„Mich fasziniert, dass Theorien voller Erfahrungen, voller Leben stecken.“ Onur Erdur über Bourdieus Platz in der Schule des Südens, das postfaktische Zeitalter und die Bedeutung der Ideengeschichte als akademischer Disziplin.

Veröffentlicht am
25.10.25

Lars Henk

RPTU in Landau

Gregor Schuhen

RPTU in Landau

Jan Paul Theis

Herr Erdur, Sie sind Ideenhistoriker. Können Sie uns verraten, was das genau bedeutet?

Das ist eine gute Frage (lacht). Ganz allgemein würde ich sagen, dass die Ideengeschichte die Entstehung, Verbreitung, Zirkulation und Wirkung von Ideen, Theorien und Konzepten erforscht. Losgelöst etwa von einer einzelnen Person oder einem singulären Ereignis, untersucht sie die Geschichte der geistigen Strömungen und der Denksysteme in ihrem Kontext. Dieses Historisieren ist ein ganz zentraler Aspekt der Arbeit, denn Ideen entstehen nicht in einem luftleeren Raum. Außerdem geht es um die Untersuchung des Einflusses von Ideen auf die Gesellschaft und Politik, weil es nicht immer, aber sehr oft auch Ideen sind, die menschliches Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen prägen.

Was fasziniert Sie persönlich gerade an der Erforschung der Geschichte von Ideen, Konzepten und Theorien?

Mich fasziniert, dass Theorien voller Erfahrungen, voller Leben stecken. Das gilt es bei der Erforschung der Entstehung und der Rezeption von Theorien stärker zu berücksichtigen, ohne deswegen aber gleich in einen reduktionistischen Biographismus zu verfallen. Ich interessiere mich eher dafür, in welcher Beziehung Theorien und Erfahrungen zueinander stehen,wie individuelle Erlebnisse zur Entwicklung von Konzepten beitragen oder andersherum theoretische Entwürfe auf biographische Realitäten reagieren. Dahinter steckt eigentlich die ganz klassische Frage nach dem Verhältnis von Leben und Werk.

Dieses Interesse liegt Ihrem Buch Die Schule des Südens zugrunde, nicht wahr?

Genau, das ist die methodische und konzeptuelle Grundfrage, die ich anhand der Denker und Denkerinnen der French Theory untersuche.

Was ist die French Theory?

Zunächst einmal ist es ein in den 1970er und 1980er Jahren entstandenes Label, um einen spezifischen Denkstil in Frankreich zu charakterisieren, der die acht verschiedenen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verbindet, die ich porträtiere. Übrigens stammt der Begriff gar nicht aus Frankreich, sondern aus den USA, wo die Theorien aus Frankreich intensiv rezipiert wurden. Es diente natürlich auch als Marketing-Label, wie French Cuisine oder French Cinema. Das muss man sicherlich ein bisschen mit Vorsicht genießen, weil dadurch das Risiko hoch ist, die Eigenheiten des französischen Denkens zu verzerren oder zu verdecken. Ich sehe das verbindende Element nicht so sehr in den Theorien, die inhaltlich tatsächlich sehr unterschiedlich ausfallen, sondern vielmehr in der Art des Denkens.

Was charakterisiert diesen Denkstil?

Es ist ein anti-hegemonialer, ein anti-essentialistischer und ein machtkritischer Denkstil. Die französischeTheorie wendet sich gegen die Identität, das Zentrum, das Hegemoniale und steht ein für die Differenz, die Peripherie, das Minoritäre.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch über die French Theory zu schreiben?

