„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“

Die Erfolgsserie 'En Thérapie' geht in die zweite Runde

Veröffentlicht am
9.5.2022
Lea Sauer

Lea Sauer

RPTU in Landau
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Ende März ist die zweite Staffel der französischen Serie En Thérapie angelaufen und verzaubert wieder das Publikum. Ich bin, so muss ich vorausschicken, durch und durch verliebt – und zwar in den Therapeuten. Schon während der ersten Staffel konnte ich der zerstreuten Warmherzigkeit, der emotionale Tiefe und, ja, selbst den Verrücktheiten Doktor Philippe Dayans (Frédéric Pierrot) kaum widerstehen. Im Fachjargon würde man das wohl ‚therapeutische Übertragung‘ nennen – offenbar funktioniert sie auch via Bildschirm.

Und ich bin nicht die einzige, die Dayan verfallen ist. In Frankreich war En Thérapie vor gut einem Jahr ein absolutes Medienereignis. Mit über 50 Millionen Zuschauern in der Mediathek und über 1,8 Millionen Fernsehzuschauern pro Folge ist es die erfolgreichste Serie in der Geschichte des Senders ARTE. Zeitungen titelten damals gar, der Schauspieler Frédéric Pierrot sei „Le psy de la nation!“ („Der Therapeut der Nation!“). Dieses Urteil ist keinesfalls überzogen, drehte sich die erste Staffel doch ganz um das letzte große Trauma der Grande Nation, die Attentate vom 13. November 2015. Und so kam man beim Zuschauen natürlich nicht umhin, in den Geschichten der Notfallchirurgin Ariane (Mélanie Thierry) oder des Polizisten der Spezialeinheit BRI Adel Chibane (Reda Kateb), die beide in dieser Nacht im Einsatz waren, auch immer ein bisschen sich selbst zu sehen. Die Serie entwickelte dabei schnell einen Sog, und das unter Einsatz der geringstmöglichen Mittel. Nach dem Vorbild der israelischen Serie BeTipul und ganz im Gegensatz zum Cliffhanger-Trend üblicher Netflix-Serien setzten die kurzen 20-30-minütigen Folgen von En Thérapie eigentlich auf nichts anderes als: ein Zimmer, zwei Figuren und das Erzählen.

Die neuen Folgen stehen nun – natürlich – ganz im Zeichen der Corona-Pandemie und verarbeiten somit ein weiteres Kollektivtrauma. Vieles ist neu, Dayan ist mittlerweile geschieden und wohnt allein in einem Pariser Vorort, er hat sich ein neues Therapiezimmer eingerichtet, doch auch vier Jahre später wirft der 13. November seine Schatten. Chibane schloss sich in einer der letzten Folgen – Fans werden sich erinnern –einer Guerillatruppe in Syrien an – und starb. Seine Familie interpretiert dies als Selbstmordaktion, Dayan soll sich nun vor Gericht für unterlassene Hilfeleistung verantworten. Bei einem Termin mit seinem Anwalt stellt der ihm seine neue Partnerin Inès (Eye Haïdara) vor, die, wie sich schnell herausstellt, vor zwanzig Jahren einmal eine Patientin Dayans war. Bei der Verabschiedung raunt sie ihm zu: „Sie schulden mir noch ein Kind.“

Was für ein Auftakt! Denn natürlich wird Inès zu Dayans Patientin. Und natürlich verweben sich somit von Anfang an die Geschichten derjenigen auf der Couch mit der des Therapeuten zu einer sensiblen Doppelhelix. Dayan wird in dieser Staffel noch greifbarer, noch verletzlicher. Und das nicht nur, weil er vor Gericht steht oder sich in sein Gesicht vielleicht die ein oder andere Falte mehr eingegraben hat. Wie auch in der ersten Staffel spielt auch jetzt eine Supervisorin, dieses Mal von Charlotte Gainsbourg dargestellt, eine entscheidende Rolle. Jede Supervision zeigt uns eine neue Seite des Therapeuten, liefert uns Hintergründe zu dem, was er im tête-à-tête mit seinen Patienten sonst ausspart. Wie nebenbei werden so auch wieder die ganz großen Metafragen verhandelt, zuallererst natürlich diejenige, wie weit eigentlich die Hilfe eines Therapeuten gehen kann oder sollte. Und Dayan, so viel lässt sich sagen, überschreitet die Grenzen, wie auch schon durch seine Affäre mit seiner Patientin Ariane in Staffel 1, deutlich.

