Ansichten eines Knechts

Marie-Hélène Lafons Bauernroman "Joseph" (2014) liegt nun in deutscher Übersetzung vor

Veröffentlicht am
6.9.2023
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Der Zufall will es, dass im Jahr 2014 gleich zwei Romane auf den Markt kommen, die eine sehr ähnliche Geschichte erzählen: Sowohl in Robert Seethalers Durchbruchs-Roman Ein ganzes Leben als auch in Marie-Hélène Lafons Joseph geht es jeweils um die Lebensgeschichte eines einfachen Landarbeiters. Seethalers Andreas Egger wächst auf als Waisenjunge und Knecht auf einem Bauernhof in einem österreichischen Alpendorf, leidet während seiner Kindheit unter einem sadistischen Landwirt und verdingt sich später als Wanderarbeiter für eine Firma, die Seilbahnen baut. Seine einzige Liebe Marie fällt nur kurze Zeit nach der Eheschließung einer Schneelawine zum Opfer. Im Zweiten Weltkrieg wird er an die Ostfront entsandt und kehrt erst 1951 wieder in sein Heimatdorf zurück, wo er sich nur schwer wieder in sein altes Leben einfinden kann. Kurz vor seinem Lebensende gilt er dort als der wunderliche Alte, bis er später völlig vereinsamt stirbt. Der Roman wurde ein enormer kommerzieller Erfolg und schnell in andere Sprachen übersetzt, u.a. auch ein Jahr später ins Französische.

In Marie-Hélène Lafons Joseph, der von Andrea Spingler nun – sieben Jahre später – ins Deutsche übertragen wurde, geht es ebenfalls um einen Landarbeiter, der kurz vor der Rente steht und mit sich und seinem bescheidenen Leben vollends im Reinen zu sein scheint. Schauplatz ist, wie in fast allen Romanen und Erzählungen der Autorin, die windumtoste Region des Cantal in der Auvergne – bekannt für seinen exzellenten Käse. Auch Lafon selbst ist auf einem solchen Bauernhof mit einem Bruder und einer Schwester aufgewachsen, in einer Region, die sie aufgrund ihrer Abgeschiedenheit stets als „Insel“ wahrgenommen hat. Diese Insel wird Joseph Rodde sein Leben lang nicht verlassen. Er arbeitet dort zeit seines Lebens als Angestellter auf mehreren Bauernhöfen, fühlt sich den Tieren näher als den Menschen und redet nur, wenn es unbedingt nötig ist – so wie alle Menschen der Region. Bezeichnenderweise gibt es in Joseph nicht einen einzigen Dialog in direkter Rede. Auch Joseph findet erst spät, mit Anfang dreißig in der Altenpflegerin Sylvie die Liebe, die ihn jedoch alsbald in den Suff stürzt und ihn schnell wieder verlässt. Der Alkoholmissbrauch bleibt und zehrt ihn zunehmend aus, bis er nach mehreren Entziehungskuren mühsam wieder trocken wird. Seither arbeitet er auf demselben Bauernhof für ein Paar, das um seine Probleme weiß; die Eheleute bezeichnet er nur als le patron oder la patronne.

Trotz der ähnlichen Lebensgeschichten von Joseph Rodde und Andreas Egger weisen doch die jeweiligen Erzählweisen deutliche Unterschiede auf. Wo Seethaler mithilfe von brutalen Schilderungen die rohen Sitten der Landbevölkerung mitunter etwas überbetont, um in seinen Lesern Mitleid mit der vom Schicksal gebeutelten Hauptfigur hervorzurufen, setzt Lafon auf das Schroffe, Karge, was man im Französischen mit „âpreté“ bezeichnet. Sie setzt damit gleichsam dem rauen Klima der auvergnatischen Hochebene ein literarisches Denkmal. Die fünf Kapitel des Romans sind wie aus einem Guss, Abschnitte sucht man vergeblich. Wir befinden uns nahezu durchgängig im Gedankenstrom von Joseph, der vielleicht über ein eher schlichtes Gemüt verfügt, aber dafür ein begnadeter Beobachter ist. Durch seine Augen lernen wir eine Welt kennen, die im Untergang begriffen ist.

