Mein Weg zu Bourdieu verlief über einen enormen historischen Umweg. Während der Arbeit an meiner Habilitationsschrift zu Männlichkeiten in spanischen Schelmenromanen des 16. und 17. Jahrhunderts, kristallisierte sich immer mehr heraus, dass das Thema der Ehre (honor, honra) so etwas wie den roten Faden meiner Analysen darstellen würde. Dieser leicht angestaubte Begriff, der einem heutzutage nur noch in solch disparaten Komposita wie Ehrenamt, Ehrensache oder Ehrenmord begegnet, zählte in der Frühen Neuzeit, zumal im mediterranen Kulturraum, zu den gängigsten Werten, mit denen gehandelt, über die verhandelt und nach denen gehandelt wurde. Um an sein Ziel des sozialen Aufstiegs zu gelangen, musste der Picaro zuallererst Ehre akkumulieren, was in der vormodernen Ständegesellschaft für die unteren Schichten im Grunde nur durch Betrügereien und List möglich war. Er musste also die Ehrenmänner nachahmen, musste Theater spielen, um selbst als Ehrenmann zu erscheinen. Dass dabei – nur Bares ist Wahres! – auch das nötige Kleingeld vonnöten sei, ist nur eine der zahlreichen Lektionen, die der mittellose Schelm auf seinem abenteuerlichen Lebensweg zu lernen hat. Im Prototyp der spanischen Pikareske, dem anonymen Lazarillo de Tormes (1554), lernt der Titelheld eines Tages einen völlig verarmten Ritter kennen, der zwar aufgrund seiner gesellschaftlichen Position über das nötige Maß an Ehre verfügt, aber aufgrund von mangelnden finanziellen Ressourcen sein Leben in Hunger und Armut verbringen muss. Würde er arbeiten, verlöre er seinen Status als Ritter – ein Teufelskreis. Lazarillo lernt, dass es nicht die Ehre allein sein kann, die aus ihm einen ‚richtigen Mann‘ machen wird, aber dass es ganz ohne wohl auch nicht geht. Außerdem merkt er immer wieder, dass man die richtigen Leute kennen muss, um als stets prekärer Diener im brutalen Alltag vormoderner Kleinstädte einigermaßen zu reüssieren, Vitamin B ist also gefragt. Männerbündelnde Kleriker, die zwar Wasser predigen, aber Unmengen Wein trinken, scheinen da die adäquaten Ansprechpartner auf seinem Weg nach oben zu sein.
Im Zusammenhang mit dem Thema der Ehre stieß ich auf Bourdieus frühe Forschungen zum Ehrenkodex in der kabylischen Gesellschaft und erkannte tatsächlich vieles von dem wieder, wovon auch schon die Spanier vierhundert Jahre zuvor berichtet hatten: Ehre als symbolisches Kapital, das über das Ansehen der zumeist männlichen Mitglieder der vormodernen Gesellschaft maßgeblich entscheidet; Ehre als unverzichtbare Ressource, die nur im öffentlichen Raum erworben oder aberkannt werden kann; Ehre als mannmännliche Verhandlungsmasse. Je weiter ich mich in Bourdieus Ausführungen vertiefte, desto klarer wurde mir, dass Bourdieu – wie schon die Autoren der Schelmenromane – in der Ehre nur eine von mehreren Kapitalsorten ausmachte, die über den Platz des Individuums im sozialen Raum der Gesellschaft entscheiden. Nachdem Bourdieu den Fokus seiner Forschungsarbeit von der archaischen Gesellschaft Algeriens auf die bürgerliche Gesellschaft der Nachkriegszeit verlagert hatte, tauchen neben dem symbolischen Kapital noch weitere wichtige Ressourcen auf, die mir wohlbekannt vorkamen: natürlich ökonomisches Kapital, dann soziales Kapital und schließlich kulturelles Kapital. Auch Bourdieus Studie zur Männlichen Herrschaft, die ebenfalls ihren Ursprung in seinen Forschungen zur kabylischen Gesellschaft hatte, erschien mir plötzlich nicht mehr so sperrig wie noch vor rund fünfzehn Jahren, als ich sie zum ersten Mal im Zusammenhang meiner Dissertation zu Sexualität und Geschlecht im Werk von Proust gelesen hatte. Erst im Rückblick wurde mir klar, dass La domination masculine sicherlich nicht als Einstiegstext in Bourdieus Denken geeignet war.
