"Bei Bourdieu ist das Individuum ein Zwerg mit Hut."

Der Soziologe Jürgen Raab über seine Wege in die Soziologie, den Geruch als soziales Phänomen und die soziologischen Klassiker Goffman und Bourdieu.

Veröffentlicht am
25.4.25

Gregor Schuhen

RPTU in Landau

Lars Henk

RPTU in Landau

Den Landauer Soziologen Jürgen Raab haben wir in der Semesterpause zum Interview getroffen. Seit 2013 ist er Professor für Soziologie an der RPTU. In seinen Forschungen hat er sich unter anderem mit dem Geruchs- und dem Sehsinn beschäftigt. Mit ihm haben wir über seinen Weg in die Soziologie, seine wissenschaftlichen Prägungen und sein Verhältnis zu Pierre Bourdieu gesprochen.

Vielen Dank, Herr Raab, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen. Wie sind Sie zur Soziologie gekommen?

Ich war sehr unglücklich mit dem, was ich angefangen hatte zu studieren. Eigentlich wollte ich Englisch und Politikwissenschaften studieren. Englisch konnte ich allerdings nicht belegen, weil ich kein Latinum hatte. Also habe ich auf allgemeine Sprachwissenschaft umgeschwenkt. Das hat mir überhaupt nicht gefallen. Meine damalige Partnerin, die bereits studierte, machte einen Wahlschein in Soziologie. Sie kannte mich lang und gut und hat mir geraten, mich in die Lehrveranstaltung mithineinzusetzen. Nach zwei Vorlesungen habe ich gewusst: Das ist es! Daraufhin habe ich den Professor gefragt, welchen zusätzlichen Leistungsnachweis ich erbringen könnte, um noch teilzunehmen, immerhin war das Semester schon weit fortgeschritten. Er freute sich über mein Interesse und sagte mir: Schreiben Sie eine Rezension zu Erving Goffmans Wir alle spielen Theater.

Keine leichte Aufgabe…

Ich hatte damals keine Ahnung, was eine Rezension und wer dieser Goffman ist. Ich habe mir das Buch gekauft, begann zu lesen und war von Beginn an begeistert. Auf meine Arbeit habe ich dann eine gute Note erhalten. In diesem Moment habe ich zum zweiten Mal erfahren, dass mir Soziologie viel Spaß macht und mir irgendwie liegt. Die späteren Statistikvorlesungen und -klausuren haben diese Freude dann kurzzeitig gedämpft (lacht).

Wer waren die prägenden Gestalten in der Konstanzer Soziologie?

Thomas Luckmann hat die Soziologie an der Universität Konstanz seit deren Gründung zu Beginn der 1970er Jahre stark geprägt. Die Möglichkeit, ihn direkt zu erleben und von ihm zu lernen, war der Grund, weshalb ich Mitte der 1980er Jahre von Berlin nach Konstanz gewechselt bin. Seine Wissenssoziologie war anthropologisch und philosophisch begründet, und sie war empirisch qualitativ ausgerichtet. Das hat mir gefallen und hat mich überzeugt. Noch einmal neu und anders kennengelernt habe ich die Wissenssoziologie dann durch Hans-Georg Soeffner, der auf Luckmann in Konstanz gefolgt ist. Ich war mit meiner Dissertation, die Luckmann aus gesundheitlichen Gründen irgendwann nicht mehr betreuen konnte, fast fertig. So bin ich auf Anraten von Hubert Knoblauch im Wintersemester 1996/97 zu Hans-Georg Soeffner gekommen. Er hatte dienstagsabends sein Kolloquium und die Eröffnungssitzung war für mich wie ein zweites Erweckungserlebnis.

Was hat Sie an Hans-Georg Soeffner begeistert?