Die Idee zu dem Buch entstand, als ich das Personenregister meiner Doktorarbeit erstellt habe, in der ich die epistemologischen und politischen Debatten zwischen Nobelpreisträgern der Biologie und Philosophen in den 1960er und 1970er Jahren in Frankreich untersucht habe. Ich hatte also bereits ein genuines Interesse an französischer Philosophie. Für die Erstellung des Registers musste ich die Geburtsjahre und Todesdaten der verschiedenen führenden Intellektuellen und Wissenschaftler aus Frankreichs Geistesleben auflisten. Bei dieser Recherche ist mir aufgefallen, dass viele dieser Personen, darunter eben auch Vertreter und Vertreterinnen der French Theory, in den (ehemaligen) Kolonien geboren wurden oder sich für längere Zeit dort aufgehalten hatten. Über diesen Umstand in den Biographien musste ich sehr staunen. Das war gewissermaßen der Ausgangspunkt meiner Arbeit zur Schule des Südens. Ich habe dann entdeckt, dass die Aufenthalte in den Kolonien nicht bloß eine biographische Koinzidenz innerhalb einer Generation waren, sondern tatsächlich ein verbindendes Merkmal zwischen denjenigen, die man der French Theory zuordnet.

Porträt-Copyright: Christoph Bombart

Über die French Theory ist aber schon einiges geschrieben worden, oder?

Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten sogar eine Unmenge an Literatur darüber produziert. Umso erstaunlicher ist es, dass die kolonialen Dimensionen der französischen Theorie so lange unterbelichtet blieben. Es handelt sich keineswegs um ein verborgenes Wissen, eher schon um eine koloniale Amnesie. Bis auf wenige internationale Ausnahmen hat sich niemand systematisch den Aufenthalten der französischen Intellektuellen in den Kolonien gewidmet.

Ihr Buch stellt acht Variationen dieser Grundkonstellation vor. Zu den Porträtierten zählen Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Hélène Cixous, Étienne Balibar und Jacques Rancière. Wie kam diese Auswahl zustande?

In die engere Auswahl konnte erstens nur kommen, wer einen klar erkennbaren Bezug zu dieser Theorie-Generation hatte. Zweitens musste es genug aussagekräftiges Quellenmaterial geben, um der Frage nach den kolonialen Einflüssen auf die Theoriearbeit nachzugehen. Es sind schließlich diese acht Ikonen der französischen Geistesgeschichte geworden, weil sie sich bei aller Heterogenität der von ihnen bearbeiteten Themen durch eine Leidenschaft zum theoretischen Argumentieren auszeichnen. Das ist neben der Bedeutung der kolonialen Wurzeln ihres Denkens das einende Band.

Kommen wir auf Pierre Bourdieu zu sprechen, dem Sie das erste Kapitel Ihres Buchs widmen. Worin besteht die Kontinuität zwischen seinem Aufenthalt in Algerien und seiner soziologischen Forschung zur französischen Gegenwartsgesellschaft?

Die Kontinuität liegt vorallem darin, dass er sie selbst hergestellt hat. Die Entwicklung seines Theoriegebäudes, zu dem Konzepte wie „Habitus“, „Kapital“ und „Feld“ zählen, speist sich aus dem riesigen Materialfundus, den Bourdieu im Zuge seines fünfjährigen Aufenthalts von 1955 bis 1960 in Algerien anhäufte. Dort absolviert er zunächst seinen Militärdienst und tritt dann eine Stelle an der Universität von Algier an. Bourdieu beruft sich im Lauf seiner Karriere immer wieder auf seine ethno-soziologischen Forschungen in Algerien, um zum Beispiel seine Handlungstheorie zu formen beziehungsweise weiterzuentwickeln. Das zeigen vor allem sein Entwurf einer Theorie der Praxis zu Beginn der 1970er Jahre und Sozialer Sinn 1980, das viel von dem, was er im Entwurf schreibt, wieder aufgreift und systematisiert. Das gilt auch für Die männliche Herrschaft aus den späten Neunzigerjahren.

Algerien fungiert, wie Sie in Übereinstimmung mit Franz Schultheis schreiben, als Laboratorium. Was bedeutet das?  