So verbrachte ich im Jahr 2016 einen veritablen Bourdieu-Sommer, der mir sicher nicht so viele Glücksmomente beschert hätte, wenn ich nicht zeitgleich auf so wertvolle Türöffner gestoßen wäre, wie etwa Joseph Jurt, Franz Schultheis oder Hans-Peter Müller, die mir mit ihren einführenden und kommentierenden Studien den Weg ebneten. Allerdings konnte mir keiner der Genannten die zunehmende Angst davor nehmen, ahistorisch zu arbeiten, indem ich literarische Texte aus der Frühen Neuzeit mit dem theoretischen Rüstzeug eines empirisch arbeitenden Soziologen des 20. Jahrhunderts analysierte. Mit voranschreitender Arbeit wurde mir jedoch bewusst, dass die maßgeblichen Konzepte Bourdieus wohl über ausreichend Flexibilität und damit auch über die nötige Universalität verfügen, um der historischen Distanz standzuhalten. Auch die Akteure innerhalb meiner Romane lassen sich als Verkörperungen eines jeweils spezifischen – nicht nur vergeschlechtlichten – Habitus lesen; Distinktion spielte auch in der Ständeordnung des Siglo de Oro schon eine eminent wichtige Rolle und war auch dort schon an spezifische soziale Praktiken geknüpft; der männliche Wettbewerb um Ehre und weitere Kapitalformen passten für mich ohnehin. Die Unsicherheit angesichts drohender Ahistorizität ließ endgültig nach, als mir irgendwann klar wurde, dass Bourdieu ja selbst seinen Konzepten diese heuristische Flexibilität eingeschrieben hat, indem er sie aus den primitiven Gesellschaftsformen Nordalgeriens nach Frankreich exportiert hatte.
Kurz vor dem Abschluss meiner Habilitation erschien in Deutschland die Übersetzung von Didier Eribons Retour à Reims. Schon nach der ersten hymnischen Kritik besorgte ich mir das Buch und verschlang es innerhalb weniger Tage. Es inspirierte mich dazu, weitere Texte dieser Art zu lesen, vor allem die Werke von Édouard Louis und Annie Ernaux, die ich bis dato noch nicht kannte, da ich mich literarisch immer nur in weiter entfernten Vergangenheiten herumgetrieben hatte. Nicht nur faszinierten mich diese Autosoziobiografien als eindrückliche Zeitdokumente unserer gespaltenen Gegenwartsgesellschaft, sondern sie boten mir als Bildungsaufsteiger auch ein nicht zu unterschätzendes Identifikationspotenzial. Damit noch nicht genug, stieß ich innerhalb dieser Texte und auch an ihren Rändern immer wieder auf den Namen Pierre Bourdieu, vor allem im Zusammenhang mit einigen seiner Texte, die ich noch nicht gelesen hatte, so vor allem sein Soziologischer Selbstversuch und Das Elend der Welt. Die Auseinandersetzung mit diesen Werken bescherte mir zugleich meinen zweiten Bourdieu-Sommer und das Thema für meinen Habilitationsvortrag – ich wollte über soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltungen in der französischen Gegenwartsliteratur sprechen. Während der Ausarbeitung dieses Vortrages wurden mir mehrere Dinge bewusst. Zum einen, dass die zeitgenössischen Werke über Klassenflucht, Bildungsaufstieg und soziales Elend thematisch gar nicht so weit entfernt lagen von den Schelmenromanen, mit denen ich mich über Jahre hinweg so intensiv beschäftigt hatte. Auch die Autosoziobiografien erzählen episodisch in der ersten Person Singular anhand von prekären Einzelschicksalen von der Verschärfung sozialer Ungleichheit in einer zusehends feudal anmutenden Gegenwartsgesellschaft. Der Begriff der Refeudalisierung taucht tatsächlich immer häufiger in Gegenwartsdiagnosen auf. Wie der Picaro muss auch der transfuge de classe einiges an List, impression management und Anpassungsfähigkeit an den Tag legen, um im Machtgefüge symbolischer und politischer Gewalt zu reüssieren. Insbesondere bei Louis und Ernaux begegneten mir auch typisch pikareske Bildbereiche, so etwa allerlei Skatologisches oder abjekte Motive, die des Öfteren in den Darstellungen ihrer Herkunftsmilieus auftauchen. Plötzlich schien mir der Weg von Lazarillo zu Eddy sehr viel kürzer als ich es jemals für möglich gehalten hatte.
