Meine Begegnungen mit Pierre Bourdieu

Joseph Jurt berichtet über seine zahlreichen Treffen mit Pierre Bourdieu

Veröffentlicht am
22.1.22

Joseph Jurt

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Seit meiner Studienzeit hatte ich mich für die Literatursoziologie interessiert, namentlich für Lucien Goldmann. Ich fand dann seinen Ansatz vor allem hinsichtlich der modernen Literatur immer weniger überzeugend und stieß dann mehr per Zufall auf Christophe Charles Artikel „Champ littéraire et champ du pouvoir: les écrivains et l’affaire Dreyfus“ (1977). Charle bezog sich auf die Grundkonzepte von Pierre Bourdieu. In seiner Analyse, die mich vollkommen überzeugte, begegnete ich zum ersten Mal dem Begriff des literarischen Feldes. Ich besorgte mir daraufhin alle von Pierre Bourdieu veröffentlichten Texte über das intellektuelle Feld, die in L’Année sociologique und Scolies erschienen waren. Und das war für mich eine Offenbarung. Ich traf dort auf eine soziologische Herangehensweise an das literarische Geschehen, die den reduktionistischen Ansatz vermied, Werke lediglich als Ausdruck der Bestrebungen einer sozialen Klasse zu interpretieren. Bourdieu nahm die wachsende Autonomisierung eines als ,Feld‘ definierten literarischen Bereiches ernst. Das soziale Phänomen der Literatur wurde von ihm gerade nicht in einem als ,Gesellschaft‘ bezeichneten Anderswo angesiedelt, sondern innerhalb eines literarischen Feldes selbst, in dem die Autoren um die dominante Position kämpfen, die es ermöglicht, literarische Legitimität zu definieren.

Um mich mit diesem Ansatz vertraut zu machen, hatte ich mir vorgenommen, auf der Tagung des Deutschen Romanistenverbandes im Oktober 1979 in Saarbrücken einen Vortrag mit dem Titel „Das literarische Feld im 19. Jahrhundert. Der Beitrag der Bourdieu-Schule zur Etablierung einer Sozialgeschichte literarischer Gruppen“ zu halten. Ich hatte mich an Pierre Bourdieu selbst gewandt, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich kannte, und ihn gebeten, mich über weitere Arbeiten aus seiner Feder zum literarische Feld zu informieren. Er antwortete mir umgehend. Dies war der erste Brief, den ich von ihm erhielt – am 24. Juli 1979. Er schickte mir eine Fotokopie seiner ersten Texte, die in Les Temps Modernes erschienen waren, überdies seinen Artikel über Flaubert sowie seine Texte zum religiösen und zum wissenschaftlichen Feld, in denen er dieselbe Methode auf andere Bereiche anwendete. Pierre Bourdieu teilte mir im selben Brief mit, dass er auf der Grundlage seiner Arbeiten demnächst eine theoretische Klärung des Begriffs des Feldes vornehmen wolle. Ich war glücklich, dass er sich die Mühe gemacht hatte, einem unbekannten Forscher aus dem tiefsten Bayern spontan zu antworten.

Schließlich hielt ich meinen Vortrag über den Begriff des literarischen Feldes und die Bourdieu-Schule in der Sektion „Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft“, die von Peter Bürger gleitet wurde. Daran nahm auch Jacques Dubois teil, der gerade sein Werk L’institution de la littérature (1978) veröffentlicht hatte. Im Unterschied zu einem Kollegen, der Bourdieu vorwarf, zu marxistisch zu sein, war Dubois der Ansicht, dass der Ansatz nicht marxistisch genug sei. Ich musste feststellen, dass der Begriff des literarischen Feldes und die Arbeiten aus dem Umkreis von Pierre Bourdieu in Deutschland völlig unbekannt waren, selbst bei Kollegen, die für eine Sozialgeschichte der Literatur aufgeschlossen waren. Im Anschluss begannen einige Kollegen, sich mit dem Konzept des literarischen Feldes zu befassen. Erich Köhler, einer der Pioniere der Literatursoziologie in Deutschland, veröffentlichte meinen Vortrag in seiner Zeitschrift (Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte). Der Text erschien dort 1981 zusammen mit einer Übersetzung, die ich von Pierre Bourdieus Text über Sartre („L’intellectuel total“) angefertigt hatte. Pierre Bourdieu dankte mir in sehr persönlichen Worten für meinen Artikel, der wohl eine der ersten Präsentationen der Theorie des literarischen Feldes und ihrer ersten Anwendungen in Deutschland war.