Ich war auf einer bestimmten soziologischen Schiene unterwegs, die unbestritten sehr inspirierend und sehr fruchtbar war, aber doch relativ blind und hart im Urteil gegenüber anderen theoretischen Strömungen in der Soziologie. Luckmann erwähnte beispielsweise Bourdieu und Luhmann nie. Hans-Georg Soeffner hatte natürlich seine eigene Linie, das war eine hermeneutische Ausrichtung der Wissenssoziologie in der Prägung von Luckmann. Aber er hatte erkennbar weniger Berührungsängste mit anderen soziologischen Ansätzen. Auch war er sehr empfänglich für andere Ideen, neue Themen und Denkrichtungen. Soeffner hat diese Offenheit auch und vor allem in seinen Kolloquien gelebt. Wir hatten dort immer einen bunten Strauß an Themen von Projekten und Qualifikationsarbeiten, die er alle mit großer Neugier begleitet und mit viel Engagement betreut hat.

Was ist hermeneutische Wissenssoziologie?

Das ist wirklich ein Furcht erregendes Kompositum (lacht). In der soziologischen Tradition sind das lange Zeit verschiedene Forschungshaltungen oder -disziplinen gewesen, die in den 1970er und 1980er Jahren schließlich zueinander gefunden haben. Hermeneutisch ist die Soziologie also erst sehr spät geworden. Die Hermeneutik ist seit Schleiermacher und Dilthey eine Deutungs- und Interpretationslehre, aber sie reicht natürlich bis in die griechische Antike zurück. Hinter ihr steckt eine anthropologische Komponente. Zur conditio humana gehört ein deutender Weltzugang: Der Mensch muss sich und seine Welt deutend aneignen, dazu muss er seine Stellung in der Welt auslegen, interpretieren. Die Wissenssoziologie wiederum analysiert die gesellschaftliche Konstruktion dieser Welt als einer möglichen Wirklichkeit unter anderen, auch möglichen. In dieser Konzeption reicht die Wissenssoziologie zurück bis in die 1920er, 30er Jahre zu Max Scheler und Karl Mannheim als ihren Begründern und Namensgebern. Schelers und Mannheims alte Wissenssoziologie wurde dann in den 1960er Jahren durch Peter Berger und Thomas Luckmann zu einer neuen Wissenssoziologie weiterentwickelt, mit der die Kernfrage nach der Perspektivität, der Standortgebundenheit des Denkens neu und anders gestellt werden konnte: Wie wird ein jeder soziale Standort des Denkens und Wissens, vom alltäglichen bis hin zum wissenschaftlichen, kulturell und historisch geformt? Wie wird er abgesichert und stabilisiert? Wie verhält sich ein solcher Standort gegenüber alternativen, möglicherweise konkurrierenden Wissensbeständen, Denkhaltungen, Sinnangeboten? Welche Rolle spielt das kommunikative Handeln, spielen Symbole, Rituale und unterschiedliche Medien: Körper, Sprache und Bilder, dann Texte, später Filme, Videos, die digitale Kommunikation? Ab einer bestimmten Stelle sind diese Fragen nicht mehr von Fragen nach Machtprozessen und den Herrschaftsordnungen einer Gesellschaft abzulösen, spielen Fragen von Statik und Dynamik, also der Legitimation und Reproduktion einerseits und des Wandels von Sozialordnung andererseits hinein.

So verstanden lassen sich alle Soziologen wissenssoziologisch lesen, oder? 

In Grundzügen sicherlich. Die Wissenssoziologie hat sich im Verlaufe von einhundert Jahren Theoriediskussion und Forschungsarbeit zu einer allgemeinen Soziologie entwickelt. Auch Marx ist ganz zweifelsohne ein Klassiker der Wissenssoziologie, wenn er Klassen und deren Bewusstsein als soziale Standorte des Denkens und Wissens begreift. Im Anschluss an Marx hat dann Theodor Geiger bereits in den 1930er Jahren versucht, soziale Großgruppen über ihre Mentalitäten zu beschreiben. Da sind wir dann schon ganz nah bei Bourdieu. Obschon er selbst das Label sicherlich nicht für sich beansprucht hätte.

