Zwanzig Jahre nach seinem Tod im Jahre 2002 ist Pierre Bourdieu präsenter denn je. Schon zu Lebzeiten war er einer der bekanntesten französischen Intellektuellen und, wie die Dekonstruktivisten, ein global player. Mit diesen verband ihn einiges und von ihnen trennte ihn vieles. Denn im Gegensatz zu den Diskursanalytikern Foucault, Derrida u.a. betrieb der Soziologe Bourdieu, getreu der Fachdisziplin, umfangreiche Feldforschung, zog daraus seine Schlüsse und entwickelte danach seine Theorien. Manche, die heute seine bekanntesten Begriffe – symbolisches und kulturelles Kapital, Habitus, Distinktion – in Gespräche oder Artikel einfließen lassen, haben nicht unbedingt viel von ihm gelesen, denn so manches aus der pensée bourdieusienne ist in den Wortschatz und das allgemeine akademische Weltwissen eingegangen.
Manchmal zeigt etwas, das man in jüngeren Jahren erfährt, erst viel später seine Wirkung und Wichtigkeit. So ging es mir mit Pierre Bourdieu, den ich in Freiburg hörte. 1989 sprach er erstmals in der Albert-Ludwigs-Universität auf Einladung Joseph Jurts, der ihn in der deutschen Romanistik und darüber hinaus bekanntmachte und wahrscheinlich selbst einer der bekanntesten deutschsprachigen bourdieusiens ist. Bourdieu war kein großer Redner, doch gleichwohl steht mir sein Vortrag im Frankreich-Zentrum lebhaft vor Augen. Ich kam von der Literatursoziologie meines romanistischen Lehrers Erich Köhler, deshalb interessierte mich Bourdieus soziologisches Denken sehr. Die Distinctions erschienen mir schon früh faszinierend, und die deutsche Ausgabe, Die feinen Unterschiede, erinnerten in dem weißen Suhrkamp-Einband nachgerade an das legendäre weiße Album der Beatles, das selbstredend in Bourdieus Klassifizierung des Geschmacks neben dem späten Beethoven und den Streichquartetten Schostakowitschs nicht punkten konnte und damals viel weniger kulturelles Prestige aufwies als heute. Doch auch wenn gerade dieses Buch immer neue Entdeckungen ermöglichte – nicht zuletzt den Abgleich mit dem eigenen Lebensstil –, fehlte mir in Bourdieus Kosmos noch etwas, das nach einigen frühen Artikeln erst später in seinen wuchtigen Studien zu Flaubert und Manet ausgeführt wurde: das eigentliche Feld der Literatur und Kunst, dem ich mich ganz verschrieben hatte.
Erst in meinen Siegener Jahren wurde Bourdieu deshalb für meine Forschungen und meine Lehre wirklich relevant. Das DFG-Projekt Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen zwischen Massenmedialität und Marginalität stützte sich u.a. auf die Règles de l’art. Und diese waren gleichzeitig, zusammen mit Manet, die Anregung für zahlreiche Seminare, darunter jenes über Zolas Roman L’Œuvre, der Themen wie Freundschaft, Konkurrenz und Kunstbetrieb in ihrer auch historischen Dimension anbot. Re-Lektüren der Illusions perdues machten mir und den Studierenden deutlich, wie wunderbar sich nicht nur die Regeln der Kunst, sondern auch die feinen Unterschiede in Balzacs Gesellschaftsdiagnosen finden lassen: literarische Gattungen, Dichter-Sein in der Provinz und in Paris, Kleidung und Allüren, alles ist Habitus und Distinktionsmerkmal, tout se tient. Flaubert seinerseits unterschied in L’Éducation sentimentale Milieus, oder auch Herkunft, mit der Auswahl des Weines: Tokayer, Bourgunder oder Bordeaux. Immer, wenn in den Seminaren, gerade auch über das 19. Jahrhundert, Bourdieu hinzugezogen wurde, gingen den Studierenden die Augen auf. Heute allerdings, und das gilt auch für Gegenwartsanalysen, müssen Bourdieus Feine Unterschiede vielleicht ergänzt, teilweise auch korrigiert werden. Deshalb zogen wir in einem Kurs über das Vokabular Bourdieus Jürgen Kaubes Vorschlag der „kulturellen Allesfresser“ hinzu. Kaube zeigt, dass high und low sich nicht mehr zwangsläufig ausschließen. Wer bevorzugt den späten Beethoven hört, mag oft auch die Beatles und möglicherweise, an Abenden mit ein bisschen sentiment, sogar ABBA. Und wer wie Nietzsche und Adorno – der große Verächter der Unterhaltungskultur – in Sils Maria Ski fährt und wandert, geht vielleicht auch ins Fußballstadion. Andersherum wird es viele ABBA-Fans geben, die nicht Schostakowitsch hören, und viele Fußballfans, die nicht in der Schweiz skilaufen.
Eine letzte Anmerkung: Mit Bourdieus Arbeiten verbindet sich auch und vor allem die bestechende Analyse von Bildungsbiografien. Les héritiers lassen sich in Frankreich noch besser beobachten als in Deutschland, denn die Hierarchie von Schulen und Hochschulen ist dort besonders ausgeprägt. Der erfolgreiche Besuch einer Pariser Eliteschule (Henri IV, Montaigne, Louis-le-Grand und wenige andere) und Hochschule (ENA – die Präsident Macron gerade neu strukturiert und öffnet –, ENS, Sciences Po, HEC) bedeutet Karrieresicherheit und vererbt sich, wie Bourdieu gezeigt hat, in den bonnes familles. Was aber heißt das für einen intelligenten Jungen, der 1930 in einer kleinen Gemeinde am Fuße der Pyrenäen geboren wurde und im bäuerlichen Milieu des Béarn aufwuchs? Bourdieus Karriere und Berühmtheit, die der Selbstversuch nachzeichnet, waren, gemäß seiner eigenen Theorie, ganz unwahrscheinlich. Aber manchmal gibt es eben door opener, und dann bestätigt die Ausnahme die Regel. Das war gut für ihn und ist gut für uns.