Emma Becker ist eine Unruhestifterin, nun auch ganz offiziell. Denn ihr letztes Jahr veröffentlichter Roman Odile l’été ist im Julliard-Verlag als zweiter Band der Reihe Fauteuse de trouble erschienen – zu Deutsch: Unruhestifterin. Herausgegeben wird sie von der Schriftstellerin und Lektorin Vanessa Springora, die seit der Veröffentlichung ihrer Metoo-Anklageschrift Le Consentement (2020) nicht nur in Frankreich hinlänglich bekannt sein dürfte. Wiederholt haben Springora und Becker betont, dass Odile l’été eine Auftragsarbeit gewesen sei. Ein Roman auf Bestellung für eine Buchreihe, die in erster Linie Autorinnen eine Stimme geben will, die den Zusammenhang von Intimität und Emanzipation, Körper und Auflehnung, Erotik und Feminismus, Sex und Literatur ausbuchstabieren. So verheißt es jedenfalls die Ankündigung auf der Rückseite des Romans.
Keine Schriftstellerin in Frankreich scheint als Auftragnehmerin für ein solches Vorhaben geeigneter zu sein als Becker, gerade weil ihre Auffassung von Erotik und Feminismus nicht unumstritten ist, sondern hohe Wellen schlägt. Emma Becker, diese fauteuse de trouble! So hat insbesondere ihre 2019 vorgelegte Apologie bestimmter Formen von Sexarbeit im Lager radikaler Feministinnen für starken Widerspruch, für Unruhe, eben für trouble gesorgt. Die Autorin von La Maison (2019) sah sich wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihre Verteidigung von Prostitution antifeministisch sei, weil sie unter anderem den Zwang zur Sexarbeit, also die räuberischen Dimensionen des Menschenhandels einfach ausklammere.
Es lässt sich jedenfalls nicht bestreiten, dass Emma Beckers Romane um Lust, Sex und Frausein kreisen. Sie erkundet schreibend das Begehren als Weltzugang, spürt den Entwicklungen der weiblichen Sexualität in verschiedenen Abschnitten des Lebens nach und porträtiert deren Folgen insbesondere auf der Beziehungsebene. Dies mag zumindest ein roter Faden sein, der ihre Romane zusammenhält. Während sie in den ersten beiden Büchern Mr. (2011) und Alice (2015) (sexuelle) Beziehungen zwischen jungen Frauen und deutlich älteren Männern thematisiert, behandelt La Maison (2019) neben den bereits angesprochenen rechtlichen und soziopolitischen Aspekten der Prostitution die Frage, wie die Entscheidung, der Sexarbeit nachzugehen, die eigene private romantische Beziehung verändert. Im autofiktionalen Roman L’inconduite (2020) beschreibt Becker wiederum, was es für eine junge Mutter, die dem heteronormativen Familienmodell der bürgerlichen Gesellschaft den Rücken kehren möchte, bedeutet, die eigene Sexualität voll auskosten zu wollen.
Odile l’été setzt diese thematische Grundlinie zweifelsohne fort. Auch in ihrem neuesten Roman stehen die Ausleuchtung des eigenen Verlangens in einer konkreten Lebensphase und dessen Einfluss auf die Sex- und Beziehungsbiographie der Erzählerin im Vordergrund. Gerahmt wird die Darstellung des weiblichen Begehrens von dem Besuch der Ich-Erzählerin bei der titelgebenden Odile. Nachdem der Kontakt jahrelang abgerissen war, bringt ein erotischer Traum die Erzählerin dazu, ihre Freundin aus Kindheits-, Jugend- und Studientagen auf Facebook anzuschreiben. Ein zwangloses Gespräch entspinnt sich, dann erfolgt Odiles Einladung, die Erzählerin reist schließlich nach Südfrankreich und verbringt dort mit Odile und deren Tochter den Sommer. Die beiden Frauen plaudern über ihre Freundschaft, über die Jahre des Schweigens, über den dazwischen liegenden Sex mit einer Vielzahl verschiedener Männer, über Obsessionen und vieles mehr. Erzähllogisch auffällig ist, dass zwischen die Dialoge in der Gegenwart immer wieder Berichte über erotische Erfahrungen mal aus Odiles, mal aus der gemeinsamen Jugend geschaltet werden. Diese Retrospektiven sind kein Selbstzweck: Das Interesse der Autorin gilt vor allem einem ganz bestimmten Zeitpunkt, nämlich dem Erwachen der eigenen Sexualität und den damit verbundenen Spuren, die diese ersten erotischen Erfahrungen in der weiblichen Lebens- und Liebesbiographie hinterlassen haben. An dieser Stelle kommt wiederum Odile ins Spiel – buchstäblich. Mit ihr hat die Ich-Erzählerin in zunächst harmlosen Spielen das Erwachsenenleben nachgeahmt. Als Kinder imitierten sie ihre Eltern, die gelesenen Märchen sowie die Filme, die sie gewohnt sind, abends als Familie zu schauen. Sie spielen bei gegenseitigen Besuchen wiederholt verschiedene Variationen von ‚Freund‘ und ‚Freundin‘, ‚Prinz‘ und ‚Prinzessin‘. Dabei tauschen sie auch Küsse aus, ganz so wie es die Erwachsenen in ihrer Umgebung tun, ganz so wie es die Märchenerzählungen ihnen beigebracht haben. Bekanntlich ist es der Prinz, der die zukünftige Prinzessin wachküsst. Aus diesen spielerischen Berührungen werden zaghaft und tastend ausgeführte Annäherungen zwischen zwei Jugendlichen, wird dann neugieriges und schließlich absichtsvolles Liebkosen der Anderen. Der erste Teeanger-Sex ist für Emma, ist für Odile der Sex mit der besten Freundin und, wie verraten wird, der Erfahrungshorizont, an dem sich sämtliche späteren erotische Erfahrungen messen lassen müssen.