Wir müssen uns Bourdieu in Algerien in erster Linie als einen Autodidakten vorstellen, der die wissenschaftliche Arbeit des Ethno-Soziologen erst vor Ort und dann aber im Schnelldurchlauf erlernt. Man darf nicht vergessen: Er ist bei Antritt seines Militärdienstes ein ausgebildeter Philosoph und beabsichtigt, in Paris beim Philosophen Georges Canguilhem eine Doktorarbeit zu den affektiven Zeitstrukturen zu schreiben. Noch während seines Militärdiensts in Algerien beginnt er mit Forschungen zur algerischen Gesellschaft und stürzt sich nach Dienstende ohne vorherige ethnologische Ausbildung regelrecht ins Feld: Er führt Interviews, erhebt statistische Daten, analysiert Rituale, schießt Fotos. Algerien bot, gerade auch aufgrund des kolonialen Kontextes, privilegierte Bedingungen wissenschaftlicher Wissensproduktion. Es war aber auch deswegen eine Art gesellschaftliches Laboratorium für moderne Sozialforschung, weil sich die gesellschaftlichen Strukturen in dem Land aufgrund von Kolonialismus und Kriegso stark und schnell verändert hatten.

Sie sagten, dass die machtkritische Perspektive ein wesentliches Merkmal der French Theory sei. Wie kommt es, dass der machtkritische Michel Foucault die koloniale Situation gar nicht in den Blick genommen hat?

Das ist in der Tat die Frage, die ich mir gestellt habe. Eine einfache Antwort könnte lauten, dass er während seines zweijährigen Aufenthalts in Tunesien vor allem mit sich selbst und mit Fragen der Lebensführung beschäftigt war. Im idyllischen und von Auslandsfranzosen bewohnten Sidi Bou Saïd fiel es nicht schwer, Fragen des Kolonialismus auszublenden.

Wie sähe die komplizierte Antwort aus?

Sie müsste zumindest einige sehr unterschiedliche und widerständige Aspekte in Rechnung stellen: So ist Foucault in Tunesien überhaupt noch nicht der berühmte Theoretiker der Macht – das wird er erst im Laufe der 1970er Jahre. Außerdem war Tunesien gegen Ende der 1960erJahre zum Zeitpunkt von Foucaults Aufenthalt bereits seit über zehn Jahren unabhängig, womit eine völlig andere (post-)koloniale Ausgangssituation herrschte als zum Beispiel bei Bourdieu im Algerienkrieg. Noch ein wichtiger Punkt: Foucault durfte sich während seines Aufenthalts nicht in die tunesischen Belange einmischen. Als französischer Angestellter an der Universität von Tunis war er zur Neutralität verpflichtet, was etwa seinem Engagement für die protestierenden tunesischen Studierenden klare Grenzen setzte. Trotz dieser Einschränkungen bleibt der Kolonialismus in Foucaults Werk aber eine Leerstelle. Verglichen mit anderen französischen Philosophen und ihrem Umgang mit der eigenen moralischen Verstrickung in den Kolonialismus bekleckert sich Foucault nicht gerade mit Ruhm.

Wie ist das bei Bourdieu?

Anders als Foucault kann Bourdieu vor allem durch seine Forschung vor Ort punkten. Die Zeit in Algerien hinterlässt aber nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in politisch-intellektueller Hinsicht tiefe Spuren bei ihm. Als Bourdieu die entwurzelte und in Umsiedlungslager gesteckte algerische Gesellschaft sieht, ist er erschüttert. Seine eigene Situation vor Ort empfindet er als ein zutiefst moralisches Problem, als „Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren“. Er will verstehen, was hier vor sich geht, herausfinden, welche Auswirkungen Kolonialismus und Krieg auf die algerische Gesellschaft haben; erproben, was es heißt, sich politisch zu engagieren. Sicherlich sucht er hier auch Wege, sich auf die eine oder andere Weise zu entfalten. Am Ende des Aufenthalts hat Bourdieu nicht nur eine Konversion vom Philosophen zum Soziologen vollzogen, er ist jetzt auch ein politischer Intellektueller, der es sich zur Aufgabe macht, das erworbene soziologische Wissen über die Gesellschaft, die er untersucht, wieder zurück in die Gesellschaft zu tragen.

Im Unterschied zu Bourdieu, der immer wieder auf seine biografischen Erfahrungen rekurriert, erklären Sie, dass der in Algerien geborene Jacques Derrida das Verhältnis zwischen Theorie und den biografischen Wurzeln erst spät thematisiert. Was hat es damit auf sich?