Wissenssoziologische Fragen drücken sich auch bei Bourdieu durch?

Der Zentralbegriff von Bourdieus Soziologie, der Habitus, ist ja eine spezifisch gewendete Beschreibungsformel für einen sozialen Standort des Wissens, Denkens und Fühlens, für eine Haltung zur Welt. Und tatsächlich führt Karl Mannheim bereits Mitte der 1920er Jahre den Habitus-Begriff an entscheidender Stelle in seine Wissenssoziologie ein – und das in einer Lesart, wie sie auch für Bourdieu richtungsweisend sein wird. Alltägliche Sozialisation und alltägliche kulturelle Praktiken formen den Habitus aus. So sind beispielsweise die von Bourdieu untersuchten Medien, wie die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie und das Fernsehen, aber auch unsere Einstellung zu Literatur und Malerei oder der Besuch von Museen, wichtig für soziale Standortbestimmungen, eingeschlossen der hierfür markierten Abstände zu den Praktiken und Geschmäckern anderer sozialer Milieus. Wenn das Wissen und Denken, das Handeln und das Fühlen aber in dieser Weise nicht nur standortgebunden und milieuspezifisch sind, sondern immer auch soziale Unterschiede setzen und diese Unterscheidungen fortschreiben, dann ist die Frage nach der Legitimation von Herrschaft aufgeworfen und das Problem der Reproduktion von sozialer Ungleichheit.

Was unterscheidet Bourdieus Ansatz von anderen wissenssoziologischen Positionen?

Zunächst teilen wissenssoziologische Positionen die Einsicht, dass das Wissen und Denken, Handeln und Fühlen von Menschen in dem eben angesprochenen Sinn sozial, kulturell und historisch geprägt sind. Unterschiedlich fallen allerdings die Ansichten dazu aus, wie tiefgreifend und stabil diese Prägungen sind, und damit zusammenhängend die Vorstellungen darüber, welche Bedeutung dem Individuum zukommt, welchen Stellenwert es im Spannungsverhältnis von Mensch und Gesellschaft einnimmt. Für die Durkheim-Linie, auf der sich Bourdieu sehr offensichtlich bewegt, erscheint das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft wie ein Zwerg mit Hut. Hier überlagert und dominiert die Faktizität des Sozialen jegliche dem Einzelwesen zurechenbare Potentialität. Deshalb interessiert Bourdieu das Individuum nicht wirklich. Seine Soziologie ist in Richtung sozialer Strukturen kalibriert. Die sozialen Strukturen werden sozialisatorisch inkorporiert, sie schreiben sich überwiegend unintendiert und unbemerkt in die Körper der Einzelnen ein und leiten von dort aus ihr Denken, Handeln und Fühlen an. Das meint Habitus: strukturierte und strukturierende Struktur, wie es bei Bourdieu so schön einprägsam heißt. Dabei hat der Habitus Gewicht und ist noch dazu träge, er ist unweigerlich da, wirkt und man kann man ihn nicht einfach ablegen wie einen Schuh. Damit bekommt Bourdieu die Stabilität von sozialer Ordnung und deren Reproduktionsmechanismen klar in den Blick. Das ist äußerst erhellend. Aber das Gegenstück, den Wandel, den Anstoß zur Veränderung, kann Bourdieu nicht wirklich fassen, weil er das Individuum in seinen Möglichkeiten klein hält. In dieser wie ich meine sehr grundlegenden Hinsicht unterscheidet sich Bourdieu nicht nur von der neuen Wissenssoziologie à la Berger und Luckmann, sondern auch und insbesondere von der durch Soeffner begründeten hermeneutischen Wissenssoziologie. Bekanntermaßen ist Bourdieu bekennender Nicht-, ja sogar Anti-Hermeneut.

Welche Vorstellung hat die hermeneutische Wissenssoziologie vom Individuum?