Allerdings wäre es verkürzt, in dem Roman bloß eine Phänomenologie des eigenen jugendlichen Begehrens zu sehen. Der Erzählerin selbst fällt nämlich retrospektiv auf, dass die Entdeckerspielchen zwischen den zwei Mädchen und dann jungen Frauen doch stets einem ungeschriebenen Muster gefolgt sind: Odile übernahm die Rolle des Mannes, die Erzählerin die des Mädchens. Oder eben umgekehrt. Strukturiert wird die tastende Auslebung jugendlicher Sexualität also von einem vorausgesetzten Script, das den Mädchen in den eigenen Familien, in den abendlichen Filmen und den Märchen begegnet ist. Es ist der Code der Intimität heterosexueller Liebe oder zumindest des heterosexuellen Verlangens. Just darin liegt für mich die zentrale Einsicht von Emma Becker, die den Roman lesenswert macht: Zumindest die jugendlichen homosexuellen Erfahrungen zwischen zwei Frauen werden von einem heterosexuellen Paradigma dominiert. A propos Dominanz: Ein Clou des Romans besteht darin, dass Becker mit einer weitverbreiteten Vorstellung im radikalfeministischen Lager aufräumt: Homosexuelle Beziehungen unter Frauen, Sex mit Frauen, all das sei per se Befreiung von Herrschaftsverhältnissen. Die Erfahrungen der Erzählerin widersprechen dieser Überzeugung. In den abendlichen Sommergesprächen mit Odile gesteht die Erzählerin, dass sie den gemeinsamen Sex stets als Machtgefälle gedacht hat:
„[C]’est plutôt une histoire de servante et de maîtresse. C’est dans ces termes-là que je pensais à nous“.
„Es handelt sich eher um eine Geschichte von Herrin und Dienerin. In diesen Begriffen habe ich an uns gedacht“.
Unabhängig von den philosophischen Anleihen bei Hegel und Sartre ist das nun wirklich eine Provokation an bestimmte Spielarten des Feminismus, vielleicht sogar eine Abrechnung mit einem Hardcore-Feminismus, der sich Luftschlösser von einer kastrierten und deshalb herrschaftsfreien Ordnung baut – fauteuse de trouble, diese Emma Becker! Und Humor hat sie übrigens auch. Mit einem Augenzwinkern zerlegt sie gängige Klischees. So malen sich die Erzählerin und Odile Pläne aus, wie sie den Arbeitertrupp auf der nahegelegenen Baustelle im Ort davon überzeugen können, eine Orgie mit Odile zu feiern. Als Odile zum vereinbarten Zeitpunkt erscheint, ist niemand da – alle scheinen sie Angst zu haben vor dieser mangeuse d’homme. Mal von der klassistischen Darstellung des männlichen Arbeiters abgesehen, ist das Ganze wirklich lustig, weil es den objektivierenden Blickwinkel, dem Frauen häufig ausgesetzt sind, einmal umdreht. Und was die Männer ansonsten betrifft: Sie spielen keine wirkliche Rolle. Bezeichnend dafür ist, dass Odiles Ehemann während der gesamten Sommerzeit, die die Erzählerin im Familienhaus verbringt, dienstlich verreist ist. Zum obsessiven Sommerplausch trifft die Erzählerin nur Odile und deren Tochter an.
Die bleibende Frage, die sich nach der Lektüre stellt, ist natürlich die nach dem Auswegaus dieser Sackgasse zwischen Sex und Herrschaft, zwischen Erotik und Feminismus. Darauf gibt Emma Becker in ihrem Roman allerdings keine explizite Antwort. Kann vielleicht das Schreiben dies leisten? Dass es zumindest eine herrschaftsfreie Form des Für-den-Anderen-Seins sein könnte, hatte ich schon einmal in meiner letzten Rezension angedeutet …
Emma Becker zeigt wieder einmal, dass sie die Klaviatur der erotischen Literatur beherrscht, auch stilistisch und kompositionell. Odile l’été ist zweifelsfrei ein Gewinn für Springoras Reihe, denn Emma Becker ist wirklich eine fauteuse de trouble!
Emma Becker: Odile l’été. Paris: Julliard 2023, 220 S.
Édouard Louis erzählt in 'L'effondrement' die Geschichte seines verstorbenen Bruders und macht endgültig Schluss mit den Bellegeules
"Le nom sur le mur" von Hervé Le Tellier (2024)