Der Prix Goncourt ist bekanntlich der renommierteste Literaturpreis Frankreichs, wenn nicht eine der prestigereichsten Auszeichnungen Europas. Wer ihn gewinnt, darf mit hohen Verkaufszahlen rechnen sowie mit Übersetzungen in zahlreiche Sprachen. Der letzte Goncourt ging im November 2024 an Kamel Daoud, der mit Houris eine beklemmend-düstere Erzählung über den algerischen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren vorgelegt hatte. Er wird am 5. September in der deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz erscheinen. Im Jahr 2009 hat die Académie du Goncourt neben dem Hauptpreis noch den Prix Goncourt du premier roman eingeführt, also die Anerkennung für das beste Romandebüt, die jeweils im darauffolgenden Frühjahr verliehen wird. Auch den hatte 2015 bereits Daoud für seinen Erstling Meursault: contre-enquête gewonnen, aber auch andere Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die heute zu den französischen Erfolgsautoren gehören, stehen auf der Liste der Ausgezeichneten, so etwa Jean-Baptiste del Amo (2009) oder Laurent Binet (2010).
In diesem Jahr würdigte die Académie das autofiktionale Werk Photo sur demande von Simon Chevrier als bestes Romandebüt des Jahres. Der 1992 geborene Nachwuchsschriftsteller hat zunächst Anglistik studiert und danach in Le Havre den Master für Kreatives Schreiben absolviert – bei Photo sur demande handelt es sich um die erweiterte Fassung seines Abschlussprojekts. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der mit 180 Seiten nicht gerade dicke Roman vielleicht doch zu viele Themen in sich aufzunehmen versucht: Wir folgen dem namenlosen Ich-Erzähler im Jahr 2020 durch eine ebenso namenlose französische Großstadt, die sich jedoch anhand einiger geografischer Details leicht als Toulouse identifizieren lässt. Der junge Mann, der Sprachen studiert und ständig knapp bei Kasse ist, verbringt viel Zeit auf schwulen Dating-Apps, namentlich auf Grindr, wo er nach unverbindlichen Treffen, aber auch nach der großen Liebe sucht, und auf Giton, wo er ein Profil als Escortboy hat. Das Jahr 2020 steht natürlich in unserem kollektiven Trauma-Gedächtnis für den Ausbruch der Corona-Pandemie, erste Lockdowns, Masken und starke soziale Einschränkungen. Als im Frühjahr dieses Annus horribilis die ersten staatlichen Maßnahmen verhängt werden, landet der Vater des Ich-Erzählers im Krankenhaus, wo er nur kurze Zeit später seinem Krebsleiden erliegt. Parallel zu all diesen Ereignissen sucht der Protagonist im Internet nach Spuren, um die Identität des Fotomodells Daniel Schook zu lüften. Kurz vor Ausbruch der Pandemie hatte er im Zimmer seines Freundes Thibaut die Schwarzweiß-Fotografie Daniel Schook, Sucking Toe (1981) von Peter Hujar gesehen, die ihn auf Anhieb in ihren Bann gezogen hatte und die auch auf dem Cover des Romans zu sehen ist. Der Ich-Erzähler durchforstet auf geradezu detektivische Weise die sozialen Medien nach Wegbegleitern des Models, sodass der Roman eine zweite Zeitebene eröffnet und uns in die USA der beginnenden 1980er Jahre entführt, als mit dem HI-Virus ebenfalls eine Pandemie ihren Ausgang nimmt.
Photo sur demande ist also ein Roman über Einsamkeit, Trauer, kollektive und individuelle Ängste vor Ansteckung sowie über die Suche nach einer stabilen Identität in unruhigen Zeiten. Das klingt düster und überladen, ist aber weder das eine noch das andere. Es gelingt Chevrier durch seine nüchterne Sprache, die mitunter an Annie Ernaux erinnert, deren Passion simple er zitiert, existentielle Themen ganz ohne Larmoyanz oder Pathos zu sezieren. Selbst die zahlreichen Sexszenen wirken eher dokumentarisch als pornografisch und lassen immer wieder die emotionale Obdachlosigkeit des Ich-Erzählers durchscheinen. Ganz anders berührt die Trauerarbeit nach dem Tod des geliebten Vaters, von der im Mittelteil des Romans erzählt wird. Es mag merkwürdig erscheinen, aber im Schreiben über den Verlust des Vaters wirkt die Hauptfigur ganz bei sich und weitaus weniger getrieben und rastlos als im Rest der Erzählung. Das Übermaß an Themen mag ein Stück weit der Tatsache geschuldet sein, dass wir es mit einem literarischen Debüt zu tun haben, aber unterm Strich gelingt es Chevrier, seinen Roman nicht zu überfrachten. Die einzelnen Handlungsstränge werden mühelos zusammengehalten, selbst die Parallelisierung von COVID und AIDS wirkt keineswegs überkonstruiert. Man darf daher gespannt sein, wie die literarische Karriere von Simon Chevrier weitergehen wird. Kamel Daoud hat neun Jahre gebraucht, um nach dem Goncourt du premier roman den ‚richtigen‘ Goncourt zu gewinnen. Dementsprechend wäre Chevrier also 2034 wieder dran. Das Zeug dazu hat er jedenfalls – warten wir es ab.
Simon Chevrier: Photo sur demande, 2025, Paris: Stock, 192S.
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