Die hermeneutische Wissenssoziologie folgt theoretisch und methodisch dem anderen Weg und setzt analytisch nicht bei der Struktur, sondern auf der Ebene des Individuums an: am Besonderen, am Einzelfall, bevor sie gesellschaftliche Kontexte hinzuzieht oder ableitet. Hier bin ich angewiesen auf das deutende Verstehen des Bedeutungspotentials jenes sozialen Sinns, den ein Individuum seinem Handeln in einer bestimmten sozialen Situation unterlegt, bevor ich sein Deuten und Handeln von allgemeinen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Bedingungen ableite und ursächlich erkläre. Das Individuum ist Ort der Möglichkeiten, der Abweichungen und der Kreativität und damit Quelle des sozialen Wandels. Das Individuum ist das Unberechenbare, gewissermaßen die Störstelle, die die Stabilität einer sozialen Ordnung bedroht. Diese für die Wissenssoziologie, die hermeneutische zumal, zentrale Vorstellung findet sich zunächst in Sozialphilosophie von George Herbert Mead und in der Sozialpsychologie von Georg Simmel, dann wird sie für die Soziologie von Erving Goffman wegweisend. Strukturell besehen gibt es mit den Individuen etwas in Gesellschaft, das nicht gänzlich zu vergesellschaften ist, das nur bedingt gesellschaftsfähig wird und bleibt – ein gesellschaftlich letztlich nicht vollends zu erfassender und zu kontrollierender Überschuss an Sinn und Bedeutung.

Der Unterschied lässt sich vielleicht anhand von Bourdieus La misère du monde verdeutlichen. Die Einzelfälle nehmen in der Interpretation gar nicht so viel Raum ein, bei der Rahmung, die die Forscher den Interviews voranstellen, handelt es sich vielmehr um Kommentare statt Detailanalysen, nicht wahr?

Aus Perspektive des hermeneutischen Wissenssoziologie würde man dieses Vorgehen als methodisches Abkürzungsverfahren bezeichnen. Es erlaubt, rasch durch die Daten hindurch oder etwas drastischer gesagt, über die Daten hinweg zu gehen. Das ist auch eine pragmatische Entscheidung, die in ihren Ergebnissen einiges zeigen kann, sonst wäre das Buch sicherlich nicht ein so großer Erfolg in Frankreich geworden. Aber die Untersuchung stützt sich auf erklärungskräftige theoretische Konzepte, die durch die Ergebnisse in erster Linie bestärkt werden. Ein Vorgehen, das der Blick auf das Detail nur irritiert.

Vor diesem Hintergrund finde ich es interessant, dass Bourdieu sich in seinem Soziologischen Selbstversuch (2002), dem letzten Buch, das er noch zu Lebzeiten vollendet hat, selbst als Störfaktor dargestellt hat, weil sein eigener Werdegang der These der Reproduktion der Ordnung widerspricht.

Es ist schon bemerkenswert, dass Bourdieu ein ganzes Stück weit gegen seine eigene Soziologie gelebt hat. Wie aus dem Nichts, aus einem kleinen Dorf in der französischen Provinz, steigt er auf ins Zentrum der Nation und erklimmt die Spitze des akademischen Olymps. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass ihm sein Habitus erhalten bleibt. Bourdieu kann seine sozialen Prägungen nicht ablegen, seinen südfranzösischen Akzent, seine Unsicherheit im Auftreten bei Vorträgen. Das zeigt der Film Soziologie ist ein Kampfsport sehr eindrücklich, gerade in den Anfangssequenzen.

Wir haben uns in unserem Projekt mit Bourdieus Erben in der Literatur beschäftigt. Wie schätzen Sie die Rezeption seiner Theorien im literarischen Feld ein?