Im November 1980 traf ich Pierre Bourdieu zum ersten Mal persönlich bei einem Aufenthalt  in Paris. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Begegnung. Er hieß mich in seinem Büro willkommen, ohne jede professorale Attitüde. Er interessierte sich sehr für meine Arbeiten und lud mich zum Mittagessen in das kleine Restaurant Le Raspail in der Nähe der MSH (Maison des Sciences de l’Homme) ein. Er riet mir nachdrücklich zu einem Cassoulet, einem Gericht aus seiner Heimatregion. Ich war vom ersten Moment an von seiner starken intellektuellen Präsenz und seiner menschlichen Wärme fasziniert. Sein kritisches Denken hörte nie auf, war Tag und Nacht am Werk. Verärgert über die Ethnologen, für die das Beobachtungsfeld ein begrenztes Territorium sei, sagte er mir, dass das Feld überall sei, hier in diesem Café oder anderswo. So war sein Denken ständig in Bewegung. Diese andauernde Aufmerksamkeit für die Welt um ihn herum erklärt, wie mir scheint, den enormen Reichtum seiner Studien. Sie ging Hand in Hand mit einer ebenso großen, ungeteilten Aufmerksamkeit für die Menschen, die den Kontakt zu ihm suchten. Diesen Eindruck hatte ich die ganze Zeit während unseres Treffens.

Ich war sehr beeindruckt von seinem wachen Interesse für alle Menschen, die den Kontakt zu ihm suchten. Trotz seiner überwältigenden Verpflichtungen als Professor, als Studiendirektor im CNRS, Herausgeber einer Zeitschrift und Autor nahm er sich immer Zeit für die Menschen. Er lud mich ein, ihn bei meinen Besuchen in Paris immer anzurufen, damit wir uns treffen konnten. Und mit einer gewissen Traurigkeit gehe ich nun an den Cafés vorbei, in denen wir uns so oft gesehen hatten: Le Balsar, La Bourgogne am Place des Vosges und die Cafés in der Nähe des Collège de France. Es war Ende Juni 2001, als ich Pierre Bourdieu leider zum letzten Mal auf der Terrasse eines Cafés an der Place de la Bastille traf. Er schien sehr müde zu sein. Und mit langsamen Schritten ging er nach Hause. Ich ahnte nicht, dass es ein Abschied war.

Nach meinem Vortrag anlässlich des Romanistentages hielt ich es für wichtig, Bourdieus Analysen einer breiteren literaturwissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Dafür konnte ich auf seine Unterstützung zählen. Bourdieu war der Wegbereiter für eine Reihe von konstruktiven Treffen und Publikationen gleichgesinnter, in verschiedenen Ländern arbeitender Forscher – Literaturwissenschaftler, Soziologen und Historiker –, die die Literatursoziologie oder soziologische Literaturgeschichte als Feldanalyse betrieben. Er selbst hielt Vorträge und verfasste Beiträge für die aus den Tagungen entstandenen Publikationen. 1982 fand so ein Kolloquium mit Pierre Bourdieu und Kunsthistorikern zu dem Thema „Juger et classer : pour une histoire sociale de la perception artistique“ in einem schönen Sitz in Cortona statt, der der Scuola Normale Superiore von Pisa gehörte. Daran nahmen neben Bourdieu auch Carlo Ginzburg, Peter Burke, Anna Boschetti, Enrico Castelnuovo, Dario Gamboni und der Schreibende teil.

