Extravaganzen auf hoher See

Mariette Navarro lässt in ihrem Roman „Ultramarins“ alle Männer über Bord gehen

Veröffentlicht am
26.3.2024
Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
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Mit einiger Verspätung ist aufmerksam zu machen auf Mariette Navarros Buch Ultramarins, einen tollkühnen Kurzroman oder vielleicht eine Novelle, jedenfalls eine Geschichte, die nicht im Kielwasser des Mainstreams treibt und stattdessen ihre Energie, Intelligenz und Eleganz aus einer unerhörten Begebenheit heraus entwickelt: Wenn Herkunft und Geschlecht hier eine Rolle spielen, dann allenfalls in diskreten Andeutungen. Auf hoher See, irgendwo im Atlantik zwischen den Azoren und den Antillen, gibt die namenlose Kapitänin eines Containerschiffs dem Wunsch ihrer 20-köpfigen Besatzung – allesamt Männer – statt: eine Stunde im offenen Ozean zu schwimmen. Sie hört sich erst mit einer Kleinmädchenstimme und dann mit ihrer Kommandantinnenstimme „Einverstanden“ sagen. Erstauntes Schweigen, daraufhin ein Lachen aus der Mitte der Mannschaft, die sie stets gewissenhaft auswählt, für jede Einschiffung neu, immer verbunden mit einem Restrisiko. Die Motoren werden angehalten, das Radar ausgeschaltet, die Männer lassen sich mit Tauen in die Rettungsboote hinabgleiten und springen nackt in die Wellenberge. Stark sind sie, nichts kann ihnen etwas anhaben. Sie tummeln sich im Wasser, trotzen Kälte und Wind, Schwindel und Verlorenheit, hören ihr Herz in den Schläfen pochen, entdecken die Musik des eigenen Blutes und nehmen eine andere Form von Stille wahr. Wenn sie im Wasser umkommen, hinterlassen sie keine Spur. Dazu kommt es nicht. Als sie jedoch nach etwa einer halben Stunde wieder an Bord gehen, ist nichts mehr so, wie es war: „Dans le geste connu, le geste de travail, dans le geste refait chaque jour, un espace s’est glissé, un tout petit espace blanc inexistant jusqu’alors, une seconde suspendue. Et dans la seconde suspendue, la seconde imprécise, toute la suite de la vie s’est engouffrée, a pris ses aises, a déroulé ses conséquences.“ („In die vertraute Geste, die Geste der Arbeit, die Tag für Tag wiederholte Geste, hat sich eine Verzögerung eingeschlichen. Eine winzige Verzögerung, die es vorher nicht gab, eine Sekunde in der Schwebe. Und in dieser schwebenden, dieser verschwommenen Sekunde hat sich sofort das restliche Leben  ausgebreitet, hat es sich bequem gemacht und seine Folgen nach sich gezogen“). Plötzlich ist ein Mann zu viel an Bord, blond, bleich, stumm, die Schiffspumpe arbeitet nicht mehr, und als wären die seltsame Erscheinung und die hydraulische Störung nicht schon beunruhigend genug, baut sich obendrein eine gänzlich unerwartbare, gewaltige Nebelwand auf. Das Schiff kommt nicht mehr voran und driftet vom Kurs ab. Die Kapitänin, erregt auf ihrer Brücke stehend, hört das Herz des Schiffes schlagen und spürt die Stimme ihres Vaters, der einst selbst zur See fuhr und nach der letzten Überfahrt verstummte. „Es gibt drei Arten von Menschen: die Lebenden, die Toten und die Seefahrer”. Mit diesem Motto schlägt Mariette Navarro (1980 in Lyon geboren) den Ton an. Kann man sagen, dass sie mit Foucaults Kategorie des „anderen Ortes“ – hier Meer und Schiff – experimentiert? Vielleicht. Und auch wenn sie diesen Begriff nicht benötigt, treibt sie ihn doch bis zum Äußersten, Verrückten, Existenziellen.

Das erstaunliche Geschehen verlangt nach einem besonderen Erzählton. Heinrich von Kleists Novellen vollendeten die Kunst, aus einer unerhörten Begebenheit eine packende Geschichte zu entwickeln, Navarro zeigt, dass auch sie diese Kunst beherrscht. Ihr ungeschnörkelter, unbeirrbarer Stil entfaltet einen Sog und passt sich dem Ozean an, der unbeeindruckt vom Menschen seine Wellenberge auftürmt und in die Tiefen lockt. Ultramarins ist Navarros Debütroman. Soweit es überhaupt ein Roman ist, wie der Verlag uns, gewiss auch aus marktstrategischen Gründen, nahelegt. Zuvor hatte die Autorin dramatische Gedichte, kürzere poetische Prosatexte, Theaterstücke und Hörspiele geschrieben und in kleinen Pariser Verlagen herausgegeben. Nous les vagues (2011) erschien 2020 in Deutschland (Wir Wellen, übersetzt von Leopold von Verschur, Berlin, Matthes & Seitz, 2020). 2012 wurde Navarro für Alors Carcasse (2011) mit dem Robert-Walser-Preis, 2022 für Ultramarins mit dem Leonora-Miano-Preis der Grenzen ausgezeichnet. Die Arbeit an kleineren Gattungen schlägt sich in Ultramarins nieder, denn Navarro führt Bewegungen durch, die sich aus einem zündenden, rebellischen Moment entwickeln. Alles, was aus diesem folgt, ist dicht, stark, suggestiv. Was also ist Widerstand, was ist kollektive Energie? Die Mannschaft unbotmäßig, die Kapitänin mit dem Metall verschmolzen, extravagant und einsam; Meer und Himmel unberechenbar, die Stimmung zunehmend fantastisch. Gleichzeitig prägt die moderne Welt die Natur, ist der Blick auf globale Handelswege und Hyperkapitalismus kritisch: In den Tiefen der Ozeane vereinigen sich Plastik und Fische. Das Containerschiff und der Mensch auf hoher See: Wie im Film All Is Lost (J.C. Chandor, 2013) mit Robert Redford als einzigem Darsteller geht es um alles und nichts. Damals endete es im Nichts. In Ultramarins sind wir hingegen Zuschauer eines drohenden Schiffbruchs, der sich noch nicht ereignet hat. Und angesichts der Kühnheit des Ganzen hat man unversehens die Kapitänin Carola Rackete vor Augen.

Mariette Navarro, Ultramarins, Paris: Quidam éditeur, 2021, 156 S. (Über die See, übersetzt von Sophie Beese, München: Verlag Antje Kunstmann, 2022, 157 S.)

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