Die Rezeption Bourdieus im gegenwärtigen literarischen Feld beruht – das lässt sich, denke ich, so sagen – auf der Prominenz eines Nebenproduktes seiner Soziologie, dem bereits angesprochenen Soziologischen Selbstversuch. Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis übernehmen eine Haltung, die sie bei Bourdieu lernen und in die er sich in Algerien eingeschult hat, um über den Umweg des Fremdverstehens die eigene Kultur und Gesellschaft und letztlich sich selbst besser zu verstehen. Versucht Bourdieu in ethnologischer Haltung die Kultur der algerischen Bauern aus sich heraus zu verstehen, nutzt er die neu gewonnenen Einsichten, um zunächst die bäuerliche Kultur, der er selbst entstammt sich und schließlich die französiche Gesellschaft als Ganze fremd zu machen und so das Eigene anders und neu zu verstehen. Dieses Programm machen sich Louis, Eribon, Ernaux und andere zu eigen, die im Übrigen ähnliche Bildungsaufstiege vorweisen und darüber in ihren Autoethnographien berichten. Das hat, wie bei Bourdieu auch, einen stark politischen, einen aktivistischen Aspekt.

Warum ist Bourdieu für die Gesellschaftstheorie gerade heute, 20 Jahre nach seinem Tod, in Deutschland und in Frankreich so wichtig?

Bourdieu ist zum Klassiker geworden, weil er ein Verständnis vom Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stark gemacht hat, hinter das die Soziologie sowohl in theoretischer wie auch empirischer Hinsicht nicht mehr zurücktreten kann. Auch methodisch ist Bourdieu ein nach wie vor wichtiger Bezugspunkt, wie man zuletzt bei Steffen Mau und seinen Mitautoren erkennt, wenn sie das Verfahren der Korrespondenzanalyse für ihre prominent gewordene Untersuchung zu den Triggerpunkten (2023) einsetzen.

Auf die Gefahr hin, überall Bourdieu zu sehen, denke ich, dass auch Andreas Reckwitz’ Gesellschaft der Singularitäten (2017) in der Anlage bourdieuianisch ist, oder?

Reckwitz ist ein äußerst belesener Kollege. Ich denke, dass Bourdieus Soziologie für sein Denken vor allem dort von Bedeutung ist, wo Reckwitz die Subjektkultur und die Ansprüche auf Singularisierung in den Praktiken von Lebensstilen beschreibt. Wie für Bourdieu nehmen auch für ihn das Symbolische und das Ästhetische einen hohen Stellenwert bei Antworten auf das Problem der sozialen Anerkennung ein. Allerdings geht Reckwitz insofern über Bourdieu hinaus als er Widersprüche, Unsicherheiten und Verletzlichkeiten in den von Bourdieu noch als relativ kohärent und stabil beschriebenen Habitusformationen erkennt: Enttäuschungen und – so die jüngste Zeitdiagnose – Erfahrungen von Verlust (2024). 

Was haben Sie persönlich von Bourdieu mitgenommen?

In meiner Dissertation über die Soziologie des Geruchs habe ich mit dem schon angesprochen methodischen Verfahren der Korrespondenzanalyse gearbeitet. Werner Georg hat mir das Programm seinerzeit auf zwei Disketten gegeben. Kennen Sie noch Disketten? (lacht) Von ihm habe ich auch erfahren, dass die Korrespondenzanalyse auch in der Astrophysik zur Anwendung kommt, zur Berechnung der anziehenden und abstoßenden Kräfte zwischen Himmelskörpern. Man fühlt sich an die Anfänge der Soziologie bei Auguste Comte und seine physique sociale erinnert. Was habe ich persönlich von Bourdieu mitgenommen? Bleibend denke ich, ein theoretisch anspruchsvolles Korrektiv, auch und nicht zuletzt für die hermeneutische Wissenssoziologie.

Wie sind Sie auf das Thema Ihrer Doktorarbeit gekommen?