Über all dem thronte Bourdieus umfassende Vermessung sozialer Ungleichheit. Sie bot mir das willkommene Scharnier, das alte mit dem neuen Forschungsprojekt zu verbinden und ich entschied mich am Ende sogar dazu, sie ins Zentrum zu stellen: Ich wollte mich fortan mit Bourdieus Erben beschäftigen. Es schien mir, als habe insbesondere sein Selbstversuch den Autoren und Autorinnen zeitgenössischer Autosoziobiografien als Vorbild gedient. Sein darin geschilderter eigener Werdegang vom Sohn eines kleinen Postbeamten zu einem der wohl größten Gesellschaftsexegeten des 20. Jahrhunderts, der nahezu alle sozialen Felder im Hinblick auf sein Lebensthema der Ungleichheit durchleuchtet und seziert hat, lieferte gewissermaßen das narrative Grundmuster, das seine ‚Erben‘ aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Aber auch andere prominente Gesellschaftsromane unserer Zeit – so etwa von Virginie Despentes, Leïla Slimani, Nicolas Mathieu und ja, auch von Michel Houellebecq – durchspielen immer wieder aufs Neue die gesamte Klaviatur von Bourdieus Feinen Unterschieden: Es wird gegessen, Musik gehört, es wird über Literatur und Kunst geredet, es wird Zeit an Baggerseen totgeschlagen, es wird gekifft, gekokst und gereist, aber niemals stehen diese Tätigkeiten nur für sich – sozusagen als „effets de réel“ –, sondern sie sind stets geframed als soziale Praktiken, die dem Zwecke der Distinktion dienen.
Bourdieu hat in meinen Augen in etwa das geleistet, was Balzac mit seiner Comédie Humaine für die Zeit der Julimonarchie, Zola mit seinem Rougon-Macquart-Zyklus für das Second Empire oder – mit ein paar Abstrichen – Proust mit seiner Recherche für die Belle Époque geleistet hat: nichts weniger als eine wirklich umfassende Gesellschaftsanalyse, die in nahezu alle Teilbereiche des sozialen Mit- und Gegeneinanders vordringt. Er hat es nicht auf literarische Weise getan, sondern auf der Basis empirisch fundierter Forschungsarbeit. Doch spielte die Literatur in seinem Leben und Werk stets eine entscheidende Rolle und das nicht nur in den Regeln der Kunst. Immer wieder tauchen die Namen Flaubert, Sartre, Faulkner, Woolf und viele andere auf. Somit hat Bourdieu selbst auf die gesellschaftliche Dimension von Literatur und ihre Ermöglichungsbedingungen aufmerksam gemacht und somit die Piste gelegt, auf der ihm bereitwillig zahlreiche Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen gefolgt sind. Nun, ich gehöre dazu, und ich beobachte Woche für Woche in Tageszeitungen, Tagungsausschreibungen, Verlagsprospekten und anderswo, dass wir immer mehr werden. Die Hauptursache dafür mag sicherlich keine sein, die einem Freude machen sollte, nämlich die Tatsache, dass sich die soziale Frage wieder mit sehr viel mehr Dringlichkeit stellt als noch im vergangenen Jahrhundert – Spaltungen werden tiefer, Ungleichheit nimmt zu. Das große Verdienst von Bourdieu war es, das Koordinatensystem geliefert zu haben, mithilfe dessen sich solche Prozesse besser verstehen lassen und vielleicht hilft dieses Verständnis auch, das Engagement zu wecken, daran zu arbeiten.
Als Bourdieu vor nunmehr zwanzig Jahren gestorben ist, waren die teils dramatischen Auswirkungen von Globalisierung, Deindustrialisierung und Digitalisierung sicher noch nicht in ihrer gesamten Tragweite absehbar, aber einiges davon schien er in seinen letzten Lebensjahren vorausgesehen zu haben. Sein beharrliches Wirken als engagierter und unbequemer Intellektueller, als Anwalt der Abgehängten und Ankläger des Neoliberalismus zugleich, legen davon Zeugnis ab und ja, seine Stimme fehlt seither.