Im Fall von Jacques Derrida ist es so, dass er sich wirklich erst zu einem sehr späten Zeitpunkt dazu entscheidet, die eigene biografische Prägung und insbesondere seine algerischen Wurzeln öffentlich zu thematisieren. Dabei hat er eine bewegte Biographie: Er wächst im kolonialen Algerien in einer jüdisch-sephardischen Familie auf, erfährt besonders unter dem Vichy-Regime heftigen Antisemitismus, geht bei der nächstbesten Gelegenheit zum Studieren nach Paris, kehrt dann während des Algerienkriegs aufgrund des Militärdienstes nochmal notgedrungen zurück, um dann ab 1962, pünktlich zur algerischen Unabhängigkeit und inklusive einer Namensänderung von Jackie zu Jacques, in Paris zu dem bekannten französischen Philosophen zu werden: Er sagt dreißig Jahre nichts zu seiner algerischen Herkunft und tut als Theoretiker so, als ob die Biographie keine Rolle spielt. Erst ab den frühen 1990er Jahren äußert er sich öffentlich zu seiner dramatischen Biographie.

Was bedeutet das für den Konnex von Erfahrung und Theorie?

Um ein Beispiel zu geben: Der Entzug der französischen Staatsbürgerschaft durch das Vichy-Regime, aber mehr noch der Rauswurf aus der französischen Schule, bedeuteten für ihn eine Bewusstwerdung für die Fragilität nationaler Identitäten – er nannte dieses Ereignis sein „Erdbeben“. Ähnlich erschütternd war sein anschließender Besuch der jüdischen Schule. Ein ganzes Jahr hat er sie geschwänzt. Seine Unlust an jeglicher zugeschriebenen Zugehörigkeit macht sich später auch intellektuell bemerkbar: In seinem Gestus der Dekonstruktion, die ja die Differenz betont, die Momente des „Dazwischen“. Man muss vielleicht nicht so weit gehen und behaupten, dass die Dekonstruktion einzig und allein aus diesen Brucherfahrungen entstanden sei. Aber die algerische Genealogie macht sichtbar, wie eng Derridas persönliche Erfahrung der Identitätszumutung mit seiner philosophischen Kritik von Identitätskategorien verknüpft ist.    

Sie argumentieren gegen die Position, dass die French Theory ein Vorläufer des postfaktischen Zeitalters sei. Aber ist es nicht so, dass Foucault mit seiner Genealogie und Derrida mit seiner Dekonstruktion die universalistischen Wahrheitsansprüche relativieren?

In der Tat ist die Behauptung, dass die postmoderne Theorie französischer Provenienz ideologisch für das postfaktische Zeitalter verantwortlich sei, weit verbreitet. Dieser Vorwurf des Irrationalismus, Relativismus und Obskuranten wurde in Deutschland sehr früh schon von Vertretern der Frankfurter Schule formuliert. Dieses Bild von den postmodernen französischen Philosophen, die wissenschaftsskeptisch sind und objektive Wahrheiten als interessegeleitete Diskursspiele ironisieren, ist nicht korrekt.

Warum?

Aus zwei Gründen. Die französischen Philosophen zeichnen sich erstens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine elaborierte Wissenschaftsaffinität aus. Das habe ich in meinem Buch Die epistemologischen Jahre genauer rekonstruiert. Die historische Epistemologie von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, die nicht einfach mit der deutschen Erkenntnistheorie gleichgesetzt werden darf, war an den Universitäten in den 1950er Jahren sehr einflussreich. Foucault, Bourdieu, Derrida, Serres, Deleuze und viele weitere Absolventen der École Normale Supérieure haben ihre Qualifikationsarbeiten bei Canguilhem geschrieben. Sie sind gewissermaßen in die Schule der Epistemologie gegangen und haben sich intensiv mit den Naturwissenschaften und ihren Grundlagen beschäftigt. Das war nicht selten mit der Vorstellung verbunden, dass die Philosophie ihre Themen und Fragen nur aus der Beschäftigung mit den Rationalitäten und Logiken der zeitgenössischen Wissenschaften hervorholt. Diese Orientierung bedeutete nicht, dass es keine philosophische Kritik an den Naturwissenschaften gab. Aber man kann nicht so ohne weiteres von einer Wissenschaftsfeindlichkeit der französischen Theorie sprechen. Wichtig ist, dass solch eine historische Kontextualisierung einem großen Teil der verzerrten Meinungen, die postmoderne Philosophie sei ein Vorläufer des Postfaktischen, den Wind aus den Segeln nimmt.