Ich konnte 1984 eine Reihe von Studien, die sich an Bourdieus Ansatz orientierten, in einer Sonderausgabe der Zeitschrift lendemains zusammenstellen. Pierre Bourdieu hatte dazu einen wichtigen Beitrag mit dem Titel „Das literarische Feld. Kritische Voraussetzungen und methodische Prinzipien“ geliefert, von dem er auch einen Teil in die Règles de l’art aufnahm. Vom 24. bis 26. September 1998 fand in Mainz der Gründungskongress des Verbands deutscher Frankoromanisten statt. Pierre Bourdieu hatte sich bereit erklärt, in diesem Rahmen den Hauptvortrag über die Verantwortung der Intellektuellen zu halten. Auf diesem Kongress organisierten wir eine Sektion mit dem Titel „Für eine Sozialgeschichte der Literatur“, an der ebenfalls Pierre Bourdieu, aber auch Wissenschaftler aus Belgien, Frankreich, Italien und Deutschland teilnahmen. Die Mainzer Vorträge wurden in der Zeitschrift Regards sociologiques (1999) veröffentlicht. Im Oktober 1999 trafen wir uns im Frankreich-Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg zu einer zweiten Konferenz. Die Beiträge dieses Kolloquiums wurden im Juni 2002 in einer Koedition zwischen dem Berlin-Verlag und den Editions de la Maison des Sciences de l’Homme unter dem Titel Le texte et le contexte. Analysen des französischen literarischen Feldes (19. und 20. Jahrhundert) publiziert.

Pierre Bourdieu interessierte sich sehr für die neuen Richtungen der Sozialgeschichte der Kunst und der Literatur in Deutschland. Im Mai 1987 ließ er mich von der EHESS für einen Monat als assoziierter Forscher einladen. Bourdieu war so großzügig, diese Einladung gleich viermal in den folgenden Jahren zu erneuern (1989, 1993, 1997 und 1998). Diese Aufenthalte ermöglichten es mir, mich länger mit ihm zu unterhalten als bei unseren kurzen Treffen in Paris. Und ich wurde von den Mitarbeitern seines Zentrums am Collège de France immer sehr gastfreundlich aufgenommen. Dabei fiel mir auf, dass er seinen Mitarbeitern stets vertraute und sie sich bemühten, seine Erwartungen nicht zu enttäuschen.

Bereits Ende 1987 wurde ich vom Rektorat der Universität Freiburg beauftragt, die Konzeption eines interdisziplinären Frankreich-Zentrums auszuarbeiten. Pierre Bourdieu signalisierte uns von Anfang an seine Unterstützung. Bei der offiziellen Eröffnung unseres Frankreich-Zentrums am 30. Oktober 1989 hielt er den Eröffnungsvortrag, der gleichzeitig ein ganzes Forschungsprogramm umriss und dann in der Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte unter dem Titel „Die sozialen Bedingungen der internationalen Zirkulation von Ideen“ veröffentlicht wurde. Im Anschluss an diesen Vortrag organisierten wir vom 7. bis 9. Februar 1991 in der Fondation Hugot in Paris ein Arbeitstreffen über die internationale Zirkulation von Ideen und Werken. Von 1996 bis 1998 widmeten wir uns zusammen mit jungen Forschern einem gemeinsamen Forschungsprojekt zu den bestimmenden Faktoren des Literaturaustauschs, von dem einige Teilergebnisse in der Ausgabe der Actes de la recherche en sciences sociales zu Verlegern und Verlagswesen (1999) publiziert wurden.

1995, als der Bürgerkrieg in Algerien in vollem Gange war und eine Welle von Attentaten Frankreich erschütterte, veranstalteten wir im Frankreich-Zentrum in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für europäische Soziologie des Collège de France ein Kolloquium zum Thema „Algerien – Frankreich – Islam“. Bourdieu, der vier Jahre in Algerien gewirkt hatte, selbst Autor mehrerer Bücher über das Land und Vorsitzender des Comité International de Soutien aux Intellectuels Algériens, hatte uns mit Ratschlägen unterstützt und uns mit Algerienforschern in Kontakt gebracht. Erneut war er so freundlich, die Eröffnungsrede zu halten. Bei dieser Gelegenheit hat er auch zwei Vorlesungen des Collège de France extra muros an unserer Universität zum Thema „Literarisches Feld und Feld der Macht“ gehalten und an einem Doktorandenseminar teilgenommen. Es war bewundernswert, wie leicht es ihm fiel, sofort in die Projekte der jungen Forscher einzusteigen. Seine mehrtägige Anwesenheit an unserer Universität war ein großer Moment für unsere Institution.

