Frankreichaufenthalte sind vielversprechend. Nicht zuletzt, weil sie uns Literaturjunkies die Möglichkeit bieten, Stunden in Buchhandlungen zu verbringen, stets auf der Suche nach dem nächsten Roman, der gelesen werden will. Anlässlich unserer Exkursion nach Paris ließ ich mich als erstes von dem Klappentext von Amanda Sthers Le café suspendu (2022) überzeugen, der Anfang dieses Jahres bei Grasset erschienen ist. Er benennt die titelgebende neapolitanische Kaffeetradition, die darin besteht, einen Kaffee für denjenigen mitzubestellen, der bei Eintritt ins Café gerade nicht die Mittel hat, eine Tasse zu bezahlen. Der französische Ich-Erzähler Jacques, ein nach einem vor Jahrzehnten erlittenen Liebesfiasko in der Stadt gebliebener Mann, der über dem Café Nube wohnt, hat eine Reihe von Geschichten gesammelt, die sich um den ,café sospeso‘ spinnen. Dem Klappentext zufolge werden diese als ein Sammelsurium an phantasievollen, geheimnisvollen, vor Glauben strotzenden, legendären Erzählungen angekündigt, denen allen, so der Klappentext, „le sens du partage et de la générosité“ (Dt.: „Sinn des Teilens und der Großzügigkeit.“) gemein ist. Dieses Thema hat mich sofort angesprochen: Der ,café suspendu‘ als großherziges Geschenk, als Geste der Gastfreundschaft! Vor dem Hintergrund der Theorien zum Gabentausch (man denke an Mauss’ Essai sur le don und seine Adepten) stellte ich mir die Frage, wie wohl im Roman auf dieses Geschenk jeweils reagiert wird. Von Mauss aus gedacht: Folgt eine Verpflichtung zu einer Erwiderung des ,café sospeso‘? Ist diese großzügige Geste nichts anderes als der Auftakt oder die Fortsetzung eines Tauschs, um die Gemeinschaft aufrechtzuerhalten? Noch bevor ich den Roman gekauft hatte, spekulierte ich, dass der ,café suspendu‘ mit einer Geschichte ,bezahlt‘ wird. Zumindest würde mir dies gefallen, ich war fast sicher, dass es so sein würde. Wurde nicht schon immer am Esstisch erzählt? Lange schon hatte ich mich nicht mehr so auf ein Buch gefreut. Voller hoher Erwartungen begann ich abends im Hotel meine Lektüre. Diese, das sei vorausgeschickt, konnte das Buch leider nicht erfüllen, woraus jedoch nicht zu schließen ist, dass ich es nicht gemocht habe. Vielmehr muss ich gestehen, dass ich keinen wirklichen Zugang zu den einzelnen Episoden gefunden habe, die 1982 beginnen und schließlich 2022, also mitten in der Coronapandemie, enden. Dies liegt wohl daran, dass sie mir mal zu einfach konstruiert und realitätsfern, mal zu rätselhaft vorkommen – mitunter mag das für andere Leser der Reiz des Romans sein!
Generell werden die Geschichten durch ein zentrales Motiv bzw. Prinzip strukturiert: In nahezu allen Episoden geht es um die Suche nach Liebe, um die Bewahrung der Liebe oder die Befreiung von toxischer, krankmachender Liebe. Die Episoden speisen sich, wie sollte es dramaturgisch auch anders sein, aus den Begegnungen im Café Cube vor oder nach dem Konsum des ,café sospeso‘. Das gilt für den Mafiosi Ferdi, der nach der Ermordung seines ,Paten‘ von den Schergen des feindlichen Kartells verfolgt und um sein Leben fürchtend, in das Café flüchtet. Dort trifft er zufällig Lucie, die – aber natürlich – nach einem Leben als Ehefrau und Mutter trachtend, seine Frage nach einem übrig gebliebenen ,café sospeso‘ bejaht. Klar, dass sie nach dieser Gabe und Ferdis Geständnis, ein Verbrecher zu sein, ein Paar sind und von Jacques unterstützt in die gemeinsame Zukunft, fern von der Mafia, aufbrechen können. Bitte was? Als ,Jungfrau‘ im Kaffee auf die große Liebe warten und den Mafiosi ehelichen, all lifegoals achieved. Als Mörder ins Café hinein- und mit der Ehefrau an der Hand herausgehen, besser belohnt wird die das eigene verkorkste Leben wohl nicht. Dass das funktioniert, wird von Jacques damit unterstrichen, dass Alfred Jahrzehnte später mit seinem Enkel Neapel einen Besuch abstattet.
