Ein Trauma? Zumindest ist der Sohnemann, so scheint es, ein Sensibelchen, das schließlich von den Großeltern in Obhut genommen wird und dort zum ‚Mann‘ erzogen werden soll, um sich so früh wie möglich an die Härte des Lebens zu gewöhnen. Dass der kleine Patrick beispielsweise beim Anblick von Blut ohnmächtig wird, missfällt dem Großvater, einem echten Kerl, natürlich. Schließlich wird der sensible Junge, zunächst in Begleitung des Großvaters, zum Landsitz der Familie Nothomb in den Ardennen abgeschoben, wo ein weiterer Großvater namens Pierre und seine Frau mit ihren Kindern auf ihn warten. Beinahe wie im Märchen geht es hier zu. Großvater Pierre ist ein verkannter Dichter, der mit seiner Kunst kaum etwas verdient, weshalb die eigentlich vornehme Familie oftmals hungern muss. Daher stürzen sich die Kinder des Schlosses nach der Ankunft des Neuen auf dessen Koffer, in dem Essensvorräte für mehrere Tage stecken, und futtern diese auf. Nun muss der Neuankömmling Patrick ebenfalls mit dem vorliebnehmen, was er bei der Speisung durch den Familienkoch erhält, zum Beispiel eine klare Suppe mit ein paar Zwiebeln, die zunächst die Erwachsenen essen dürfen, ehe die Jugendlichen an die Reihe kommen und schließlich die Kinder, für die meist kaum noch etwas übrigbleibt. So müssen die Kinder, so muss Patrick an diesem etwas aus der Welt gefallenen, zauberhaften Ort lernen, durchzuhalten und sich wortwörtlich durchzubeißen. Da hat sie ihn, die harte Realität. Vielleicht nicht zufällig knüpft Nothomb hier an die Tradition der spanischen Schelmenromane an, in denen der vom Leben geplagte Picaro ebenfalls oft hungern muss, aber diese alltäglichen Unbilden doch immer auch mit einem letzten Rest Humor über sich ergehen lässt. Humor lässt auch Nothomb nicht vermissen. Anders nämlich als diese trübsinnigen Beschreibungen vermuten lassen, schrecken Patrick diese Erfahrungen nicht ab – im Gegenteil: Als er von dem Ferienaufenthalt auf Schloss Nothomb zurückkommt, wünscht er sich, in den nächsten Ferien wieder dorthin zurückkehren zu dürfen. Und das wird auch passieren, denn bereits in den Weihnachtsferien erlebt Patrick das Schloss Nothomb und dessen Bewohner erneut, dieses Mal inklusive Kälte, Schnee und Eislaufen. Danach geht es in dem Buch schnell voran, nachdem die Kindheit einen Großteil der Erzählung in Anspruch genommen hat: Patrick macht seinen Schulabschluss, studiert und wird schließlich Konsul in Belgien. Ihm, der ein ruhiger und nicht sehr zupackender Junge ist, bleibt nicht viel außer der Diplomatie. Auch die Aufenthalte auf dem Schloss haben nicht wesentlich dazu beigetragen, ihn härter werden zu lassen, wie sein Großvater es für ihn vorgesehen hatte. Doch schließlich erlebt Patrick noch seinen entscheidenden Moment. Als er belgischer Generalkonsul im Kongo ist – sein erster Auslandseinsatz –, wird er Zeuge der größten Geiselnahme des 20. Jahrhunderts. Die kongolesischen Rebellen nehmen in Stanleyville (heute Kisangani) 1.500 Geiseln, und Patrick wird der entscheidende Vermittler, dessen Aufgabe es ist, solange mit den Anführern der Geiselnehmer zu verhandeln, bis die Geiseln durch belgische Fallschirmspringer befreit werden.
Am 24. November 1964 treffen die Fallschirmspringer schließlich ein, die Geiseln werden aus dem Hotel getrieben und teilweise erschossen. Andere Geiseln fliehen – und neun von zehn, darunter auch Patrick Nothomb, überleben. Die Erlebnisse hat Patrick Nothomb in dem Buch Dans Stanleyville (Éditions Masoin, 2007) verarbeitet.
Man muss sagen, dass Amélie Nothomb für ihren jüngsten Roman völlig zurecht mit dem Prix Renaudot, dem nach dem Prix Goncourt renommiertesten Literaturpreis Frankreichs, ausgezeichnet worden ist. Eine unbedingte Leseempfehlung für alle, die besondere Familiengeschichten und Portraits mögen! Die Geschichte ist spannend, beinahe zu schnell erzählt. Man möchte am Ende, dass die turbulente Lebensreise von Patrick Nothomb noch weitergeht bzw. man hätte gern, dass sie mit mehr Liebe zum Detail erzählt worden wäre, damit man mit diesem Ich-Erzähler, mit dem man sich schnell anfreundet, noch mehr Zeit verbringen kann.
Amélie Nothomb: Premier sang, Paris: Albin Michel 2021, 180 S. Auf Deutsch unter dem Titel Der belgische Konsul von Brigitte Große übersetzt, erschien er 2022 im Diogenes Verlag.
"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)
Dass Anne Webers neuestes Buch 'Bannmeilen' ein Roman ist, kann bezweifelt werden. Dass es aber auf fesselnde Weise von soziologischen „Streifzügen“ erzählt, das lässt sich nach der Lektüre und auch schon nach wenigen Seiten sagen. Gerade ist sie dafür in Münster mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis ausgezeichnet worden.