Können Sie ein Beispiel für die Nähe zu den Naturwissenschaften nennen?

Wir würden uns wundern, wie wissenschaftsaffin und fortschrittsgläubig Foucault noch 1970 war, als es um die Entdeckung des genetischen Codes und die Relevanz von molekularbiologischem Wissen ging. Er hat Laborerkenntnissen nicht ihre Geltung abgesprochen, weil sie unter anderem auch das Produkt von Diskursen und Praktiken sind.

Was ist der zweite Grund dafür, das Argument aus ideengeschichtlicher Perspektive zurückzuweisen, dass die French Theory schuld an der Auflösung von Wahrheit und Wissen sei?

Roland Barthes hat schon 1958, als die Vierte Republik mitten im Algerienkrieg zerbrach, auf die Frage, was angesichts der unterschiedlichen Wahrheitspolitiken und Faschisierungstendenzen getan werden könnte, geantwortet, dass es ein Amt für mythologische Information bräuchte. Barthes schlug also eine Behörde vor, die die politischen sowie öffentlichen Inhalte und Äußerungen auf ihren mythischen Gehalt hin überprüft. Diese Entmythologisierung der ideologischen Elemente folgte einem aufklärerischen Prinzip. Das Beispiel ist geeignet, um zu zeigen, dass viele Protagonisten der französischen Theorie nicht als Irrationalisten oder Relativisten, sondern vielmehr als Aufklärer und Zeichenstürmer zu verstehen sind – ein Aspekt, der angesichts der noch immer kursierenden Vorurteile gegenüber dem französischen Denken betont werden sollte.

Die French Theory wurde breit rezipiert. Spivak und Butler haben an Foucault und Derrida angeschlossen und damit unbestritten neue Problemhorizonte erschlossen und zur Entstehung von Wissenschaftsfeldern wie den Postcolonial Studies und den Gender Studies beigetragen. Wie stehen Sie zu dieser Rezeption?

Als Historiker würde ich sagen, dass die Geschichte der Weiterentwicklung und der Rezeption der FrenchTheory in den Gender und Postcolonial Studies noch geschrieben werden muss. Sie ist verwickelter und komplizierter als man denkt. Der Beitrag der Ideengeschichte muss darin bestehen, diese Rezeptionslinien und Aneignungsprozesse mit der nötigen Distanz historisch genauer zu beleuchten. Butler und Spivak haben ganz andere Erfahrungsräume und Problemstellungen als Foucault und Derrida. Ich sehe also einen Unterschied zwischen 1968 und 1990, einen Unterschied zwischen den Theorieströmungen, den Kontexten und den Problemhorizonten dieser jeweiligen Fächer. Das wird heutzutage meistens alles in einen Topf geworfen, vermischt und politisiert. Dagegen hilft nur unerbittliche Historisierung. In dieser transatlantischen Theoriegeschichte zwischen Europa und Nordamerika wird dann zum Beispiel deutlich, dass so etwas wie Theorie-Rezeption nicht wirklich linear verläuft, sondern eher Transformation und Kritik bedeutet.

Woran arbeiten Sie gegenwärtig, Herr Erdur?

Genauso wie ich mich habe überraschen lassen vom ungläubigen Staunen, das mir beim Erstellen des Personenregisters meiner Doktorarbeit widerfuhr, warte ich auf ein zukünftiges akademischesE rweckungserlebnis (lacht).

Haben Sie vielen Dank für das Interview, Herr Erdur.

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