Aber man kann es so gut nachvollziehen, dass Dayan im Versuch zu helfen, manches Mal den therapeutischen Rahmen 'sprengt' – sie brauchen ja auch alle Hilfe. Wenn die junge Architekturstudentin Lydia (Suzanne Lindon) den Raum betritt und sich trotz ihrer Krebsdiagnose weigert, sich in Behandlung zu begeben, möchte man sie am liebsten schütteln. Robin (was für eine schauspielerische Glanzleistung von Aliocha Delmotte!), den Sohn von Damien (Pio Marmaï) und Léonora (Clémence Poésy), deren Zankereien in der ersten Staffel einen schier selbst in den Wahnsinn trieben, möchte man am liebsten direkt einmal umarmen, wenn er mit Lockenkopf und Hoodie angetrottet kommt und von seinen Corona-Ängsten erzählt. Selbst mit dem alten, weißen Manager-Mann Alain (Jacques Weber), der sich breitbeinig auf Dayans Couch fläzt und ihm erst einmal ein Business-Angebot macht, bekommt man schließlich Mitgefühl. Und ja, auch die Supervisorin Claire erhält, insbesondere in der Darstellung von Gainsbourg, eine sensible, ja fragile Seite. So funktioniert die Übertragung natürlich auch in diese Richtung.

Das liegt an der kammerspielartigen Anlage der Serie, die uns sofort ganz ins Innere der Figuren lässt, so nah kommt man Figuren sonst wahrscheinlich nur beim Lesen von Romanen. Die Psychologie ist ja schließlich das Setting, aus dem sich die Handlung entspinnt, die auch streng genommen weniger Handlung ist, als dass es Erzählungen von Handlungen sind. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“, zitiert Dayan an einer Stelle Joan Didion und das könnte man als das große Motto der Serie sehen. Vielleicht sind es denn auch weniger Gespräche, denen wir hier lauschen als ‚innere Dialoge‘, wenn man so will, also Aushandlungsprozesse eines Ichs an und mit sich selbst, ein intimes Gespräch, an dessen Anfang und Ende die Frage steht: Warum bin ich derjenige, der ich bin? Dass die Figuren dabei niemals zu Platzhaltern bestimmter Rollentypen werden, liegt nicht nur an den fein ausgearbeiteten Dialogen, sondern auch am hochkarätigen Cast, das unter der Regie von Emmanuelle Bercot, ihres Zeichens selbst Schauspielerin, durchweg Höchstleistungen bringt. Besonders in den Momenten der Stille, die all das erzählen, was hinter der Fassade schwelt. Zum Beispiel wenn die Kamera, ganz kurz nur, Dayans zuckenden Mundwinkel einfängt oder Alains Daumen, mit dem er sich vielleicht einmal zu oft über den Handrücken fährt. Voyeuristisch wird es dabei nie, eine solch zarte Kameraführung kennt man sonst eigentlich nur von den großen US-Dramaserien wie Six Feet Under, Mad Men oder natürlich dem Klassiker Sopranos, mit dem in den 1990ern die große Erzählung ja überhaupt erst als Serienstoff entdeckt wurde. Und das durchaus mit romanhaften Mitteln, der Entdeckung der Langsamkeit, dem Inexpliziten und Angedeuteten. Im Unterschied allerdings zu diesen Serien entspinnt sich bei En Thérapie das Gesellschaftspanorama über das Kleine, den Einzelnen.

So wie Dayan nach und nach mit jeder Folge die Schichten seiner Patienten freilegt, wird auch ein neues thematisches Kapitel unserer heutigen Zeit aufgeschlagen. Neben Corona geht es um Shitstorms, Mobbing und Essstörungen, gestreift werden auch Verschwörungserzählungen oder Genderrollen. Weil natürlich steckt hinter Inès’ dahingeworfenen Kinder-Kommentar auch die ganze gesellschaftliche Last einer erfolgreichen Business Woman. Und Alain ist eigentlich nur der mackerhafte Mann, weil er damit das eigene Trauma überdeckt, niemals der Sohn, Bruder, Vater, ja Mann gewesen zu sein, der er eigentlich den Erwartungen nach hätte sein sollen. Es ist eine deutliche Stärke der Serie, dass sie mit den Figuren, ebenso wenig wie es ein guter Therapeut tun sollte, niemals ins Gericht geht. Sie dürfen einfach sein. Selbst Dayans ‚Fall‘ bekommt so eine komplexe moralische Tiefe, die durchaus erfrischend ist. Manches Mal ertappt man sich gar dabei, Handlungen mit Verständnis zu begegnen, die man sonst wohl eher verurteilen würde. Und ist dadurch zur Abwechslung einmal selbst dazu aufgefordert, über Urteile im Allgemeinen nachzudenken, statt sich sofort ein eines zu bilden: Ist es tatsächlich angemessen in jedem Fehltritt ein moralisches statt ein menschliches Scheitern zu identifizieren?

Gut, vielleicht sitze ich hier abermals der verführerischen Übertragung auf. Denn ich muss, so merke ich gerade, mein Eingangsstatement etwas korrigieren. Wenn ich ehrlich bin, bin ich vielleicht in sie alle ein bisschen verliebt – in ihre menschlichen Tiefen (denn nein, Abgründe sind es nicht), ihre Konflikte, ihr Scheitern, ihre Menschlichkeit. Zugegeben, da mag schon auch ein gewisser Voyeurismus im Spiel sein, aber wenn, dann nicht mehr und nicht weniger als der eines Lesers, der einen guten Roman nicht mehr aus der Hand legen kann, weil er sich auf jeder Seite selbst erkennt.  

Die zweite Staffel En Thérapie ist aktuell in der ARTE Mediathek verfügbar.

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