Ich bereise gern das Sarr-Land. Geographisch kundige Leser mögen sich verdutzt die Augen reiben, aber nein, es handelt sich nicht um einen Rechtschreibfehler. Sarr- statt Saarland. Es geht nicht um die an die Pfalz angrenzende Nachbarregion, aus der viele unserer Studierenden kommen, sondern um den Imaginationsraum des senegalesischen Ökonomie- bzw. Romanistik-Professors, Musikers, Dichters, Essayisten und nun auch Romanciers Felwine Sarr.
Les lieux qu’habitent mes rêves ist nach Afrotopia (2016), 105 Rue Carnot (2011) und Habiter le monde (2018) meine vierte Station im Sarr-Land, das nach wie vor nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat. Im Gegenteil lohnt sich dort jeder Stopp, weil jedes seiner Bücher – zumindest gilt dies für die Werke, die ich gelesen habe – seinem grundlegenden Ansinnen, der Beziehung zwischen Globalem Norden und Süden nachzugehen, neue Nuancen hinzufügt.
Übrigens ist Felwine Sarr feuilletonaffinen Lesern unter Umständen aufgrund seiner öffentlichkeitswirksamen Forschung bekannt: Von Emmanuel Macron beauftragt, hat er gemeinsam mit Bénédicte Savoy die Studie Restituer le patrimoine africain (2018) veröffentlicht. Darin entwickeln die beiden die Rückgabemöglichkeiten der im französischen Besitz befindlichen afrikanischen Kulturgüter. Zuvor machte Sarr mit seinem Essay Afrotopia (2016) von sich reden. in diesem leidenschaftlichen Plädoyer versucht er eine autonome Utopie für Afrika zu gestalten, die Schluss macht mit den eurozentrischen Afrikadiagnosen und -prognosen, die wie ein Fähnchen im Wind zwischen Afropessimismus und -optimismus schwanken. Weniger bekannt von Sarr sind hingegen seine literarischen Werke und das, obwohl in ihnen bereits seine ökonomisch-philosophischen Thesen vorformuliert, wenn nicht gar antizipiert werden. Sein Debütroman Les lieux qu’habitent mes rêves (2022, L’Arpenteur) stellt hinsichtlich seines Bekanntheitsgrades insofern eine Ausnahme dar, als er das einzige von ihm ins Deutsche übersetzte literarische Werk ist. Unter dem Titel Die Orte, die meine Träume bewohnen ist er jüngst im Fischer-Verlag (Juni 2023) erschienen.
In Les Lieux qu’habitent mes rêves erzählt der senegalesische Intellektuelle die Geschichte zweier ungleicher Zwillingsbrüder aus dem Senegal. Fodé und Bouhel, die Söhne von Na Adama, haben nämlich unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Nach dem Abitur hat Bouhel Afrika wegen seines Studiums in Orléans verlassen und sich dort in die polnische Austauschstudentin Ulga verliebt. In Frankreich träumt er von einem gemeinsamen Leben mit ihr. Allerdings wird diese Zukunft von einem Schatten bedroht, den sein Bruder Fodé bereits am Horizont seiner Gedanken aufziehen sieht. Eine Katastrophe, über die hier nichts weiter verraten werden soll, stellt eine schwere Zäsur für Bouhels Glück dar. Fodé wiederum, von Beruf Schreiner, wird nach dem Tod des spirituellen Führers seines Clans zu dessen Nachfolger.
Was ist also das Originelle in Les lieux qu’habitent mes rêves? Dazu muss zunächst daran erinnert werden, dass Sarr seinen in Afrotopia bereits entwickelten Gedanken aufgreift, dass die Vorstellungskraft ein zentraler Schlüssel zur Wirklichkeit (und damit zur Aneignung der Zukunft) sei. Diesem Vermögen begegnen wir Menschen wenig überraschend, wenn wir schlafen – die Surrealisten lassen grüßen. Im clever konstruierten Auftaktkapitel ,L’arc‘ wird die Verbindung zwischen Imagination und Schlaftraum mithilfe des ersten und des letzten Satzes hergestellt. Der letzte Satz „Il paraît que le sommeil est un voyage“ (S. 13) geht dem Kapiteleinstieg „Les lieux qu’habitent mes rêves surgissent parfois du fond des eaux, je ne les reconnais pas toujours“ (S. 9) gewissermaßen voraus. Allerdings ist nicht das Schlafträumen die einzige Form der Vorstellungskraft. Eine Reise in die unbekannten Weiten des menschlichen Bewusstseins lässt sich immer antreten, sobald die Augen geschlossen werden und wir dem, was hinter den Wimpern liegt, Raum geben. Ausdruck dessen ist, wie Sarr schon in Afrotopia klar gemacht hat, die Literatur. Insbesondere die Poesie wird für den älteren Bouhel der Zugang zum Sinn allen Seins, der Schlüssel, um dessen Rätselcharakter zu dechiffrieren. Gleichzeitig ist er sich bewusst, dass die Wirklichkeit aus mehreren Fäden gewebt ist.