Befreiung ist auch so ein Stichwort: Chiara, der ihre Großmütter die große Liebe wünscht und der sie vor ihrem Tod ihren Schal schenkt, hat nach der Beerdigung jeglichen Lebensinhalt verloren. Gemäß der Küchenpsychologie, die im Roman propagiert wird, beschließt sie auf der Suche nach dem Glück, sich von dem Einfluss ihrer Großmutter freizumachen und den Schal loszuwerden, der jedoch wie Voldemorts Tagebuch in Harry Potter und die Kammer des Schreckens stets zu ihr zurückkommt. Aber wie gut, dass Jacques wieder einmal die Lösung bereithält! Dem Witwer Alfred, der unter Anhedonie (der Krankheit, keine (Glücks-)Gefühle mehr zu spüren) leidet, erklärt er, etwas Verbotenes tun zu müssen, um sich von dieser Krankheit zu befreien. Wenn er ihm rät, beispielsweise im Café einen Diebstahl zu begehen, um sich lebendig (oder schuldig, oder was auch immer) zu fühlen, mögen wohl selbst Psychologielaien wie ich nur den Kopf schütteln. Während Jacques Chiara zu seinem Tisch ruft und sich mit ihr unterhält, klaut Alfred den Schal. Beide haben es also geschafft, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und beginnen munter ein gemeinsames neues Leben. Applaus, Applaus und müdes Gähnen, diese Story lohnt sich eigentlich nicht zu erwähnen!
Zu den rätselhaften Geschichten, die sich mir wirklich überhaupt nicht erschlossen haben, gehört La peau du crocodile, die Auftakterzählung. Darin kauft die gehörnte Ehefrau Fernanda ihren Mann Benedetto von seiner Geliebten frei. Jacques, der die Liebesaffäre im Café Nube nicht nur mitverfolgen konnte, sondern auch von diesem ,Deal‘ zwischen den Frauen weiß, schenkt sie, testamentarisch verfügt, nach ihrem Tod die Tasche aus Krokodilleder, die sie als Präsent zu ihrem Hochzeitstagsjubiläum von Benedetto erhalten hat. Ergänzend dazu muss ich noch erwähnen, dass Fernanda mit Jacques den Krokodilkadaver in den Katakomben Neapels seinerzeit ausfindig gemacht hatte, gewissermaßen als Maßnahme der Selbstversicherung dafür, dass angesichts der Untreue Benedettos zumindest seine Erzählung über den Ursprung des Hochzeitstagsgeschenk echt sei. Klingt irgendwie merkwürdig? Ist es tatsächlich! Wie gesagt, ich habe keinen Zugang finden können.
Leichter fiel mir dieser zu der 1983 spielenden Episode, die das Leben des chinesischen Heilpraktikers Docteur Chen in Neapel beleuchtet. 1981 nach Italien eingewandert, baut er sich eine Praxis in der Fremde auf. Nach großen Startschwierigkeiten lässt sich Jacques schließlich behandeln, was dafür sorgt, dass auch die übrigen Cafébesucher Chen aufsuchen, der dann auch ein willkommener Gast im Café Nube wird. Leider leidet der Heilpraktiker jedoch unter Heimweh, dass sich in Rückenschmerzen und dem Symptom äußert, einen Pandabären zu sehen. Das mag zugegeben surreal klingen, kann ich dem Erzähler Jacques jedoch tatsächlich abkaufen! Diese Krankheitssymptome verschwinden erst, als Chen die neapolitanische Cafétradition adaptiert und auf seine an der Praxistür hängende Plakette ,Docteur suspendu‘ schreibt. Lange habe ich über dieses Schild und seine Bedeutung gegrübelt. Sollen die Patienten die Behandlung eines anderen Menschen mitbezahlen? Verschenkt Chen seine Behandlungen, wie man einen ,café sospenso‘ auf eigene Kosten verschenkt?
Was feststeht ist, dass es sich um meine Lieblingsgeschichte handelt, weil sich die Gäste im Café gegenseitig heilen, indem sie die Traditionen des jeweiligen anderen Landes aufgreifen und aus der interkulturellen Begegnung für ihr Leben lernen.
Was mir übrigens am Ende des Romans auch gefallen hat, ist der Appel von Jacques, diesen zu einem ,roman suspendu‘ zu machen, zwei Exemplare zu kaufen und eines denjenigen zu überlassen – im Zug, im Hotel, n’importe où –, die auf der Suche nach Lesestoff sind, aber just in dem Moment kein Buch zur Hand oder kein Geld zum Kauf haben. Haltet also Eure Augen nach einem weiteren Exemplar auf…
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Amanda Sthers: Le café suspendu, Paris: Grasset 2022, 234 S.
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