1996 haben wir zum ersten Mal die Deutsch-Französischen Kulturgespräche in Freiburg durchgeführt, die in diesem Jahr dem Thema „Soziale Integration als kulturelles Problem“ gewidmet waren. Bourdieu hatte sich erneut bereit erklärt, nach Freiburg zu kommen, und übernahm die Aufgabe, gemeinsam mit Michel Rocard die Abschlussrede zu halten. Im Flugzeug, das ihn von Athen nach Zürich gebracht hatte, hatte er ein Interview mit dem Präsidenten der Deutschen Bank gelesen. Ausgehend von diesem Interview, das in den Spalten von Le Monde veröffentlicht wurde, entwickelte Bourdieu spontan eine brillante Analyse des „Tietmeyer-Denkens“, die später in mehreren europäischen Zeitschriften veröffentlicht wurde.

Ende Mai 2000 organisierten meine Schüler eine Veranstaltung anlässlich meines sechzigsten Geburtstags. Sie hatten Bourdieu gebeten, eine Rede zu halten. Und er hatte wieder einmal ohne zu zögern zugesagt, was ich als große Ehre und Zeichen der Freundschaft empfand. Der Saal war überfüllt, weil viele Menschen, vor allem Studenten, gekommen waren, um seinen Vortrag „Forschen und Handeln“ zu hören. Darin erinnerte er abschließend daran, dass Max Weber, der ebenfalls in Freiburg gelehrt hatte, „nicht nur von Wertfreiheit, sondern auch von Wissenschaft als Beruf sprach. Es ist wichtig, jene, die wissenschaftliche Objektivität mit ethischer und politischer Neutralität verwechseln, daran zu erinnern, dass sie ihre Hände nicht in Unschuld waschen können, angesichts der praktischen, und wenn es um die Sozialwissenschaften geht, auch der politischen Folgen ihrer Arbeit. Sie sind vielleicht nicht denjenigen Rechenschaft schuldig, die sie anklagen, die Grenzen des akademischen Heiligtums durch ihre Interventionen im profanen Bereich zu überschreiten, sie sind es aber doch zumindest vor dem Richterstuhl der Wissenschaft als Berufung in deren Namen sie ihre Verurteilungen und manchmal auch ihre Exkommunikationen aussprechen.“

Die Nachricht vom Tod Pierre Bourdieus hat mich in immense Traurigkeit versetzt. Nie wieder würde ich ihn abends anrufen können, um mit ihm über das eine oder andere zu sprechen. Mir wurde klar, dass ich mich auch nach seinem Tod bei jedem Ereignis, jeder Debatte fragen werde, was er wohl dazu sagen würde. Und gleichzeitig war ich sehr dankbar, dass ich über zwanzig Jahre lang mit einer Persönlichkeit von der Statur Pierre Bourdieus in Kontakt sein durfte. Durch ihn bin ich mit vielen seiner Mitarbeiter und Freunde in zahlreichen Ländern in Kontakt gekommen. Bourdieu liebte es, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Die Menschen, die ich durch ihn kennenlernen konnte, zeichneten sich durch sehr ausgeprägte individuelle Profile aus, aber gleichzeitig teilten sie eine bestimmte Art, die soziale Welt zu sehen und das wissenschaftliche Arbeiten zu verstehen. „Der Habitus existiert“, sagte Bourdieu mir, als ich ihm einmal von dieser Feststellung berichtete. Und dank der vielen Menschen, die er mit seiner intellektuellen Stringenz und seiner menschlichen Wärme zu erreichen wusste, wird sein Werk fortbestehen.

Joseph Jurt ist Romanist und emeritierter Professor für französische Literaturwissenschaften an der Universität Freiburg. Er hat lange Jahre im Feld der Literatursoziologie mit Bourdieu zusammengearbeitet. Ursprünglich erschien der Aufsatz unter dem Titel „Mes rencontres avec Pierre Bourdieu“ in: Gérard Mauger (éd.), Rencontres avec Pierre Bourdieu. Bellcombes-en-Bauges, Editions du Croquant, 2005, p. 377-385.

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