Das Originelle von Les lieux qu’habitent mes rêves besteht zunächst darin, dass Sarr diese verschiedenen kulturellen Fäden, also Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik mithilfe verschiedener Erzählstimmen aufeinandertreffen lässt. Dies vollzieht sich ohne Auf- oder Abwertung. Im Erzählband 105 Rue Carnot hatte Sarr noch ironisch über das Zusammentreffen der französischen Entwicklungshelferin Annie (Modell Wissenschaften/Technik) und dem afrikanischen Künstler Joé Ouakam im Senegal berichtet. Davon ist in seinem ersten Roman nichts mehr zu spüren: Bouhel studiert Semiotik sowie vergleichende Literaturwissenschaft. Außerdem ist er Künstler, der Romane schreibt. Fodé ist der Mann des Mythos, der Mystik und der afrikanischen Religion. Ulga repräsentiert als Studentin der Ingenieurswissenschaften die Technik. Tim ist Mönch und versinnbildlicht die okzidentale Religion, ihren Mythos und ihre Mystik. Die interkulturellen Begegnungen zwischen Bouhel und Ulga, zwischen ihm und Tim sowie zwischen Fodé und Ulga illustrieren nun, dass die okzidentale Wissenschaft und ihre Technik nicht fortschrittlicher sind als die afrikanische Religion. Die zukünftige Ingenieurin Ulga folgt ohne Zögern Fodés Ratschlag und pflanzt die Frucht des Adansonia-Baumes gegenüber von Bouhels Aufenthaltsort, damit die Stärke des Baumes auf seinen Bruder und ihren Freund übergehen kann, der vor großen Herausforderungen steht. Tim und Bouhel gehen in ihren Gesprächen den Geheimnissen des Seins auf den Grund. Von Tim lernt Bouhel einen undogmatischen, mystisch fundierten christlichen Glauben, der für seine spirituellen Wurzeln anschlussfähiger erscheint als gedacht.
Die zweite originelle Nuance in Sarrs Roman lässt sich gewissermaßen aus dem ersten Aspekt ableiten. Ausgehend von der Vorstellungskraft, aus der Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik letztlich hervorzugehen scheinen, stellt sich die Frage, was den Menschen, unabhängig von Herkunft und Weltanschauung als Menschen auszeichnet. Überraschenderweise ist dieses Proprium für Sarr gerade nicht die Imagination. Die Antwort liefert das Stimmen-Mosaik, das sich aus den einzelnen Protagonisten zusammensetzt. Bouhel, seine Freundin Ulga, ihr Bruder Vlad, Fodé sowie der ältere Bouhel, der sich als Erzähler der anderen Perspektiven zu erkennen gibt, berichten jeweils von ihren Leben zwischen Orléans, Warschau und dem Senegal. Ihre verschiedenen Stimmen entwerfen ein allgemeines Ethos der Geschwisterlichkeit. Dies wird verdichtet in dem biblischen Bild, Hüter seines eigenen Bruders zu sein. Kain hat der ethischen Aufgabe, Hüter seines Bruders Abel zu sein, im Moment des Brudermordes zuwider gehandelt. Diese Verantwortlichkeit lässt sich in der Tat unabhängig von dem ideologischen Überbau der eigenen Weltanschauung realisieren. Das ist das wahrhaft Menschliche, das Proprium des Menschen.
Das, was mich an Les lieux qu’habitent mes rêves überzeugt hat, ist neben dem poetischem Titel die kontinuierliche thematische Linie, die wie ein Schienennetz die einzelnen Standorte, das heißt die Bücher im Sarr-Land verbindet. Erneut geht es ihm um die Beziehung zwischen Afrika und dem Rest der Welt. Les lieux qu’habitent mes rêves zeichnet aus, dass Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik gleichberechtigt nebeneinander existieren und Extrema wie Euro- oder Afrozentrismus vermieden werden können. Das verbindende Element zwischen den verschiedenen Kulturen ist die menschliche Verantwortung. Der Mensch ist dazu berufen, der Hüter seines Bruders zu sein. Das ist das, was uns die Bibel, was uns die afrikanische Lebensphilosophie Ubuntu, was uns Hans Küngs Projekt Weltethos, was uns literarisch vor allem Dostojewskij und nun auch Sarr hinterlassen haben. Deshalb ist Les lieux qu’habitent mes rêves inzwischen zu meinem Lieblingsort im Sarr-Land geworden. Ich bin gespannt, wo die Reise als nächstes hinführen wird.
Felwine Sarr: Les lieux qu'habitent mes rêves, Paris: Gallimard 2022, 173 Seiten. In der deutschen Übersetzung von Doris Heinemann unter dem Titel Die Orte, an denen meine Träume wohnen im Fischer Verlag 2023.
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