„Joseph versteht das; er sieht, dass die anderen, die sein ganzes Leben lang mit ihm auf den Höfen arbeiteten, den Beruf gewechselt haben oder immer älter geworden und gestorben sind, an Suff, Krankheit oder Alter, an dem einen oder dem anderen oder allem auf einmal, er ist der Einzige, der weitermacht, oder fast der Einzige, vier oder fünf pro Kanton, mehr nicht.“


„Joseph comprend; il voit que les autres qui travaillaient dans les fermes avec lui pendant toute sa vie ont changé de métier ou étaient toujours plus vieux et sont morts, de boisson, de maladie, ou de vieillesse, de l’une ou de l’autre ou des trois à la fois, il est seul à continuer, ou presque seul, quatre ou cinq par canton, pas plus.“


Josephs Bruder Michel hat – wie die meisten ihrer Generation – das Weite gesucht und mit seiner Frau Caroline in der fernen Normandie ein Café eröffnet. Seine Mutter ist den beiden gefolgt, um sich um die Enkelkinder zu kümmern. Nur Joseph ist geblieben, von dem es lapidar heißt: „Joseph hat kein Heim gegründet, Leute wie er gründen keim Heim.“ Auch wenn Joseph allen Grund zur Klage hätte, so bleibt er stets zufrieden mit dem, was er hat. Er genießt die wortlosen Feierabende mit den Bauern, sein ordentliches Zimmer ohne persönlichen Besitz und das Aufwachsen der Kälber. Um einen Platz in einem Altenheim in der Nähe hat er sich schon gekümmert. Die Angst vor einem Rückfall in den Alkoholismus lässt ihn nur noch bescheidener und ja, demütiger seinen Alltag fristen. Denn in diese düstere Zeit will Joseph auf gar keinen Fall zurückkehren:

„Joseph hatte ein Loch in seinem Leben gehabt, in der Mitte, zwischen zweiunddreißig und siebenundvierzig; er dachte daran wie an einen Graben voll kaltem Schlamm mit rutschigen Rändern, in den er fiel, wenn er aus der Kneipe kam, und nichts, um sich abzustützen, nichts, um sich festzuhalten.“


„Joseph avait eu un trou dans sa vie, au milieu, entre trente-deux et quarante-sept ans; il y pensait comme à un fossé plein de boue froide avec des bords glissants où il serait tombé en sortant du café, et rien pour s’appuyer, rien à quoi se tenir.“


Wie bei Seethaler handelt es sich bei Lafon um eine Lebensgeschichte ohne große Höhe- und Wendepunkte. Hier wird ein Leben besichtigt, das weder glamourös noch spannend verläuft. Lafon kennt dieses einfache Milieu mitsamt all seinen kleinen Details sehr gut – das hat sie schon in ihren früheren Texten unter Beweis gestellt. Joseph ist im wahrsten Sinne des Wortes ein stiller Held in dieser vom Wandel bedrohten Welt, die Lafon mit einer kraftvollen Sprache vor dem Untergang bewahrt. Dass es sich bei Joseph auch um eine Hommage an Flauberts Erzählung Un cœur simple („Ein schlichtes Herz“) handelt, in welcher der Autor von Madame Bovary die Lebensgeschichte des Dienstmädchens Félicité schildert, macht Lafon anhand kleiner, über den ganzen Text verstreuter Reminiszenzen deutlich. Zunächst zieht der Bruder Josephs in die Normandie nach Croisset, dem Wohnort Flauberts, dann arbeitet seine Mutter eine Zeit lang für eine verwöhnte Witwe namens Madame Aubain, die einen „blaugrünen Papagei“ in ihrer Wohnung als Haustier hat und schließlich trägt Josephs Großmutter denselben Vornamen wie Flauberts Dienstmädchen: Félicité, die Glückseligkeit. Dieser Name würde auch gut zu ihrem Enkel passen, denn es ist genau dieses Gefühl, mit dem Joseph am Ende auf sein langes, arbeitsreiches Leben zurückblickt. Und ja, es ist letztendlich auch das Gefühl, das Marie-Hélène Lafon mit diesem schmalen Brevier der Bescheidenheit in ihren Lesern zu erwecken vermag.

Marie-Hélène Lafon: Joseph, Paris: Buchet/Chastel, 144 S. In der deutschen Übersetzung von Andrea Spingler unter dem Titel Joseph erschienen im Atlantis Verlag, 128 S.

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