Mein Einstieg war, dass sich die Soziologie bis zu dieser Zeit kaum mit den Sinnen und noch weniger dem Geruchsinn beschäftigt hatte. Aber auch in der sehr überschaubaren Auseinandersetzung mit den Sinnen war die Nase völlig nachgelagert. Eine Marginalisierung, die die Alltagswahrnehmung vermeintlich bestätigt. Da habe ich mich gefragt, ob nicht nur die Inszenierung von Körpergerüchen für das Image von Personen von Bedeutung ist, sondern auch milieuspezifisch etwa für die olfaktorische Ausgestaltung von privaten Wohnräumen. Dafür war die Soziologie von Bourdieu sehr hilfreich.

Wie kein anderes Medium schaffen es Gerüche bei mir, Erinnerungen an spezifische Situationen oder Menschen wachzurufen.

Diese Erfahrung ist sinnesphysiologisch angelegt und damit tatsächlich anthropologisch. Die prominenteste Schilderung dieses Faszinosums findet sich sicherlich bei Marcel Proust in der vielzitierten Madeleine-Erfahrung aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich habe mir aber als Soziologe die Frage gestellt, was der Geruchsinn für soziale Schließungsprozesse leistet.

Eine Frau, die Chanel N° 5 aufgelegt hat, riecht anders als eine Frau mit einem DM-Deo. Hat Distinktion in Ihrer Arbeit eine Rolle gespielt?

Für die Dissertation habe ich Fragen der Distinktion mit denen der Identität und der Moral verbunden. Dafür waren mir neben Bourdieu vor allem Georg Simmel, Norbert Elias und Erving Goffman eine große Hilfe. Das Moralische habe ich versucht über Elias und seine historische Rekonstruktion der Bändigung von Gerüchen im Zivilisationsprozess in den Griff zu bekommen, über historisch gewachsene Peinlichkeitsschwellen, vor allem betreffend der Körper und ihrer Ausdünstungen. Die Frage der Identität und der Images habe ich mit Goffman gestellt, er ist mir also seit meinem ersten Soziologiesemester erhalten geblieben (lacht). Distinktion im Verständnis von Bourdieu hat insofern eine zentrale Rolle gespielt, als Gerüche nicht nur Unterschiede und Abstände zwischen sozialen Gruppen und Milieus anzeigen, sondern auch Gemeinsamkeit und Nähe im Sinne von geteilten ästhetischen Vorlieben und damit einhergehenden Praktiken. Meine Untersuchungen über das Management der Luft in Wohnräumen hat gezeigt, wie sehr sich soziale Milieus durch ihre freiwilligen und unfreiwilligen Geruchsinszenierungen einerseits nach außen zu erkennen geben und abgrenzen, und wie sie sich andererseits und zugleich nach innen schließen und vergemeinschaften.

Sie haben sich mit dem Geruchs- und dem Sehsinn beschäftigt. Folgt noch eine Soziologie der Berührung?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt, als ich nach der Geruchsstudie zur visuellen Soziologie gearbeitet habe. Tatsächlich habe ich in dieser Zeit viel über den Tastsinn nachgedacht, weil ich meinte und mit Kant, Plessner und Merleau-Ponty auch noch immer davon ausgehe, dass jeder Sinn seine Welt hat, also für den menschlichen Weltzugang, für soziale Wechselwirkungen und Prozesse der Vergesellschaftung ein Sinnpotential trägt, wie nur er es hervorbringen kann. Spannend wäre ein solches Projekt allemal. Zumal sich Goffman bereits in Ansätzen um den Tastsinn gekümmert hat, als er sich in Auseinandersetzung mit Ritualen und Symbolen der Alltagsinteraktion auch mit zwischenmenschlichen Berührungen – er spricht von Beziehungszeichen – beschäftigt hat. Möglicherweise bin ich ein Sinnessoziologe. Aber heute beabsichtige ich nicht mehr ernsthaft, eine Soziologie des Tastens zu schreiben. Auch weil es vergleichbar der Soziologie des Geruchs oder der visuellen Soziologie ein umfassendes und aufwändiges Unterfangen wäre.

Herr Raab, vielen Dank für das Gespräch.

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